Die »Methode Illies« und ihre Grenzen

PDF der Druckfassung aus Sezession 112/ Februar 2023

Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

Als vor mehr als zehn Jah­ren das Buch 1913. Der Som­mer des Jahr­hun­derts von Flo­ri­an Illies erschien, war schnell klar, daß hier jemand eine so genia­le wie nahe­lie­gen­de Idee gehabt hatte.

Illies nahm sich ein his­to­risch nicht beson­ders ereig­nis­rei­ches Jahr und ent­fal­te­te vor dem Leser ein kul­tur­ge­schicht­li­ches Kalei­do­skop, indem er Begeg­nun­gen, Ereig­nis­se, Brie­fe und ähn­li­che Zeug­nis­se in eine bestimm­te Ord­nung brach­te. Die­se col­la­gen­ar­ti­ge Anord­nung erwies sich als so ein­gän­gig, daß aus dem Buch schnell ein inter­na­tio­na­ler Best­sel­ler wur­de (was natür­lich auch mit dem Jahr 1913 selbst zu tun hat­te, dem bekannt­lich der Unter­gang folgte).

Illies hat die­ses Erfolgs­re­zept auch in wei­te­ren Büchern zur Anwen­dung gebracht und in einem Inter­view bekannt: »Ich habe als Stu­dent der Geschich­te so vie­le Bücher lesen müs­sen, die mich gequält haben, weil mir das Leben­di­ge und das Sinn­li­che fehl­te. Des­halb bin ich froh, eine Metho­de gefun­den zu haben, Geschich­te anders zu erzählen.«

Die­se Metho­de hat vie­le Nach­ah­mer gefun­den, weil ein sol­ches Erfolgs­re­zept natür­lich ver­füh­re­risch ist. Aller­dings hängt das Ergeb­nis zu einem nicht gerin­gen Teil von dem­je­ni­gen ab, der die­se Metho­de anwen­det. Aus der Col­la­ge kann schnell eine belie­bi­ge Anein­an­der­rei­hung von inter­es­san­ten Bege­ben­hei­ten wer­den, ohne daß sich der über­ge­ord­ne­te Zusam­men­hang erschließt. Womög­lich gibt es den gar nicht, und der Autor hat sich nur vom Durch­kli­cken der Wiki­pe­dia-Ver­wei­se inspi­rie­ren las­sen und sei­ne Lese­früch­te dem­entspre­chend sortiert?

Bei dem Buch Feu­er­land. Eine Rei­se ins lan­ge Jahr­hun­dert der Uto­pien 18832020 (Mün­chen: Sied­ler 2022, 304 S., 24 Euro) von Peter ­Neu­mann (geb. 1987), einem pro­vo­mier­ten Phi­lo­so­phen, der seit 2021 bei der Zeit als Feuil­le­ton­re­dak­teur arbei­tet, läßt sich die­ser Ein­druck nicht ganz zer­streu­en. Sein Buch ist nach der »Metho­de Illies« gear­bei­tet, ohne daß klar wird, was eigent­lich die Klam­mer sein soll, die das Pot­pour­ri zusammenhält.

Es geht um das »Jahr­hun­dert der Uto­pien«, das Neu­mann 1883 mit dem Aus­bruch des Vul­kans Kra­ka­tau begin­nen läßt. Um dar­aus irgend­ei­ne zukunfts­wei­sen­de Aus­sa­ge zu gewin­nen, bezieht er sich auf die Erin­ne­run­gen eines Ham­bur­ger Ver­wal­tungs­be­am­ten, in denen sich der Hin­weis fin­det, daß »das Schlimms­te noch bevor­ste­hen« wer­de. Wie das 20. Jahr­hun­dert ver­lau­fen ist, wis­sen wir aber alle.

Ein­ge­teilt ist das Buch in drei Tei­le, die mit »Fie­ber« (1883 – 1914), »Knall« (1917 – 1955) und »Wal­ze« (1962 – 2020) über­schrie­ben sind. Im ers­ten Teil geht es um bekann­te intel­lek­tu­el­le Begeg­nun­gen und Aus­ein­an­der­set­zun­gen. Unter­bro­chen wird das Kapi­tel durch eine Umfra­ge von 1899, die ein Stim­mungs­bild der Hoff­nun­gen einer Epo­che vol­ler Taten­drang zeigt. Das alles ist gefäl­lig erzählt, ohne daß deut­lich wird, war­um es noch ein­mal erzählt wer­den muß.

Sicher­lich kann man Neu­mann nicht abspre­chen, über ein gewis­ses Ein­füh­lungs­ver­mö­gen zu ver­fü­gen. Aber auch das stößt da an Gren­zen, wenn er Heid­eg­ger 1962 auf einer Grie­chen­land­rei­se beglei­tet, die von Erhart Käst­ner initi­iert wur­de, und auf der die Gesprä­che regel­mä­ßig ins Lee­re gelau­fen sei­en. »Auch über Käst­ners Zeit in Grie­chen­land wäh­rend des Krie­ges, sei­nen dama­li­gen Jubel über die Rück­kehr der ari­schen Ras­se ins Süd­land, ver­sucht man lie­ber zu schwei­gen.« Abge­se­hen von der denun­zia­to­ri­schen Umdeu­tung eines Zitats: War­um soll­ten die bei­den nicht dar­über gespro­chen haben, was sie mit Grie­chen­land verbindet?

