Oberschlesiens Wirklichkeit. Der Autor Szczepan Twardoch

PDF der Druckfassung aus Sezession 109/ August 2022

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

Ober­schle­si­en war, ist und bleibt ein his­to­risch umkämpf­ter Raum, in dem sich deutsch-schle­si­sche, pol­nisch-schle­si­sche und »schlon­sa­ki­sche« (gewis­ser­ma­ßen: schle­sisch-schle­si­sche) Ele­men­te mal berüh­ren, mal mit­ein­an­der ver­schmel­zen, häu­fig aber auch abstoßen.

Im Gegen­satz zu dem von deut­schen Ein­woh­nern nach dem Zwei­ten Welt­krieg fast gänz­lich bru­tal berei­nig­ten Nie­der­schle­si­en leben zwi­schen Oppeln und Beu­then, Rati­bor und Kreuz­burg noch heu­te über 100 000 Deutsch­spra­chi­ge. Ihr Kampf um natio­nal­kul­tu­rel­le Selbst­be­haup­tung, der nicht chau­vi­nis­tisch ist und kei­ner­lei Bruch mit War­schau for­dert, fin­det in der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land kaum Gehör.

Gewiß: Ab und an las­sen sich Poli­ti­ker von CDU und CSU auf Tref­fen der deut­schen Min­der­heit in Polen bli­cken und beto­nen deren wich­ti­ge inter-natio­na­le Brü­cken­bau­er­funk­ti­on; ab und an ver­sen­det ein AfD-Mann Pres­se­mit­tei­lun­gen zur kul­tur­po­li­ti­schen Lage der ver­blie­be­nen Deut­schen in Ober­schle­si­en; ab und an wer­den Doku­men­ta­tio­nen aus­ge­strahlt, die an ober­schle­si­sche Beson­der­hei­ten erinnern.

Aber kein pro­mi­nen­ter Poli­ti­ker wag­te sich 2022 fun­diert dazu zu äußern, als die pol­ni­sche Rechts­re­gie­rung den garan­tier­ten Deutsch­un­ter­richt qua­si hal­bier­te, und in der bun­des­deut­schen Kul­tur­sze­ne, zumal in der Lite­ra­tur, fin­det eine »muti­ge« Aus­ein­an­der­set­zung mit dem streit­ba­ren ober­schle­si­schen Sujet, das ein so tages­ak­tu­el­les wie dra­ma­tisch-reiz­vol­les bleibt, ohne­hin nicht statt.

Obwohl Ober­schle­si­en der BRD nicht nur geo­gra­phisch so nahe ist, scheut man folg­lich die­se his­to­risch eher »ver­min­te« The­ma­tik. Fer­ne natio­na­le Min­der­hei­ten in Chi­na, Syri­en oder Myan­mar erhal­ten mehr Auf­merk­sam­keit. Da kommt es der ober­schle­si­schen »Sache« zupas­se, daß mit dem pol­ni­schen Autor Szc­ze­pan Twar­doch »der bekann­tes­te zeit­ge­nös­si­sche Schrift­stel­ler sei­nes Lan­des« (1) die fort­wäh­ren­de lite­ra­ri­sche Ver­ar­bei­tung ober­schle­si­scher Geschich­te zu einer sei­ner wich­tigs­ten Werk­auf­ga­ben gemacht hat.

Twar­doch, der als 1979 Gebo­re­ner zu den jün­ge­ren Gran­den der pol­ni­schen Lite­ra­tur zählt, eckt damit an. Vor allem tut er dies in sei­nem Hei­mat­land, wo immer noch anti­deut­sche Res­sen­ti­ments (je nach aktu­el­ler Stim­mungs- und Poli­tik­la­ge) den »Schle­si­en­dis­kurs« erschwe­ren. ­Twar­doch ficht das nicht an. In einem aus­führ­li­chen Inter­view mit der Ber­li­ner Zei­tung bezieht er dazu Stel­lung: »Die pol­ni­schen Vor­ur­tei­le sind mir scheiß­egal. Pol­ni­sche Vor­ur­tei­le sind ein Pro­blem der Polen, nicht mei­nes. […] Ich bin Schrift­stel­ler und inter­es­sie­re mich für mein lite­ra­ri­sches Werk. Und nicht, ob eini­ge Polen oder die Schle­si­er mich noch mehr oder weni­ger ableh­nen. Was küm­mert mich das?« (2)

