ERIK LEHNERT: Linke Kulturkritik hat einen anderen Ausgangspunkt als die rechte, da sie sich an der Emanzipation orientiert. Linke Kulturkritik will den Menschen von sozialen Bedingungen, der Herkunft, der Natur usw. befreien – dies alles gilt heute als legitim. Die rechte Kulturkritik, die sich nach 1945 das Schlagwort „Kulturpessimismus“ gefallen lassen mußte, geht dagegen davon aus, daß die Zerstörung der natürlichen Bindungen den Menschen unfrei macht, da die wahre Freiheit eben keine „Freiheit wovon“, sondern „Freiheit wozu“ ist. Und diese „Freiheit wozu“ funktioniert nur dann, wenn man bestimmte Bindungen hat.
Davon abgesehen ist Kulturkritik für uns als Rechte ein Mittel zum Angriff auf die Vorherrschaft der falschen Politik der Linken. Dabei ist die rechte Kulturkritik natürlich immer schlagend, wenn wir den Zustand der heutigen Gesellschaften in den Blick nehmen. Aber in der Regel folgt nichts daraus, sondern es bleibt eine Spielwiese der politisch Einflußlosen, die diejenigen, die derweil Politik machen, völlig unbeeindruckt läßt. Insofern ist Kulturkritik wichtig, um den Zwiespalt zwischen dem, was eigentlich sein soll und dem, was ist, aufrecht zu erhalten. Der Vorwurf, der Kulturpessimismus sei für den Nationalsozialismus verantwortlich, dient dazu, die rechte Kulturkritik mundtot zu machen, weil sie einfach stört und nervt.
FOMITSCHOW: Armin Mohler versuchte, auf die Politik Einfluß zu nehmen, zunächst durch Franz Josef Strauß, dann durch die Unterstützung von Helmut Kohls geistig-moralischer Erneuerung der Nation. Haben Sie Kontakte zum heutigen politischen Establishment in Deutschland (außer der AfD) und darüber hinaus (Meloni, Orbán, Abascal usw.)?
LEHNERT: Ja, Mohler glaubte daran, daß Franz Josef Strauß ein deutscher Charles de Gaulle werden könnte, der die deutsche Nation wieder zu einem politischen Faktor machen könnte. Als allerdings Helmut Kohl an der Macht war, haben Mohler und seine Leute auf ihn keine Hoffnung gesetzt, sondern relativ bald die von CSU-Abtrünnigen gegründeten „Republikaner“ unterstützt. Mohler war in der Anfangsphase dieser Partei stark involviert und hat versucht, den Republikanern das Grundsatzprogramm zu schreiben. Was die Kontakte des IfS betrifft, bestehen solche nach Ungarn, insbesondere zur Gedenkstätte „Haus des Terrors“ in Budapest. Zudem hatten wir vor einigen Jahren eine Akademie zu den europäischen Rechten, auf der Vertreter aus Serbien, Dänemark und sogar aus der Türkei als Referenten anwesend waren.
Diese Kontakte finden derzeit nicht auf Regierungsebene statt, weil in den meisten europäischen Ländern die Rechten nicht regieren, auch wenn es immer mehr Regierungen mit Rechtsparteien gibt. Diese haben allerdings zur Folge, daß die daran beteiligten Rechtsparteien Rücksichten auf die Koalitionspartner nehmen müssen und daher bestimmte Kontakte nicht mehr pflegen. In Deutschland gab es vor der Gründung der AfD Kontakte zu einigen CDU-Renegaten, die mittlerweile allerdings alle in der AfD sind.
FOMITSCHOW: Gibt es ähnliche Denkfabriken wie das IfS, beispielsweise in Ungarn mit einem entsprechenden Einfluß auf Herrn Orbán?
