Insofern würde ich die Aussage von Donoso Cortés, der das als Katholik natürlich anders sehen muß, einschränken und sagen: Ja, stimmt, aber es besteht die Möglichkeit, daß ein Einzelner aufgrund seiner Vorbildwirkung diese Abwärtstendenz durchbricht. Wenn man sagt, das wird zur Grundlage einer konservativen Wende, ist das schon wieder eine funktionalistische Betrachtung des Glaubens. Man kann Religion nicht wollen, sondern man muß glauben.
FOMITSCHOW: Heißt das, daß die Versuche, irgendeine modernistische Ersatzreligion zu schaffen, zum Scheitern verurteilt sind?
LEHNERT: Alle Ersatzreligionen sind im Unterschied zur Religion diesseitig orientiert und betrügen den Menschen mit der Aussicht auf diesseitige Erlösung. Damit sind sie zum Scheitern verurteilt. Es gibt ein Buch aus den 1920er Jahren, das diese Versuche als „verkappte Religionen“ definiert. Darunter fällt dann der Antialkoholismus ebenso wie der Marxismus. Für sie sind die Grundübel der Welt zu heilen, wenn sich alle an bestimmte Regeln halten, beispielsweise keinen Alkohol mehr trinken oder den Industriearbeitern die politische Führung überlassen. Wohin dieser Aberglaube geführt hat, wenn er zur Macht kam, dürfte bekannt sein. Die „westlichen Werte“ sind gerade auf dem besten Weg, ähnlichen Schaden anzurichten.
FOMITSCHOW: Im Artikel „Europabegeisterung. Ein moderner Ablaß“, den Sie im Juni 2022 fast zehn Jahre nach dem ersten Erscheinen in der Jungen Freiheit erneut veröffentlicht haben, schreiben Sie: „Ein ‚Europa der Vaterländer‘ ist daher als Polemik gegen die Zentralisierungsbestrebungen der EU ganz brauchbar, bleibt aber selbst dem Europabetrug verhaftet.” Welche europäische Struktur ist Ihrer Meinung nach in der heutigen Realität die beste?
LEHNERT: Der Versuch, mit EU-Europa gegen China, die USA und Rußland anzukommen oder nur einen gleichwertigen Partner zu kreieren, ist gescheitert. Meinen Artikel habe ich deswegen noch einmal veröffentlicht, weil es in der „Neuen Rechten“ auch eine romantische Strömung gibt, die in einer „europäischen Identität“ die Lösung für unsere Probleme sieht. Das liegt zum einen an dem gemeinsamen Feind, dem importierten Islam, gegen den man die europäische Tradition verteidigen möchte. Zum anderen handelt es sich auch um eine Generationenfrage, weil viele, die diese Auffassung vertreten, damit aufgewachsen sind, daß man mit dem Billigflieger jede europäische Hauptstadt in kurzer Zeit erreicht, wo man auf Menschen trifft, die auch damit aufgewachsen sind.
Doch diese Erfahrung sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß Europa eben gerade keine politische Einheit ist. Natürlich: wir sind alle Europäer, aber eben erst in zweiter Hinsicht. Daher liegt mir das Europa der Vaterländer, das Europa der souveränen Nationen näher. Das ist zwar letztlich auch so etwas wie die Quadratur des Kreises, weil man in der Lage sein muß, die nationalen Egoismen zu überwinden, wozu die meisten Nationen, sobald es ernst wird, nicht bereit sind. Die einzigen, die das gemacht haben, sind die Deutschen, die durch den verlorenen Zweiten Weltkrieg in die Rolle gezwungen wurden, Motor der europäischen Einigung zu sein, ohne dabei ihre Interessen zu vertreten. Die Franzosen, der zweite, aber freiwillige Motor, machen das ganz anders.