Obschon Twar­doch als fein­sin­ni­ger und wort­ge­wal­ti­ger Lite­rat reüs­siert und ent­spre­chend Preis um Preis ver­lie­hen bekommt, neigt er zu ent­spre­chend pro­vo­ka­ti­ven Ges­ten; hin­zu kom­men die bis­wei­len dras­tisch-der­ben Dia­lo­ge in sei­nen Roma­nen. Der Bekennt­nis- und Abstam­mungs-Schle­si­er (gebo­ren in Knu­row, wohn­haft in Pilch­o­witz bei Glei­witz) errich­tet sei­ner Haj­mat aber vor allem Denk­mal um Denk­mal; einer Hei­mat, die, so ­Twar­doch in sei­nen per­sön­li­chen Betrach­tun­gen Wale und ­Nacht­fal­ter, »auf ganz unter­schied­li­che Art« schön sei, so »im roten Zie­gel­bau des deut­schen Expres­sio­nis­mus von Hin­den­burg, im rohen Putz des pol­ni­schen Moder­nis­mus von Kat­to­witz«. (3)

Twar­doch erfaßt die his­to­ri­sche Zer­ris­sen­heit eben­so wie die ober­schle­si­sche Son­der­si­tua­ti­on als ehe­ma­li­ge Industrie­herzkammer Ost­mit­tel­eu­ro­pas: »Erha­ben ist die Land­schaft der demo­bi­li­sier­ten tota­len Mobil­ma­chung, die Land­schaft abge­stor­be­ner Fabri­ken, Hüt­ten und Berg­wer­ke wir­ken wie Ske­let­te uralter Levia­tha­ne, die Stahl­dräh­te in den Beton­schol­len wie die ewi­gen Rip­pen des Blau­wals, die den nörd­li­chen Göt­tern der Strän­de von Spitz­ber­gen dro­hen.« (4)

Das Auf­grei­fen der Wen­dung von der »tota­len Mobil­ma­chung« ist im übri­gen kein ter­mi­no­lo­gi­scher Zufall: Twar­doch bekennt in erwähn­tem Werk­ta­ge­buch, bereits aus O. S. nach Wilf­lin­gen gepil­gert zu sein, weil er jenen Geni­us loci auf­su­chen woll­te, an dem Ernst Jün­ger ein hal­bes Jahr­hun­dert lang wirk­te, denn die­ser sei immer­hin »ein Autor, des­sen Bücher für mich wich­tig sind«. (5)

Mit einem wei­te­ren Autor, den man bei einem »Pop-Lite­ra­ten« und zeit­ge­nös­si­schen Erfolgs­au­tor nicht zwin­gend als unmit­tel­ba­re Refe­renz erwar­ten wür­de, dem US-ame­ri­ka­ni­schen Wahl­ita­lie­ner Ezra Pound, lei­tet Twar­doch sei­nen Debüt­ro­man ein. (6) Mor­phin, wie er in der ­wört­li­chen Über­set­zung des pol­ni­schen Mor­fi­na (2012) heißt, erschien 2014 in Deutsch­land bei Rowohlt, (7) wo seit­her alle deutsch­spra­chi­gen Publi­ka­tio­nen Twar­dochs behei­ma­tet sind, die wie­der­um alle vom talen­tier­ten Über­set­zer Olaf Kühl über­tra­gen wurden.

Im preis­ge­krön­ten Werk geht es hart zur Sache – und wie immer bei Twar­doch spielt eine beson­de­re deutsch-pol­ni­sche Ver­qui­ckung die Schlüs­sel­rol­le. Im Fal­le Mor­phins nimmt die­se Leut­nant Kon­stan­ty Wil­le­mann ein. Der Sohn eines Deut­schen und einer Polin ist, ganz unhe­ro­isch, ein Lebe­mann und genießt War­schau in vol­len Zügen: Frau­en, Dro­gen, Rausch. Die deut­sche Besat­zung ab Ende 1939 durch­kreuzt die­ses unste­te Leben eines Dan­dys; er wird eher durch so iro­ni­sche wie pri­va­te Zufäl­le in den Wider­stand gegen die Besat­zungs­macht katapultiert.