LEHNERT: Das IfS ist keine parteipolitisch gebundene Denkfabrik, auch wenn es eine gewisse Nähe zur AfD gibt. Insofern ist es schwierig, dort etwas Vergleichbares zu finden, wo es lang etablierte Strukturen rechter Parteien gibt. In Ungarn ist es z.B. das Mathias Corvinus Collegium, das es seit 1996 gibt und mit Milliarden Euro von der ungarischen Regierung gefördert wird. Das IfS ist dagegen eine Institution, die ausschließlich durch die Spenden ihrer Förderer existiert. Außerdem spielt in der Parteipolitik das Pragmatische gegenüber dem Grundsätzlichen eine viel größere Rolle. Orbán versuchte z.B. lange, auf europäischer Ebene den Anschluß an die CDU nicht zu verlieren, bevor seine Fidesz schließlich im März 2021 aus der Fraktion der Europäischen Volkspartei im Europaparlament austrat.
FOMITSCHOW: In jüngster Zeit erleben wir vielleicht die zweite „rechte Welle“ in Europa seit der Migrationskrise 2015/16. Glauben Sie, daß dies zu irgendwelchen qualitativen Veränderungen führen könnte?
LEHNERT: Das ist eine schwierige Frage, weil sie in die Zukunft weist. Aber es gibt ein paar Indizien, die zumindest für eine bestimmte Richtung sprechen. Zum einen herrschen die Herrschenden nicht, weil sie dazu geboren sind, sondern weil sie wissen, wie man die Probleme, wenn man sie nicht lösen kann, wegmoderiert, abmildert oder von ihnen ablenkt. Insofern sind die Erfolge der rechten Parteien immer auch darauf zurückzuführen, daß die anderen Fehler gemacht haben. Und es gibt nur bei wenigen Rechtsparteien, zumindest in Deutschland ist das so, ein positives Gegenbild zu den gegenwärtigen politischen Strukturen, an dem sich die Wähler orientieren könnten.
Zum anderen gibt es die EU, die jedes Jahr hunderte Milliarden Euro verteilen kann, so daß auch konservative Regierungen, wie in Polen oder Ungarn, davon abhängig sind. Das ist so eine Art Rückversicherung dafür, daß niemand gänzlich aus der liberalen EU-Agenda ausschert. Und schließlich spielen auch Medien eine nicht zu unterschätzende Rolle. Insbesondere in Deutschland sind die Medien fest in der Hand derjenigen, die herrschen und ein Interesse daran haben, daß es so bleibt. Vor diesem Hintergrund können die 15 Prozent der AfD kaum etwas grundlegend ändern.
FOMITSCHOW: Sie haben die nächste Frage teilweise schon beantwortet, aber trotzdem: In den letzten Monaten sieht man in fast allen Bundesländern einen Anstieg der Popularität der AfD. Es scheint, als ob es der Partei gelingt, überall die 10/11-Prozentgrenze zu durchbrechen. Aber wenn die AfD von den Fehlern der anderen Parteien abhängt, welche Strategie wäre dann momentan die beste, um für den Fall vorzusorgen, daß die anderen mal keine Fehler machen?
LEHNERT: Fehler passieren immer. Das ist zumindest beruhigend, aber man muß natürlich darauf vorbereitet sein, diese Fehler optimal ausnutzen zu können. Das gehört zum Pflichtprogramm einer Partei wie der AfD. Sie muß nicht nur in der Lage sein, die Regierung zu kontrollieren, was zu den parlamentarischen Aufgaben gehört, sondern auch dazu, ihre Fehler gnadenlos auszunutzen. Daran scheitert die AfD insofern, als sie nicht über die mediale Kraft verfügt, die dazu notwendig ist.
Will man aus der Abhängigkeit von den Fehlern der anderen ausbrechen, braucht es den Mut, ein Gegenbild zum jetzt herrschenden Gesellschaftsmodell darzulegen. Den sehe ich bei der AfD, die es in Deutschland in dieser Hinsicht aufgrund der geschichtlichen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts besonders schwer hat, nur ganz vereinzelt. Ich meine nicht die Alternative von Diktatur oder Demokratie, sondern eine gesellschaftspolitische Idee, die dem entfesselten Liberalismus etwas entgegensetzt. Das ist, zugegeben, schwierig, weil es anders als 1989, als der liberalkapitalistische Westen für die vom Kommunismus beherrschten Völker ein solches Gegenbild war, heute nur Staaten wie China, Nordkorea oder Rußland, ein alternatives aber doch für den Westler recht unattraktives Gesellschaftsmodell vertreten.
