Er bereichert die Auseinandersetzung mit der scheinbar bürgerlichen Schicht in Deutschland durch einen anderen Blick auf das, was einmal das deutsche Bürgertum war.
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Man tut Thor v. Waldstein sicherlich nicht unrecht, wenn man seinen Text als eine nationalbolschewistische Stilübung auffaßt. Allerdings schrieb Ernst Niekisch über die Wirklichkeit, Thor v. Waldstein arbeitet sich dagegen an einem imaginären Objekt ab. Ein Bürgertum im eigentlichen Sinne existiert schon seit langem nicht mehr.
Man kann nicht beckmesserhaft verlangen, daß ein Begriff den von ihm bezeichneten Gegenstand adäquat und vollständig erfaßt; er sollte aber zumindest eine ungefähre Vorstellung von diesem Gegenstand vermitteln. Dies kann der Begriff des Bürgertums zur Kennzeichnung des in der BRD tonangebenden Persönlichkeitstypus nicht leisten, da es in der heutigen gesellschaftlichen Wirklichkeit keine ihm entsprechende soziale Formation mehr gibt.
Das zentrale Charakteristikum des klassischen Bürgers war die berufliche Selbständigkeit, also eine Erwerbstätigkeit, die eine persönliche Abhängigkeit ausschloß. Zum Bürgertum zählten daher Gewerbetreibende, die Angehörigen freier Berufe und Beamte.
Das Selbstbewußtsein des Bürgers gründete auf dem Bewußtsein, sich selbst die Grundlagen der eigenen Existenz zu verschaffen. Man war sein eigener Herr und wollte auch als solcher anerkannt werden. Dieses Streben nach Anerkennung motivierte das politische Engagement des Bürgertums. Man wollte sich nicht mit der Selbstbestimmung im Wirtschaftlichen bescheiden, sondern verlangte auch politische Selbstbestimmung durch parlamentarische Repräsentation und durch die Gewährung von Meinungsfreiheit und anderen Bürgerrechten.
Als politisch sich selbst bestimmenwollender Mensch verstand sich der Bürger zugleich auch als Staatsbürger, weshalb er die Sache der Nation zu seiner eigenen machte. Unter der Losung „Freiheit und Nation“ vollzog sich die Emanzipation des Bürgertums. Für diese Ziele war der Bürger auch zu Opfern bereit. Dies betraf nicht nur die Demokratiebewegung (Demagogenverfolgung nach 1816 und Unterdrückung der 1848er Revolution), sondern auch den Patriotismus.
Die stereotype Bürgerschelte vergißt gerne, daß es die Bürger waren, die sich 1813 und 1914 zu den Waffen meldeten. Der Aufstieg des Bürgertums in seiner klassischen Epoche zwischen 1750 und 1914 machte den Bürger zur leitbildgebenden Gestalt und daher auch die Gesellschaft zur bürgerlichen Gesellschaft.
Aber schon gegen Ende dieser Epoche betrat eine neue Gestalt die gesellschaftliche Bühne, die zunächst noch tastend mit Begriffen wie „Handlungsgehilfe“ oder „Bürobeamter“ umschrieben wurde, bis sich schließlich der Begriff des Angestellten durchsetzte. Der Angestellte mag zwar in seinem Habitus dem Bürger ähneln, er ist aber kein Bürger, weil er nicht selbständig ist, sondern Teil eines Funktionszusammenhangs.
Mit der Zunahme von Bürokratien und Großorganisationen, mit der allseitigen Interdependenz wirtschaftlicher und kommunikativer Prozesse und mit der Abhängigkeit von staatlicherseits bereitgestellter Infrastruktur kann die Vorstellung, die im Zentrum bürgerlichen Selbstverständnisses stand, Herr des eigenen Schicksals zu sein, nicht mehr aufrecht erhalten werden.
So wie die Mentalität des Bürgers das 19. Jahrhundert prägte und nach unten und oben hin ausstrahlte, so tut es die Mentalität des Angestellten heute. In diesem Sinne sind alle, ob Werbegraphiker oder Vorstandsvorsitzender, ob Kindergärtnerin oder Chefärztin Angestellte.