Twar­doch zeich­net aber kein Por­trät einer hel­den­haf­ten natio­nal­pol­ni­schen Insur­rek­ti­on, son­dern läßt – wie in spä­te­ren Wer­ken – alles mit­ein­an­der ver­schmel­zen: die pol­ni­sche Halb­welt der Spe­lun­ken und der Dro­gen­sze­ne mit den Akti­vis­ten der Natio­nal­de­mo­kra­tie, radi­ka­le Natio­na­lis­ten mit dem unter­ge­hen­den Adel, diver­se sozia­lis­ti­sche Grup­pen mit dem Gangs­ter­mi­lieu – oft heißt es eher »Schlag­ring, Mes­ser, Brow­ning« (8) als Fami­lie, Volk und Vaterland.

Der Prot­ago­nist gerät gleich­wohl in den bizar­ren Stru­del aus Ver­schwö­rung und Agen­ten­tä­tig­keit; als deut­scher Mut­ter­sprach­ler wird er von pol­ni­schen Revo­lu­tio­nä­ren instru­men­ta­li­siert und für ­Kurier­diens­te ein­ge­spannt. Twar­doch, und das wäre der ein­zi­ge Ein­wand gegen sei­nen per­sön­li­chen Stil, trägt dick auf, manch­mal zu dick. Natür­lich muß Wil­le­manns pol­ni­sche Mut­ter ihren gro­tes­ken Auf­tritt als neu­deut­sche Kol­la­bo­ra­teu­rin der Besat­zungs­macht erhal­ten, sein deut­scher Vater als inner­lich labi­ler Sol­dat in Warschau.

Die »Tat­sa­che der Exis­tenz von Natio­na­li­tä­ten und sei­ne Zer­ris­sen­heit zwi­schen die­sen Natio­na­li­tä­ten« (9) wer­den für Kon­stan­ty Wil­le­mann zum bestim­men­den The­ma. Dabei ist es nicht so, daß die Dro­gen und der exal­tier­te Genuß aus der Vor­kriegs­zeit unter den Tisch fal­len wür­den; Kon­stan­ty bleibt einer Form des Res­the­do­nis­mus ver­haf­tet. Doch die Flucht in den Mor­phin- und Alko­hol-Rausch (und in diver­se Affä­ren) ist kei­ne Flucht vor der Bru­ta­li­tät der Geschich­te; die­se treibt ihn schier in den Wahnsinn.

Twar­doch ver­zich­tet bei der Ver­ar­bei­tung der deutsch-polnischen(-jüdischen) Geschich­te des aus­ge­hen­den Jah­res 1939 voll­stän­dig auf Par­tei­lich­keit. Eigent­lich kommt kei­ne Sei­te gut weg. Ob deut­scher, pol­ni­scher oder auch eng­li­scher Chau­vi­nis­mus im Natio­nal­cha­rak­ter – Twar­doch seziert die völ­ker­psy­cho­lo­gi­schen Ticks der Kriegs­ak­teu­re so klug wie scho­nungs­los. Am Ende des iden­ti­täts­po­li­ti­schen Fias­kos, in dem der Prot­ago­nist im Lau­fe der Hand­lung zuneh­mend ver­sinkt, steht die bit­te­re Erkennt­nis, daß die­ser sich weder als »gan­zer« Pole oder Deut­scher ver­ste­hen kann, son­dern vor allem als »Ver­schwen­der, Huren­bock und Mor­phi­nist«. (10) Anklän­ge an Aus­brü­che von Lou­is-Fer­di­nand Céli­ne sind dabei eben­so zu dia­gnos­ti­zie­ren wie Anflü­ge von expres­sio­nis­ti­schem Wahn­sinn – der Plot Twar­dochs mün­det in ein ein­zig­ar­ti­ges Fina­le aus Kitsch und Krieg.

