Die Alternative für Spanien, VOX, büßte hingegen fast drei Prozentpunkte ein und landet nur noch bei 12,4 Prozent. Die modern und dynamisch auftretende Rechtspartei versuchte, sich als Mehrheitsbeschaffer für PP und gegen die »Sozialisten« der vereinigten Linken zu inszenieren. Das half vor allem der PP, nicht der VOX. Interne Strategiedebatten sind zu erwarten.
Der Erfolg der PP reicht gleichwohl nicht aus, mit der VOX gemeinsam Spanien zu regieren; es fehlen sieben Sitze zur absoluten Mehrheit. Das Zünglein an der Waage werden – einmal mehr – Regionalparteien darstellen. Ausführliche Zahlen und Rechenspiele gibt es hier.
Für uns soll es im Anschluß indes nicht um derlei Koalitionspoker in Madrid gehen. Auch die Frage, wieso VOX derart offensiv damit warb, mit der PP gemeinsam regieren zu wollen, was ihren Status von einer selbstbewußten, wachsenden und aufstrebenden Oppositionspartei hin zu einer moderaten Mehrheitsbeschafferpartei abänderte, ist – heute – nicht das Thema.
An dieser Stelle geht es vielmehr um tiefer liegende Konflikte in der spanischen Gesellschaft, konkret um die ewige Konfliktlinie »rechts« vs. »links«.
»Ewig« – denn wieder schreibt man landauf, landab von den »zwei Spanien«, dem linken Lager (Sozialisten + Sozialdemokraten + linke Regionalparteien + Separatisten) und dem rechten Lager (Liberalkonservative + Konservative + rechte Regionalparteien + Reste des Falangismus). Beide Lager haben fast die Hälfte der Sitze im spanischen Parlament für sich beanspruchen dürfen. Die Spaltung von einst ist weiterhin real.
Ein Beispiel für derartige tiefer liegende Konflikte ist der erinnerungspolitisch bis heute hart umkämpfte Gedenkort des »Valle de los Caídos«. Das Tal der Gefallenen stellt weiterhin für unterschiedliche Rechte Spaniens – allen voran Monarchisten und Neofalangisten – eine Art Sehnsuchts- und Besinnungsort dar.
Diese Gedenkstätte in der Sierra de Guadarrama, wo Köpfe des Falangismus und Franquismus begraben lagen bzw. zum Teil noch liegen, befindet sich nordwestlich der Hauptstadt Madrid.
Kürzlich gedachten dort junge und alte Falangisten des 120. Geburtstags ihres Inspirators: José Antonio Primo de Rivera (1903–1936). Er war Sohn des Generals Miguel Primo de Rivera (1870–1939), der während der autoritären Restaurationsära von 1923 bis 1930 regierte.
Anders als sein Vater entwickelte der junge José Antonio Primo de Rivera umstürzlerische Ideen: Er strebte nach einer Synthese aus Nationalismus und Sozialismus sowie Konservatismus und Revolution und stand dem Großgrundbesitz und materiellen Privilegien der katholischen Kirche kritisch gegenüber. Mit diesem Einstellungsbündel wurde er Anfang der 1930er Jahre charismatischer Kopf der Ur-Falange.
Diese dynamische sozial- und nationalrevolutionäre Kadertruppe darf man nicht mit der später zu Regierungswürden gelangenden nationalkatholisch-restaurativen Falange verwechseln, wie sie – nach der Zwangsfusion mit den Carlisten – unter Francisco Franco (1892–1975) zur staatstragenden Partei wurde.
Aber nicht nur am Geburtstag José Antonios, wie er von Freund und Feind meist genannt wurde, war das Grabmal geschmückt: Täglich sollen Anhänger frische Blumen gebracht haben. Damit ist seit Ende April 2023 Schluß. Die sterblichen Überreste des im November 1936 ermordeten Revolutionärs wurden entfernt. Via Hubschrauber brachte man sie auf einen Friedhof in der Hauptstadt.
Das geschah auf Veranlassung der Nachkommen: Sie organisierten den Transfer ins Familiengrab auf den San-Isidro-Friedhof im Südwesten Madrids, damit keine »Grabschändung« wie bei Francisco Franco möglich würde. Die sterblichen Überreste des einstigen Caudillos wurden nämlich bereits im Herbst 2019 aus dem »Tal der Gefallenen« entfernt.
Damals geschah dies auf Anordnung der regierenden Sozialdemokratie: Der »Krieg der Erinnerungen« (vgl. Arnaud Imatz in der 29. Sezession) wird auch auf den Friedhöfen geführt.