Auch der Beamte empfindet sich nicht mehr als Repräsentant des Staates, sondern als Angestellter einer Behörde. Wer sich selbst als Teil des Systems und als abhängig vom Funktionieren des Systems weiß, handelt auch systemkonform. Da man nicht mehr, wie der klassische Bürger, den Maßstab des Handelns in sich selbst findet, orientiert man sich an dem, von dem man annimmt, daß es die soziale Umwelt von einem erwartet.
Dieser Wandel vom selbstbewußten, kraft individueller Souveränität handelnden Bürgers zum „außengeleiteten“ (David Riesman), angepaßten „Systemling“ ist eine objektive, historisch-soziale Tatsache und nicht Folge eines selbstverschuldeten moralischen Defizits individueller Akteure.
Dieser historisch bedingte Niedergang des Bürgertums ist auch von Waldstein – dies sei nicht verschwiegen – bemerkt worden:
Tatsächlich ist das Honoratiorenbürgertum als geschichtlicher Träger konservativen Gedankenguts bereits in den Bürgerkriegswirren nach dem Ersten Weltkrieg … untergegangen. Letzte verbliebene Spurenelemente dieses soziologischen Typus verschwanden spätestens mit der Ära Adenauer…
Sieht man einmal davon ab, was hier aber nichts zur Sache tut, daß das Honoratiorenbürgertum nicht „Träger konservativen Gedankenguts“, sondern Träger liberalen Gedankengutes war, so muß einen erstaunen, daß das eben totgesagte Bürgertum im unmittelbar folgenden Satz völlig unmotiviert wiederbelebt wird:
Seit der marxistisch befeuerten Kulturrevolution ab Mitte der 1960er Jahre … hat sich das deutsche Bürgertum ohne Skrupel dem Zeitgeist unterworfen.
Dieser Widerspruch läßt sich nur auflösen, wenn man einen Unterschied zwischen dem früheren Honoratiorenbürgertum und dem heutigen Bürgertum macht, was aber nur statthaft ist, wenn man angibt, worin dieser Unterschied besteht.
Dies führt zu der Frage, was Waldstein überhaupt unter Bürgertum versteht. Entweder meint er damit alle Deutschen, ist aber zu höflich, um dies so unverblümt auszusprechen, oder er meint ganz einfach die Mittelschicht. Diese ist aber – ich muß es nochmals betonen – nicht mit dem Bürgertum im eigentlichen Sinne identisch. Sie hat zwar gewisse Elemente von dessen Lebensweise, eine auskömmliche soziale Lage, eine gewisse Kultiviertheit, einige Umgangsformen usw. bewahrt, nicht aber dessen materielle Basis substantieller Selbständigkeit noch den darauf gründenden Ethos.
Um einer sozialen Gruppe ein bestimmtes, typisches politisches Handeln zuzuschreiben, muß diese soziale Gruppe auch als politischer Akteur hervortreten. Sie muß sich ihrer selbst als eine auf einer substantiellen sozialen Gemeinsamkeit beruhenden Einheit bewußt sein und aufgrund dieses Einheitsbewußtseins politische Ziele formulieren und sich gegenüber anderen, als Feind markierten sozialen Gruppen abgrenzen. Dies hat das Bürgertum im 18. Jahrhundert als Stand innerhalb der feudalen Standesgesellschaft gegenüber dem Adel und im 19. Jahrhundert als Klasse in der kapitalistischen Klassengesellschaft gegenüber dem Proletariat getan.
Ein Stand ist eine Gemeinschaft, eine Klasse eine Gesellschaft, eine Schicht nur ein amorphes Gemenge. Mittelschicht ist kein aufgrund seiner sozialen Lage handelnder politischer Akteur, sondern eine grobe soziologische Kategorie, die allein durch Einkommensgrenzen festgelegt wird.
Zur Mittelschicht gehören, von zeitgenössischer Soziologie eingehend analysiert, mehrere, höchst unterschiedliche soziale Milieus, von denen in der Tat einige mehrheitlich der herrschenden Ideologie anhängen. Aber diese treten politisch nicht in Erscheinung durch eine Bezugnahme auf ihre soziale Lage, was auch bedeuten würde, daß sie ihren Feind anhand dessen sozialer Lage bestimmen.