Es muß ein Erkenntnisprozeß dahingehend angestoßen werden, daß die Bewahrung der Identität, die Bewahrung des eigenen Volkes eine Sache ist, die wie jede wertvolle Sache Opfer braucht, wenn man sie verteidigen möchte. Aber in der Demokratie verliert für gewöhnlich derjenige, der Opfer fordert, weil ihm die Mitbewerber mit Versprechungen die Wähler abspenstig machen. Interessant wird es aber dann, wenn die Regierenden nicht mehr in der Lage sind, ihre Fehler zu kaschieren. Dann ist es auch leichter, ein Gegenbild zu formulieren, das Opfer erfordert.
FOMITSCHOW: Einige Konservative werfen der AfD vor, vulgär auf das Ressentiment zu setzen: der unzufriedene Osten gegen den übermächtigen Westen. Oder auf die Unzufriedenheit mit den Corona-Maßnahmen, der Einführung von Geschwindigkeitsbegrenzungen auf Autobahnen usw. Was sagen Sie dazu?
LEHNERT: Ja, das ist stellenweise etwas unterkomplex, beispielweise wenn die Lust am Grillen als Argument gegen die Grünen ins Feld geführt wird. Aber das gehört nun einmal dazu. In der Demokratie geht es nie ohne Populismus, und Populismus zielt immer irgendwie auf Ressentiments. Aber wenn ich die Mehrheit erringen will, kann ich mich nicht darauf beschränken, an das Gute im Menschen zu appellieren, sondern muß die Instinkte bedienen.
Das Einzige, was einen unvoreingenommenen Beobachter erstaunen könnte, ist, mit welcher Vehemenz die herrschenden Parteien versuchen, der AfD aus dem Populismus einen Strick zu drehen. Erstaunlich insofern, weil diejenigen, die herrschen, genauso populistisch sind und genauso an Ressentiments appellieren. Ich persönlich finde das mitunter unappetitlich, aber jeder, der sich einmal mit Massenpsychologie beschäftigt hat, weiß, daß es einfach nicht anders funktioniert.
FOMITSCHOW: Heißt das dann, daß man als „Konservativer“ der heutigen hedonistischen, konsumorientierten und egozentrischen Gesellschaft im politischen Sinne überhaupt nichts entgegenstellen kann?
LEHNERT: Doch, kann man. Es ist ganz interessant, was die Grünen und die SPD, also die jetzige Regierung in Deutschland, machen. Sie haben sich hingestellt und gesagt: Weil in der Ukraine Krieg ist, müssen wir jetzt alle frieren – wir können kein russisches Öl mehr kaufen, kein russisches Gas und deswegen müssen jetzt alle weniger duschen usw. Und erstaunlicherweise gab es nicht nur keinen Aufstand in Deutschland, sondern die meisten tragen das mit, oder einige finden es sogar gut. Und das obwohl die Energiepreise durch die sogenannte Energiewende so hoch sind, und Deutschland überhaupt nicht gezwungen ist, wegen des Ukrainekrieges Sanktionen gegen Rußland zu verhängen. Das heißt, wenn man über eine entsprechend moralisch aufgeladene Idee verfügt, dann kann man auch den Verzicht so verkaufen, daß die Leute gerne verzichten. Das Problem ist, daß die AfD derzeit über solche Ideen nicht verfügt, aber als ganz aussichtslos würde ich das nicht betrachten.
FOMITSCHOW: Wie sieht die gegenwärtige „rechte Anthropologie“ aus? Worauf beruht oder auf wen bezieht sich die rechte Sicht auf den Menschen?
LEHNERT: Das rechte Menschenbild ist ein realistisches, es macht sich keine Illusionen über den Menschen. Es ist das Menschenbild aller großen Kulturen und Religionen, daß der Mensch der Erziehung und Führung bedarf, weil er sonst entartet. Die wichtigste Quelle einer umfassend entwickelten Anthropologie, die für die Neue Rechte handlungsleitend ist, stammt von Arnold Gehlen. Er betrachtet den Menschen, im Vergleich zur Tierwelt, als ein Mängelwesen, das diese Mängel durch seine zweite Natur, die Kultur, kompensieren muß. Dabei spielen die Institutionen eine entscheidende Rolle, da ihre Gültigkeit dem Menschen Handlungssicherheit gibt. Der Abbau der Institutionen, der sich spätestens seit den 1960er Jahren in einem rasanten Tempo vollzieht, führt daher zum kulturellen Niedergang.