Neben dem Problem der nationalen Interessen, die es unter einen Hut zu bringen gilt, stellt sich das des US-amerikanischen Hegemons. Solange er herrscht, hat Europa keine Chance, da er es hervorragend versteht, einen Keil zwischen die Europäer zu treiben. Die EU verschlimmert die Lage noch, weil sie nur ein Ziel hat, die Nationen und ihre Bürger zu entmündigen. Es gibt aus meiner Sicht keine Möglichkeit, die EU zu reformieren. Sie müßte zerschlagen werden, um sich dann, nach wiedergewonnener Souveränität der Nationen, gemeinsam an den Tisch zu setzen und so etwas wie einen Wiener Kongreß durchzuführen und dort festzulegen: Das sind die Leitlinien, mit denen wir alle leben können, und unsere Gemeinsamkeiten, die politisch zu definieren wären, sind so groß, daß wir unsere einzelnen nationalen Interessen unterordnen können.
FOMITSCHOW: Sie sprechen über einen Bund der europäischen Länder und dessen wichtigste Voraussetzung, viele Gemeinsamkeiten zu haben: Kulturelle, historische, religiöse usw. Gehört Rußland in diesem Sinne dann zu Europa, oder nicht?
LEHNERT: Rußland ist zu groß, um nur Teil von Europa zu sein. Rußland gehört zu einem guten Teil zu Asien, was sich auch immer mal wieder bemerkbar macht. Allerdings gab es vom Ende des 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert eine ganz starke Tendenz in Rußland, sich Europa anzunähern und dadurch viele Gemeinsamkeiten auszubilden, die allerdings durch den Pathos, mit dem das Slawentum den Germanen gegenübergestellt wurde, schon damals eine gewisse Schlagseite bekamen. Dieses dennoch starke europäische Gewicht ist letztlich durch den Bolschewismus zu einem großen Teil wieder aufgehoben worden, auch wenn dessen Ideologie europäischen Ursprungs ist.
Seitdem gibt es eine Frontstellung zwischen Rußland und Europa, deren Festigkeit auch darauf zurückzuführen ist, daß der Bolschewismus 70 Jahre lang in Rußland herrschen konnte und sich dabei eine geopolitische Erfahrung zu Nutze machte, die darin besteht, daß für die Russen die Gefahr immer aus dem Westen, aus Europa kam. Aber weltpolitische Konstellationen ändern sich, und Rußland war für Europa vor zwanzig Jahren die einzige Chance, aus der US-amerikanischen Abhängigkeit herauszukommen. Dieser Versuch ist gescheitert und wird sich wohl nicht sobald wiederholen lassen.
FOMITSCHOW: Was könnten Sie zum Thema Menschenrechtekonzept sagen? Ist es schon ein fester Bestandteil der europäischen Tradition? Was finden Sie daran richtig und was falsch?
LEHNERT: Ein Staat ist eine Rechtsgemeinschaft, in der Staatsmacht und Staatsvolk auf einem bestimmten Staatsgebiet leben. Die einzelnen Bedingungen des Zustandekommens und die konkreten Ausformungen dieser Gemeinschaft sind dabei zunächst nebensächlich. Es bedeutet aber, daß keine Willkür in dem Sinne herrscht, daß niemand seine Interessen mit Gewalt, gleich welcher Art, durchsetzen kann. Die Rechtsgemeinschaft beschränkt sich auf die Angehörigen, die sich natürlich darauf einigen können, diese auf Fremde auszuweiten, was aber ein Ausnahmefall von der Regel ist, daß Bürgerrechte nur für Bürger gelten.
Das Problem beginnt bei der Ausweitung der Rechtsgemeinschaft, denn die Welt stellt keine solche dar, sondern auf ihr existiert eine Vielzahl davon. Mit der Einrichtung der UNO wurde der gescheiterte Versuch unternommen, so etwas wie eine weltweite Rechtsgemeinschaft zu errichten. Schon damals konnte man sich nicht auf eine eindeutige Definition der Menschenrechte einigen, die ja gewissermaßen ihre Entsprechung in den Freiheitsrechten der Bürger in ihren jeweiligen Staaten haben. Dabei spielt nicht nur die Frage der Durchsetzbarkeit eine Rolle, denn es gibt keine Institution, bei der die Menschenrechte wirksam einklagbar wären, sondern auch die Herkunft der Vorstellung von den Menschenrechten. Diese liegt letztlich in der abendländischen Tradition, in der sich Antike, Christentum und die germanische Welt zusammengefunden haben.