Ihr Feind ist die „Rechte“, die soziologisch genauso diffus ist wie die Linke. Die verschiedenen mittelschichtigen, mehrheitlich linken Milieus eint nicht der soziale Status, kaum eine vorpolitische, lebensweltliche Mentalität, sondern die Weltanschauung. Die Sozialisation in diese Weltanschauung ist der springende Punkt und nicht die Einkommenshöhe.
Der Begriff des Bürgertums hat einen präzisen, auf eine in einer bestimmten historischen Lage entstandene soziale Formation zugeschnittenen Sinn, der sinnlos wird, wenn man ihn auf eine ganz andersgeartete soziale Formation einer anderen Epoche überträgt.
Die Misere des deutschen Volkes ist real. Sie mit einer imaginären soziologischen Kategorie beschreiben zu wollen, bringt keinen Erkenntnisgewinn. Hat man irgendetwas an dem beklagenswerten Verhalten der Deutschen, das der eigenen Auslöschung tatenlos zusieht, besser verstanden, wenn man es mit dem Attribut „bürgerlich“ versieht?
Der Kritik des Autors an den in der BRD grassierenden abstrusen und schädlichen Verhaltensweisen kann vorbehaltlos zugestimmt werden – nur was soll an diesen bürgerlich sein? Der Bürger war nicht antinational, sondern patriotisch, was er in seiner freiwilligen Kriegsteilnahme bewies, er war nicht konsumistisch, sondern sparsam, weil er dies sein mußte, er war nicht hedonistisch, sondern folgte einem rigiden Moralkodex, mit dem er sich ganz bewußt von der adligen Frivolität abhob.
Die Polemik Waldsteins speist sich aus der Tradition romantischer Philisterkritik und der Bürgerschelte des soldatischen Nationalismus. Diese Kritik war schon damals unangemessen, weil die im Alltag heimische Lebenswelt des Bürgers nicht an der Elle der außeralltäglichen Existenz der Künstler und Frontkämpfer gemessen werden kann. Erst recht geht sie an der Lebenswelt der Gegenwart vorbei. Die heutige Linke ist ebenso wenig marxistisch, wie der heutige Durchschnittstypus Bürger genannt zu werden verdient.
Am meisten ähnelt der Beitrag Waldsteins dem Massendiskurs vom Beginn des 20. Jahrhunderts. Doch es besteht ein ganz fundamentaler Unterschied, da der Massendiskurs entweder die spezifischen Verhaltensweisen beschreibt, die sich ergeben, wenn sich Menschen, gleich welcher sozialen Herkunft, zu einer Masse zusammenschließen, oder aus den Lebensbedingungen der Moderne eine bestimmte, für alle geltende Persönlichkeitsprägung ableitet.
In diesem Sinne schreibt Hendrik de Man in Vermassung und Kulturverfall (Bern 1951, S. 44):
Ein jeder von uns ist in dem Grade Massenmensch, wie sein soziales Verhalten auf irgendeinem Sondergebiet durch Massenwirkungen bestimmt wird. Auch der Wissenschaftler, der in seinem eigenen Fach originell und schöpferisch denkt, ist Objekt der Vermassung, wenn er als Käufer eines Markenartikels bewußt oder unbewußt der suggestiven Wirkung einer Massenreklame erliegt, oder wenn er am Radio die gleiche Darstellung des Weltgeschehens zu hören bekommt wie Millionen anderer Menschen…
Die soziale Formation, die Waldstein beschreibt, ist nicht die des Bürgers, sondern die des Massenmenschen. Der Massenmensch gehört keiner spezifischen sozialen Klasse an, sondern dessen Befindlichkeit ist die Art und Weise des gewöhnlichen In-der-Gesellschaft-Seins.