Wie dachte nun der Mann, der bis heute die spanischen Gemüter reizt? Das ist für deutschsprachige Leser schwierig zu eruieren. Literatur zur Ur-Falange und ihrer Führungsfigur sind Mangelware. Wer einen Einblick gewinnen möchte, kann aber immerhin auf die kaum beachtete Dissertation von Frank Peter Geinitz zurückgreifen: Die Falange Española und ihr Gründer José Antonio Primo de Rivera ist online abrufbar.
Antiquarisch zu beziehen ist überdies eine kritisch kommentierte Auswahl von José Antonios wichtigsten Reden und Aufsätzen: José Antonio Primo de Rivera – der Troubadour der spanischen Falange erschien in der Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (Stuttgart 1965).
Hier werden José Antonios Weltanschauung und Organisationsversuche unverkennbar. Über nationalsyndikalistische Angriffsgruppen als Vorstufe der Falange berichtet der Herausgeber Bernd Nellessen ebenso wie über die Gründung der eigentlichen Falange im Oktober 1933.
Beide Seiten – Angriffsgruppen und Falange – verschmolzen im März 1934 zur Falange Española de las Juntas de Ofensiva Nacional Sindicalista (dt. Spanische Falange der nationalsyndikalistischen Angriffsgruppen).
José Antonio selbst wurde bereits im Herbst des Jahres zum unabsetzbaren Anführer der Truppe gewählt, die sich fortan in blauen Hemden uniformierte und das noch heute von einigen Rechtsgruppen Spaniens verwendete Symbol inaugurierte, das José Antonio so beschrieb:
Da habt Ihr nun das Joch und die Pfeile: das Joch als Sinnbild der Arbeit und die Pfeile als Sinnbild der Macht.
José Antonio rief passend zu den Begriffen »Arbeit« und »Macht« drei damit verbundene Hauptprobleme des zeitgenössischen Spaniens aus: regionalen Separatismus, Parteienhader, Klassenteilung bzw. Klassenhaß (notabene: alle Themen sind bis heute virulent, mindestens für Wahlkämpfe, wie aktuell zu beobachten war).
Gegen den Separatismus stellte José Antonio die nationale Einheit bei Duldung regionaler Besonderheiten und anzustrebender Lockerung der Zentralverwaltung; gegen den Parteienhader die Einheit der gesamten Nation im Zeichen einer syndikalistischen Neustrukturierung von Wirtschaft und Gesellschaft; gegen den Klassenhaß die Einheit aller Schichten im Zeichen der volksgemeinschaftlichen Arbeitsteilung und des sozialen Ausgleichs.
Das brachte José Antonios Gruppierung in Konflikte mit links wie rechts. Neben gewalttätigen Scharmützeln mit Kommunisten und Anarchisten befehdeten die Blauhemden auch jene Kräfte, die sie als Reaktionäre ablehnten, desweiteren auch ideologische Kräfte, die – wie sie – aufgrund ihres Stils als »Faschisten« tituliert wurden.
José Antonio wollte hier keine Konkurrenz dulden und selbst dann nicht weichen, sollte seine Falange eine ungeliebte Minderheit bleiben. Im April 1935 rief er Gefolgsleuten zu:
Wir müssen von Ort zu Ort gehen und uns heiser schreien inmitten der Verleumdung, der üblen Nachrede, der Gleichgültigkeit und der Selbstsucht, der Feindschaft derer, die uns nicht verstehen und uns aus ihrem Unverständnis heraus hassen.
Im Juli 1936, die Falange war von der Volksfront durchaus verstanden und daher im März verboten worden, sinnierte José Antonio nicht nur über die Gefahren der vereinigten Linken. Auch ein rechter »Rollback« blieb ihm zuwider. An einen einflußreichen Kameraden schrieb er nachdenklich, er fürchte in Zukunft
die Herrschaft eines falschen, konservativen Faschismus ohne revolutionären Mut und junges Blut.
Es war grosso modo just das, was nach dem Sieg der Nationalspanier im Bürgerkrieg in den ersten Jahren nach 1939 aufgebaut wurde.
José Antonio antizipierte diese Entwicklung: Seit 14. März 1936 in Haft, warnte er seine Mitstreiter vor einer Allianz mit nationalkonservativen Kreisen, die angesichts der repressiven regierenden linken Volksfront aber von immer mehr Falangisten goutiert wurde.
Denn für weltanschauliche Klarheit war keine Zeit mehr: Am 17. Juli 1936 putschten Offiziere unter der Führung Francisco Francos gegen die linksrepublikanische Regierung; der latente Bürgerkrieg der gespaltenen Gesellschaft – der »zwei Spanien« – wurde zum bewaffneten Konflikt.