Andere Kontinente tun sich schwer damit, sich diesen sehr individualistisch ausgestalteten Forderungen, die sich in den Menschenrechten finden, anzuschließen. Das bedeutet, daß sich die Geltung auf die Staaten mit einer europäischen Tradition beschränkt, was diese zum einen zum Magneten für die Unterdrückten und Beladenen der Welt macht, zum anderen aber dazu führt, daß diese Staaten im Namen der Menschenrechte Kriege führen; und zwar wenn es ihnen politisch paßt und nicht, weil sich die Zustände in einem mit Menschenrechten zu beglückenden Land wahrnehmbar von den Nachbarländern unterscheiden würden.
Insofern: Ja, die Menschenrechte gehören zur europäischen Tradition, weil sie unserer Auffassung von den Entfaltungsmöglichkeiten der Persönlichkeit entsprechen. Das bedeutet aber weder, daß in Deutschland oder Europa die Menschenrechte für den Rest der Welt garantiert werden können, noch, daß wir diese weltweit durchsetzen sollten.
FOMITSCHOW: In dem Artikel „Geschichtspolitik“ (2015) schreiben Sie: „Aus russischer Perspektive ist es gesund, daß Rußland seine Vergangenheit nicht zu bewältigen versucht und Stalin weiterhin als großen Mann betrachtet“ und in einem RT-Interview betonten Sie vor einigen Monaten, daß „Rußland sich unverhohlen zur Tradition des Stalinismus bekennt“. Eine gewisse Renaissance des Stalinismus wurde auch mehrmals von Götz Kubitschek angemerkt. Kann man also sagen, daß genau das unbewältigte Trauma des Stalinismus und des Kommunismus, das die russischen konservativen Kräfte oft „rot“ färbt, der wichtigste Grund für die Schwierigkeiten der Zusammenarbeit zwischen den „europäischen Rechten“ und Rußland ist?
LEHNERT: Man muß sicher zwischen den Russen und dem Bolschewismus unterscheiden. Aber dennoch hat sich der Bolschewismus in die russische Staats-DNA eingeschrieben, einfach deswegen, weil der Bolschewismus (oder eher der Stalinismus) im Zweiten Weltkrieg erfolgreich war. Und für mich als Deutschen ist das insofern ein Problem, da ich nicht bereit bin, die Verbrechen der Bolschewisten, ob es sich nun um Russen oder Ukrainer oder andere „Sowjetvölker“ handelte, an den Deutschen für irgendwie, sei es im Sinne einer nationalen oder internationalen Sache, gerechtfertigt anzusehen. Das steht zwischen mir und den Russen, die den Stalinismus rechtfertigen.
Als politisch denkender Mensch kann ich verstehen, warum die Russen nicht anfangen, ihre Geschichte zu bewältigen. Sie sind ja nicht blind und sehen, was passiert, wenn man sich die ganze Zeit selbst in Frage stellt. Aber wenn man sich auf Augenhöhe treffen will, darf diese Sache nicht beschwiegen werden. Deswegen war ich damals nicht begeistert, als sich AfD-Vertreter in Moskau am „Tag der Befreiung“ für die russischen Interessen einspannen ließen. Bei vielen Neuen Rechten – besonders bei den jüngeren – gibt es die Hoffnung, daß diese Dinge im Laufe der Zeit immer mehr zurücktreten werden und man sich dann besser verständigen könne. Ich teile diese Hoffnung nur in der banalen Hinsicht, daß die Zeit viele Wunden heilt. Allerdings tut die russische Geschichtspolitik alles dafür, daß sie offen bleiben.