Mit dem Festhalten an antiquierten politischen Begriffen läßt sich die Wirklichkeit nicht erkennen. Wie der hervorragende Aufsatz von Daniel Fiß über die Wähler rechter Parteien in Sezession 112 gezeigt hat, läßt sich eine politische Positionierung nicht mehr eindeutig einem sozialen Substrat zuordnen. Eine klassisch materialistische Vorgehensweise, die aus einer Klassenlage eine Weltanschauung ableitet, hat ausgedient, weil die Klassenlage keine unmittelbar determinierende Kraft mehr hat.
Es gibt sehr wohl einen einheitlichen politischen Typus, der aber nicht mehr einem einheitlichen sozialen Typus korrespondiert. Die rot-grüne Standardideologie des humanitaristischen Universalismus wird gleichermaßen vom Universitätsrektor wie vom ASTA-Studenten, vom Programmdirektor wie vom Kameramann vertreten. Diese völlig unterschiedlichen sozialen Lagen lassen sich nicht auf einen gemeinsamen soziologischen Begriff bringen und erst nicht auf den völlig unangemessenen des Bürgers.
Dies heißt nicht, daß man sich von einer dem Verständnis politischer Einstellungen dienenden soziologischen Analyse verabschieden müßte. Aber die gesellschaftliche Differenzierung, die die aus einkommensbestimmter sozialer Lage, Habitus und Lebensweise, Weltanschauung und politische Positionierung bestehende Einheit der Formation Bürgertum in voneinander unabhängige Fragmente zersplittert hat, erfordert auch einen differenzierten Blick.
Daher ein Wink zum Abschluß: Je ideologischer ein Berufsfeld ist, d.h. je politik- und staatsnäher es einerseits ist und je mehr es mit Kommunikation zu tun hat, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß die dort Beschäftigten eine linke Ideologie vertreten, weil diese Felder durch Kooptation sich selbst und ihre Ideologie reproduzieren.
Das in diesen Berufsfeldern übliche Einkommensniveau und das dort erwartbare Mindestmaß an Manieren und Allgemeinbildung ermöglichen eine Art der Lebensführung, die von Ferne der der Bürgerlichkeit gleicht. Mit dem klassischen Bürger verbindet den Persönlichkeitstyp der linken Mittelschichtmilieus nur das Bestreben, durch Verhaltensweisen und distinguierende Konsumgüter sich von der Unterschicht abzugrenzen.
Diese strukturelle Ähnlichkeit in diesem einen Punkt rechtfertigt nicht den Gebrauch des Bürger-Begriffs. Viel treffender ist dieser Persönlichkeitstypus mit dem Begriff des Anywheres oder, um auf den eingangs erwähnten Ernst Niekisch zurückzukommen, mit dem des Clerk gekennzeichnet.
Laurenz
@WK ..... So gut sich Ihr Artikel, zugegeben, liest, erweist sich Ihre historische Herleitung als genauso löchrig, wie die TvWs. Einen Teil der Bürgerschaft deutscher Städte bildeten die Handwerker in ihren mächtigen Gilden, die über die heutige Gewerkschaft hinaus, die Sozialzunft abbildeten, was zur Folge hatte, daß zB das käuflich erwerbbare Bier unter aller Sau schmeckte, quasi ein elitärer Sozialismus nach Art der Nachkriegs-FDP bis zur Wende. Das Leistungsprinzip wurde erst von Bonaparte & seinen Gewerbescheinen eingeführt. Sie streifen zwar den Massenmenschen, ohne aber den Grund für seine Existenz zu nennen, die Industrielle Revolution, deren Deutsche Erfindungen heute noch den Planeten am Leben erhalten, zB der Kunstdünger. Das hatte natürlich die Akkumulation des Kapitals & der Produktionsmittel zur Folge, was Massen an Kaufmannsgehilfen & Prokuristen erforderte, die das von Ihnen & TvW umstrittene Bürgertum darstellten. Die von Ihnen beschriebene Konsequenz...die Wahrscheinlichkeit, daß die dort Beschäftigten eine linke Ideologie vertreten....führt unweigerlich in den sozialistischen Ruin in einer Art Neo-Feudalismus, der das Leistungsprinzip wieder verneint & Minderheiten privilegiert.