Wenn der Staat sich derzeit krakenhaft ausbreitet, bedeutet das nicht, daß diese Institution in seiner ursprünglichen Bedeutung, der Garantie der Sicherheit nach außen und Aufrechterhaltung der Ordnung nach innen, eine Renaissance erleben würde. Hier kommt ein dritter Aspekt von Gehlens Werk zur Geltung, daß jede Institution eine bestimmte Art von Ethik hat, die Familie eine andere als der Staat. Die Vermischung oder Verwechslung dieser Ethiken führt in den totalitären Staat und die polygame Ehe. Die Konsequenzen dieses Verfalls für die menschliche „Natur“ hat der Verhaltensforscher Konrad Lorenz in einem schmalen Buch unter dem Titel „Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit“ zusammengefaßt.
FOMITSCHOW: In Ihrem Artikel „Kirche als Institution“ (2007) schreiben Sie über die grundlegende Rolle der Kirche nicht nur als Institution (im Sinne Gehlens oder Jüngers, der in der Nachkriegszeit die Kirche als Mittel zur Überwindung des Nihilismus sah), sondern auch als zentrale Quelle der europäischen Tradition. Darf man daraus schließen, daß Sie damit mit der modernistischen Auffassung von Religion und Kirche brechen und zu einer traditionelleren Betrachtung zurückkehren? Es sieht so aus, daß „die zweite Generation“ im Vergleich mit der ersten in diesen Fragen traditionalistischer ist.
LEHNERT: Mohler war Voluntarist und hatte mit dem Christentum gar nichts am Hut. Er hat seine Kinder nicht taufen lassen, was Ernst Jünger etwas verwundert zur Kenntnis nahm. Bei der zweiten Generation ist das etwas anders, die Auffassungen gehen aber weit auseinander. Worin sich alle einig sind, daß die Kirchen als Institutionen völlig ausgehöhlt sind – das betrifft nicht nur die evangelische Kirche, sondern auch die katholische. Und daß die Kirche im Westen fast vollständig zum Vehikel des Liberalismus geworden ist. Allerdings ist der Glaube eine Grundvoraussetzung dafür, daß man etwas tut, was über das eigene Leben und vielleicht auch die eigene Zeit hinausreicht. Jedenfalls trifft das für die meisten Menschen zu, Ausnahmen, die Mohler im „agonalen Menschen“ vermutete, bestätigen die Regel. Für alle anderen gab die Religion Verhaltenssicherheit, die ganz offensichtlich im Schwinden ist.
Dabei schlossen sich die Vorstellung eines allmächtigen Gottes und die menschliche Willensfreiheit nicht aus, sondern existierten zusammen und sorgten dafür, daß sich der Mensch nicht über die Schöpfung stellte. Hinzu kommt, daß die staatliche Ordnung in irgendeiner Art und Weise auf Vorstellungen beruht, die vor der staatlichen Ordnung da waren. Das heißt, der Staat muß darauf spekulieren, daß die Bürger ihre Ethik und ihr Handeln aus anderen Quellen beziehen als aus der Tatsache, daß die Polizei mein Handeln überwacht. Das bedeutet aber nicht, daß Kirche und Glauben in dieser Funktion aufgehen. Ich halte es eben aus diesem Grund für nicht ganz ungefährlich, wie das in Rußland gehandhabt wird, wo sich die orthodoxe Kirche sehr stark in die politischen Verhältnisse einmischt. In der Politik geht es um Interessen, und die Gefahr, daß die Kirche aus dieser Vermischung geschädigt hervorgeht, die ist nicht ganz von der Hand zu weisen.
(Teil 2 von 3)
Sandstein
Gerne mehr von diesem Format - mit viel Gewinn gelesen. Danke!