FOMITSCHOW: Meinen Sie, falls die Russen sich vom Bolschewismus abgrenzen und ihn als illegitim darstellen würden, gäbe es viel mehr Gelegenheiten zu einer Zusammenarbeit mit Europa bzw. Deutschland?
LEHNERT: Solange die Amerikaner Europa beherrschen, wird es diese Zusammenarbeit nicht geben – jedenfalls nicht auf staatlicher Ebene. Wir können uns verständigen auf der Ebene von Denkfabriken, persönlichen Verknüpfungen usw. Aber solange Deutschland und Europa kein Spieler am Brett sind, sondern Spielfiguren, wird es schwierig sein, diese politisch fruchtbar zu machen. Eine solche Gelegenheit gab es in den späten 1990er Jahren, als man versuchte, die technologische Kraft Deutschlands mit dem Rohstoffreichtum Rußlands zu verbinden; und die Einflußsphären in Mittelosteuropa abzustecken. Zurzeit sind die Voraussetzungen auf beiden Seiten nicht vorhanden – leider, muss ich sagen. Aber die Verbindung von Deutschland und Rußland könnte segensreich sein, denken wir nur an die Befreiungskriege. Es gibt Anknüpfungspunkte, aber es fehlt an einem gemeinsamen Willen, an gemeinsamen Interessen und an politischer Augenhöhe.
FOMITSCHOW: Abschließende Frage: Was würden Sie allen Interessierten zum Lesen empfehlen, um mehr über Ihre Bewegung zu erfahren?
LEHNERT: Es gibt keine seriöse Sekundärliteratur über die „Neue Rechte“. Das kann ich Ihnen versichern, zumindest für Deutschland. Die Politikwissenschaft, deren Aufgabe es wäre, so eine Bewegung einzuordnen und zu bewerten, ist in Deutschland völlig links dominiert, ihre Erzeugnisse sind wertlos. Es gibt aber die Publikationen, die von uns selbst stammen. Da ist an erster Stelle die Zeitschrift „Sezession“ und der dazugehörige Blog „Sezession im Netz“ zu nennen, dann das „Staatspolitische Handbuch“ in fünf Bänden und sicher auch die „Kaplaken“-Reihe, die im Antaios-Verlag erscheint und Essays zu allen relevanten Themen bietet. Vom „Institut für Staatspolitik“ herausgegeben, erschien schon vor ca. fünfzehn Jahren eine sehr wichtige und noch aktuelle Studie über den Begriff „Neue Rechte“. Sie ist nicht mehr lieferbar, wird aber von uns demnächst im Netz zum Download bereitgestellt.
Darüber hinaus, wenn man ein bißchen weiter ausgreift, gibt es ein ganzes Milieu: Dazu gehört im weitesten Sinne die „Junge Freiheit“ und einige Zeitschriften wie zum Beispiel „Tumult“ oder „Cato“. Und dann sind da noch die Quellen, auf die wir uns berufen. Sie bestehen nicht nur aus den Erzeugnissen der „Konservativen Revolution“, sondern sie gehen viel weiter zurück. Sie umfassen die ganze geistige Tradition Europas.
(Teil 3 von 3)
Franz Bettinger
„Die dekadente katholische Kirche des Mittelalters.“ Die Kirche von heute ist noch dekadenter, meine ich. Liegt das (wie @Laurenz behauptet) nur am Reichs-Konkordat, welches - im Gegenzug zu Pfründen und Kirchensteuer-Bewilligung - der Kirche ein staats-konkordantes (Wohl-) Verhalten bzw. ein Verbot politischer Betätigung für Kleriker abfordert? Ist das der Grund, weshalb sich die Kirchen heute überaus geschmeidig dem Regierungs-Willen unterordnen, ja ihm in vorauseilendem Gehorsam die Schleimspur bohnern in Richtung offene Grenzen, Klima-Wahn, Impfwahn und Gott ist schwul-Sprüchen?