Zumin­dest auf den Kitsch ver­zich­tet Twar­doch in sei­nem 2014 in Polen und 2016 in Deutsch­land publi­zier­ten Roman Drach. (11) Auf den Krieg hin­ge­gen kann der Autor nicht ver­zich­ten, beschreibt er doch die konflikt­reiche ober­schle­si­sche Iden­ti­täts­ge­schich­te anhand von vier Gene­ra­tio­nen einer deutsch-pol­nisch-schle­si­schen Fami­lie. Der Leser wird mehr gefor­dert als beim Thril­ler- und Action-ähn­li­chen Mor­phin; denn Drach ist ein monu­men­ta­ler Geschichts­ro­man mit chro­no­lo­gi­schen Sprün­gen und einer viel­schich­ti­gen Handlung.

Hin­zu kommt der Ver­such Twar­dochs, dem Leser das »Was­ser­pol­ni­sche« oder »Schlon­sa­ki­sche« näher­zu­brin­gen; ent­spre­chen­de Dia­lo­ge rufen die­ses eigen­stän­di­ge Idi­om wort­reich in Erin­ne­rung. Das, was Twar­doch in sei­nem Tage­buch notier­te – näm­lich daß für vie­le Ober­schle­si­er wäh­rend der mal deut­schen, mal pol­ni­schen Regie­rungs­pha­se »eine kul­tu­rel­le Fremd­heit an die Stel­le der ande­ren« (12) trat –, ist das Leit­mo­tiv des Romans. Pol­nisch­spra­chi­ge Deut­sche, die für Kai­ser und Reich ins Feld zie­hen; deutsch­spra­chi­ge Schle­si­er, die 1921 für die »auf­stän­di­sche« (also: pol­ni­sche) Opti­on votie­ren; schlon­sa­ki­sche Berg­ar­bei­ter, die sich nicht ent­schei­den wol­len zwi­schen deut­schen Her­ren und pol­ni­schen Pans, weil ihr Leben so oder so den Zwän­gen des Schicht­systems unter Tage unter­wor­fen ist; natio­nal­kul­tu­rell gespal­te­ne Fami­li­en, in denen Deutsch, Pol­nisch und Schlon­sa­kisch eben­so vari­ie­ren wie das iden­ti­tä­re Bekennt­nis oder Nicht­be­kennt­nis der Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen; schließ­lich das blu­ti­ge Fina­le im Janu­ar 1945, als der Furor der Sowjet­ar­mee über ­Glei­witz und O. S. her­ein­bricht und vie­le bis­he­ri­gen Wider­sprü­che im Ver­nich­tungs­kampf ihren Sinn ver­lie­ren: Twar­dochs Werk ist epo­chal, ist der wohl wich­tigs­te und bes­te Ober­schle­si­en­ro­man seit 1945.

2016 folg­te dann in Polen Twar­dochs Unter­welt­buch Król, das zwei Jah­re spä­ter auch auf deutsch als Der Boxer erschien. (13) Es erin­nert stär­ker an Mor­phin als an Drach, denn erneut ist der Schau­platz War­schau, dies­mal aller­dings im Jah­re 1937. Haupt­fi­gur ist der jüdi­sche Star­bo­xer Jakub Sha­pi­ro, der eine rasan­te Kar­rie­re in der kri­mi­nel­len Sze­ne­rie hin­legt, so daß er zum König – daher der Ori­gi­nal­ti­tel Król – die­ser Par­al­lel­ge­sell­schaft wird. Auch in die­sem her­aus­for­dern­den Roman, in dem die hem­mungs­lo­se Gewalt nur vom nicht min­der hem­mungs­lo­sen Dro­gen­kon­sum über­frach­tet wird, ver­zich­tet Twar­doch nicht auf his­to­risch-poli­ti­sche Bezü­ge: Die pol­ni­schen Natio­nal­ra­di­ka­len der »Falan­ga« tref­fen auf jüdi­sche und pol­ni­sche Sozia­lis­ten aller Cou­leur, Demons­tra­tio­nen und Bor­dell­be­su­che sor­gen für Auf­re­gung und oft­mals Krawall.