Die Ursprünge für die Auseinandersetzungen zwischen den (überwiegend) ländlichen, königstreuen, katholisch-konservativen und auch nationalrevolutionären Lagern auf der einen Seite und den unterschiedlichen linken Kräften der (überwiegend) urbanen Milieus auf der anderen Seite lagen zwar in der konkreten spanischen Historie und der sozialen Mißlage breiter Schichten begründet, aber im Verlauf des Krieges wurde Spanien zum Schauplatz ideologischer Reibungen und Kämpfe, die in ganz Europa allgegenwärtig waren.
Trotz einiger Ausnahmen – das Gros der baskischen Nationalisten war beispielsweise katholisch-konservativ ausgerichtet, kämpfte aber im antifaschistischen Block –, war der Konflikt in der weltweiten Wahrnehmung daher schon in der Entstehungsphase in einem Schwarz-Weiß-Muster gedeutet worden: als Kampf zwischen »links« und »rechts«, zwischen »Antifaschismus« und »Faschismus«.
So nahmen es auch viele spanische Nationalisten aller Gruppen wahr und sehnten sich nach einer geschlossenen Führung unter einem militärisch kompetenten General.
Im letzten Journalistengespräch vor seinem Tod äußerte sich der inhaftierte José Antonio im Oktober 1936 zur sukzessiv vollzogenen Richtungsänderung des gesamten nationalen Lagers im Zeichen einer restaurativ-monarchistischen Massen- und Einheitsbewegung, die sich gegen die linke Regierung erhob:
Ich weiß schon heute, daß ich mich mit der Falange zurückziehen werde, wenn diese Erhebung gelingt, und es sich dann herausstellt, daß sie nichts anderes als reaktionär ist. Dann werde ich innerhalb weniger Wochen in dieses oder in ein anderes Gefängnis zurückkehren.
José Antonio konnte diese Androhung nicht wahrmachen; nur wenige Tage später, am 20. November 1936, ließen ihn die Linken mit nur 33 Jahren im Gefängnis von Alicante erschießen.
Daß fast exakt 60 Jahre später der neurechte Vordenker Armin Mohler auf die Frage eines Journalisten »Sind Sie ein Faschist?« keck antwortete:
Ja, im Sinne von José Antonio Primo de Rivera,
sorgte zwar nicht für eine José Antonio-Renaissance, kann aber mit der versuchten konservativ-revolutionären Synthese José Antonios ebenso begründet werden wie mit Mohlers Freude ob einer elegant plazierten Provokation.
Zuletzt: Spielt diese erinnerungspolitische Schlacht in Spanien darüber hinaus auch parlamentspolitisch eine Rolle? Ja und nein.
Nein, weil weder die konservativen Liberalen der PP noch die rechten Konservativen der VOX mit dem José-Antonio-Sound liebäugeln. Wenn überhaupt, wird historisch mit der franquistischen Reaktion sympathisiert.
Ja, weil die falangistischen Kleinparteien rechts der VOX ebenso wie die außerparlamentarische Rechte Spaniens mit Argusaugen beobachten, was sich bei VOX vollzieht. Denn VOX hat das Wählerpotential für die Rechte jenseits der »Mitte-Rechts-PP« beeindruckend erweitert und vergrößert. Es ist naheliegend, daß sich Teile dieses Wählerreservoirs enttäuscht neue Vertreter suchen werden, wenn die Sehnsucht nach der Vermittung bei VOX zur unumstrittenen Generallinie würde (– was nach der jüngsten Wahlenttäuschung aber nicht zu hoffen ist).
Spanien bleibt daher sowohl erinnerungs- als auch parlamentspolitisch in Bewegung.
Laurenz
Der Spanische Bürgerkrieg war wohl ein echter, regional & ökonomisch nicht so separierter Bürgerkrieg, wie der Amerikanische. Das hinterläßt Spuren in der sogenannten Erbsünde eines jeden Spaniers. Das deutsche Eingreifen im Spanischen Bürgerkrieg mit der Legion Condor, war wohl der erste & gravierendste außenpolitische Fehler der Nationalsozialisten. Nur mit einer expliziten Neutralität hätte man den eigenen Krieg in 1939 vielleicht vermeiden können, wenn man Spanien Stalin überlassen hätte. Um allerdings den Fehler vorab zu erkennen, hätte man besserer Intelligenzdienste bedurft, die in Deutschland bis zum heutigen Tage vernachlässigt werden. Nur unsere gesellschaftlichen Flaschen, symbolisiert durch die charakterlosen Witzfiguren Haldenwang & Kahl, suchen dort Lohn & Brot. In der DDR war das historisch ausnahmsweise mal gewiß anders.
@BK ... schätzen Sie José Antonio Primo de Rivera als eine Art intellektuellen Ernst Röhm ein?