Die geis­ti­ge Tie­fe, die bei Drach her­vor­zu­he­ben ist, fehlt dem Boxer hin­ge­gen trotz diver­ser Bemü­hun­gen. Zuviel Derb­heit und Ter­ror scha­den pha­sen­wei­se der Hand­lung von Król, die ihre Fort­set­zung gleich­wohl im 2018 ver­öf­fent­lich­ten Kró­lest­wo (König­reich) fin­det, das in der deut­schen Fas­sung als Das schwar­ze König­reich fir­miert. (14) Prot­ago­nist ist wei­ter­hin Jakub ­Sha­pi­ro. Doch sein Glanz als Mafia­pa­te ist ver­bli­chen, als die Deut­schen War­schau ein­neh­men und die Besat­zungs­zeit beginnt, die schließ­lich im Ghet­to ihre eli­mi­na­to­ri­sche Form fin­den wird. Sha­pi­ros Geschich­te wird hier von sei­ner Dau­er­ge­lieb­ten und einem sei­ner Söh­ne im Wech­sel fortgeschrieben.

Bei aller Über­trei­bung und – wie­der­um – Bru­ta­li­tät: Das Buch ist ein Meis­ter­werk der Mis­an­thro­pie. Ob pol­ni­scher Anti­se­mi­tis­mus (wes­we­gen das Buch für pol­ni­sche Leser eine grö­ße­re Pro­vo­ka­ti­on sein dürf­te) oder Kol­la­bo­ra­ti­on im War­schau­er Ghet­to, deut­sche Ver­bre­chen und jüdi­sche Schmugg­ler – ­Twar­doch bringt alles zusam­men und ver­dich­tet es zu einem gewal­ti­gen und gewalt­sa­men Pan­ora­ma aus Blut und Denun­zia­ti­on. Har­te Kost, bei der der Autor Ein­zel­schick­sa­le anhand kol­lek­ti­ver Trau­ma­ta in die Vor­stel­lungs­welt sei­ner – auf­grund des rasan­ten wie erbar­mungs­lo­sen Plots: stark gefor­der­ten – Leser hievt.

Zurück von War­schau nach Ober­schle­si­en geht es erst im jüngst ver­öf­fent­lich­ten Roman Demut, der im pol­ni­schen Ori­gi­nal 2020 als Poko­ra erschien (nach dem Nach­na­men der Haupt­fi­gur). (15) Die his­to­ri­sche Kulis­se wird dies­mal durch den Ers­ten Welt­krieg und sei­ne Nach­we­hen bestimmt. Alo­is Poko­ra, ein Berg­manns­sohn aus dem Glei­wit­zer Hin­ter­land, erwacht als ver­wun­de­ter Sol­dat im revo­lu­tio­nä­ren Ber­lin des Herbs­tes 1918 in einem Kran­ken­haus. Er erin­nert sich an frü­her, an sei­ne Kind­heit in einer ärm­li­chen Groß­fa­mi­lie, an sei­nen Vater (als von den Her­ren der Gru­ben geprü­gel­ten Berg­mann: ein »unbe­wuß­ter Sozia­list« und »fins­te­rer Kon­ser­va­ti­ver« zugleich (16), an sei­ne ober­schle­si­sche Hei­mat, an die ers­te gro­ße Lie­be, an den Krieg. Der ist been­det und auch nicht.

In Ber­lin herr­schen nach dem unrühm­li­chen Abgang Kai­ser Wil­helms II. an vie­len Orten mate­ri­el­le Not und ideel­ler Bür­ger­krieg. Letz­te­rer schlägt bald in tat­säch­li­che Kampf­hand­lun­gen um. Poko­ra gerät in den Stru­del aus Links­ra­di­ka­lis­mus, Frei­korps und ideo­lo­gi­sier­ter Gewalt; rasen­der Zorn aller betei­lig­ten Akteu­re erscheint als zen­tra­ler Gegen­stand der Handlung.

Hin­zu kommt aber ein tra­gi­ko­mi­sches Ele­ment, das bei vor­her­ge­hen­den Twar­doch-Roma­nen fehlt: Alo­is Poko­ra ist kein Bru­ta­lo wie Jakub Shapi­ra (aus Der Boxer und Das schwar­ze König­reich), kein Dan­dy wie Kon­stan­ty Wil­le­mann (aus Mor­phin): Poko­ra ist ein unglück­li­cher Pech­vo­gel, den es über zum Teil absur­de Wege zurück ins Ober­schle­si­sche führt, wo ihn – erwart­bar – die Ver­gan­gen­heit ein­holt und alte Kon­flik­te neue For­men anneh­men. Modi­sche »Hap­py-Ends« sind indes Twar­dochs Sache nicht, und so fin­det Poko­ra heim­ge­kehrt weder Frie­den noch Lie­be, son­dern wie­der­um Bür­ger­krieg, dies­mal zwi­schen pol­nisch- und deutsch­spra­chi­gen Ober­schle­si­ern unter Auf­sicht der Fran­zo­sen und unter Betei­li­gung von Frei­korps auf der einen und pol­ni­schen Hard­li­nern auf der ande­ren Sei­te, wobei Twar­doch die Kon­flikt­li­nie ein­mal mehr mit­ten durch die deutsch-pol­nisch-schlon­sa­ki­sche Fami­lie des Prot­ago­nis­ten ver­lau­fen läßt.

In die­ser ent­schei­det sich jeder für sei­ne eige­ne Wahr­heit (oder für gar kei­ne), und ein­mal mehr stellt Twar­doch die ober­schle­si­sche Iden­ti­täts­pro­ble­ma­tik in den Mit­tel­punkt sei­nes Schrei­bens: O. S. war, ist und bleibt Objekt der Geschich­te, kein Sub­jekt (auch wenn das die gespal­te­ne Auto­no­mie­be­we­gung im heu­ti­gen Ober­schle­si­en wei­ter­hin ändern möch­te). Das Ende des Werks ist dabei so ver­rückt wie vor­her­seh­bar – und läßt ­Twar­doch aus­rei­chend Spiel­raum für eine Fortsetzung.

Wenn Szc­ze­pan Twar­doch über sich selbst schreibt, er sei als Autor und Per­sön­lich­keit »kein Bewoh­ner der Wirk­lich­keit«, (17) dann darf man dies bezwei­feln. Im Gegen­teil: Twar­doch ist ein hoch­ta­len­tier­ter Chro­nist der dama­li­gen wie heu­ti­gen Wirk­lich­keit, die in sei­ner his­to­risch umkämpf­ten Hei­mat­re­gi­on oft­mals der­ma­ßen wun­der­lich daher­kommt, daß sie schon wie­der wahr erscheint.

– – –

(1) – In: taz vom 17. / 18. Feb­ruar 2018.

(2) – Witold Mro­zek: »Inter­view mit Szc­ze­pan Twar­doch«, in: Ber­li­ner Zei­tung vom 10. April 2022.

(3) – Szc­ze­pan Twar­doch: Wale und Nacht­fal­ter: Tage­buch vom Leben und Rei­sen, Ber­lin 2019, S. 57.

(4) – Ebd.

(5) – Ebd., S. 127.

(6) – Bezie­hungs­wei­se mit­ei­nem Pound­schen Reim: »And the days are not full enough / And the nights are not full enough / And life slips by like a field mou­se / Not shaking the grass.«

(7) – Szc­ze­pan Twar­doch: Mor­phin. Roman, Ber­lin 2019.

(8) – Ebd., S. 140.

(9) – Twar­doch: Mor­phin, S. 271.

(10) – Ebd., S. 437.

(11) – Szc­ze­pan Twar­doch: Drach. Roman, Ber­lin 2020.

(12) – Twar­doch: Wale und Nacht­fal­ter, S. 157.

(13) – Szc­ze­pan Twar­doch: Der Boxer. Roman, Ber­lin 2020.

(14) – Szc­ze­pan Twar­doch: Das schwar­ze König­reich. Roman, Ber­lin 2022.

(15) – Szc­ze­pan Twar­doch: Demut. Roman, Ber­lin 2022.

(16) – Ebd., S. 63.

(17) – Twar­doch: Wale und Nacht­fal­ter, S. 246.

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

Nichts schreibt sich
von allein!

Das Blog der Zeitschrift Sezession ist die wichtigste rechtsintellektuelle Stimme im Netz. Es lebt vom Fleiß, von der Lesewut und von der Sprachkraft seiner Autoren. Wenn Sie diesen Federn Zeit und Ruhe verschaffen möchten, können Sie das mit einem Betrag Ihrer Wahl tun.

Sezession
DE58 8005 3762 1894 1405 98
NOLADE21HAL

Kommentare (0)