Neu­mann beherrscht, wenn man von eini­gen inhalt­li­chen Gewalt­sam­kei­ten absieht, die Kunst der Minia­tur durch­aus meis­ter­haft. Aber es wird kein Buch dar­aus. Es fehlt die zün­den­de Idee, die das Gan­ze plau­si­bel zusam­men­hält. Das ist bei dem Jour­na­lis­ten Timo Feld­haus (geb. 1980) anders. Sein Buch Mary Shel­leys Zim­mer. Als 1816 ein Vul­kan die Welt ver­dun­kel­te (Ham­burg: Rowohlt 2022, 318 S., 26 Euro), zu dem Illies ein sich vor Lob über­schla­gen­des Rück­sei­ten­zi­tat bei­gesteu­ert hat, nimmt sich wie sein Vor­bild ein Jahr vor. Aller­dings geht es ihm nicht um das Jahr selbst, son­dern um ein Ereig­nis und des­sen rea­le und ver­meint­li­che Fol­gen, die sich anschlie­ßend zutrugen.

Wie­der geht es um einen Vul­kan­aus­bruch, dies­mal den auf einer indo­ne­si­schen Insel gele­ge­nen Tam­bo­ra, der zwi­schen dem 10. und 15. April 1815 nach einer gigan­ti­schen Explo­si­on eine Schwe­fel­wol­ke aus­stieß. Es han­del­te sich um die größ­te Erup­ti­on eines Vul­kans, die Men­schen jemals erlebt haben. Die Schwe­fel­wol­ke wird mitt­ler­wei­le für ein Phä­no­men ver­ant­wort­lich gemacht, das 1816 zu einem »Jahr ohne Som­mer« führ­te. Eine Kli­ma­ka­ta­stro­phe, denn das Wet­ter spiel­te 1816 und in den fol­gen­den Jah­ren welt­weit ver­rückt: Es reg­ne­te stän­dig, es war kalt, was zu Mißern­ten und Hun­gers­nö­ten führ­te. Das hat­te wie­der­um in Euro­pa Unru­hen zur Fol­ge, denen eine Aus­wan­de­rungs­wel­le folgte.

Der Titel des Buches ver­weist auf eine damit im Zusam­men­hang ste­hen­de Geschich­te, die sich schon in Wolf­gang Beh­rin­gers maß­geb­li­chen Buch zum Tam­bo­ra-Aus­bruch und sei­nen Aus­wir­kun­gen fin­det: Mary Shel­ley hat­te mit ihrem Gelieb­ten (und spä­te­ren Ehe­mann), dem Dich­ter Per­cy Shel­ley, und ihrer Schwes­ter die eng­li­sche Hei­mat ver­las­sen und war am Gen­fer See zu dem bekann­ten und von ihnen ver­ehr­ten Schrift­stel­ler Lord Byron gesto­ßen. Da es die gan­ze Zeit reg­ne­te (Wet­ter!), lang­weil­te man sich trotz der Pro­mis­kui­tät der Run­de irgend­wann, so daß Byron einen Wett­be­werb um die bes­te Hor­ror­ge­schich­te aus­lob­te. Das war nicht nur die Geburts­stun­de des Vam­pir­ro­mans (an des­sen Ent­ste­hung sowohl Byron und sein Leib­arzt als auch Shel­ley betei­ligt waren), son­dern eben auch die von Fran­ken­stein und dem aus dem Ruder lau­fen­den künst­li­chen Menschen.

Feld­haus ergänzt die­se Epi­so­de nicht nur um die außer­ge­wöhn­li­che Fami­li­en­ge­schich­te Mary Shel­leys, son­dern auch um ver­schie­de­ne ande­re Epi­so­den die­ser Jah­re, die manch­mal etwas an den Haa­ren her­bei­ge­zo­gen wir­ken. Etwa wenn Napo­le­on die Schlacht bei Water­loo wegen des Dau­er­re­gens ver­lo­ren haben soll, was ers­tens zwei­fel­haft ist und zwei­tens nichts mit dem Tam­bo­ra zu tun hat, denn die Schlacht fand im Juni 1815 statt, das Jahr ohne Som­mer folg­te noch. Aber ohne Napo­le­on geht es in einem Buch über die Zeit nicht – eben­so­we­nig wie ohne Goe­the, der eben­falls aus­führ­lich gewür­digt wird.

Einen ande­ren Weg geht Wolf­gang Martynke­wicz (geb. 1955) mit sei­nem neu­en Buch. Er hat den Illies-Pfad, den er vor eini­gen Jah­ren mit einem Buch über das Jahr 1920 betre­ten hat­te, wie­der zuguns­ten sei­ner eigent­li­chen Stär­ke ver­las­sen. Die hat­te er 2009 mit Salon Deutsch­land. Geist und Macht. 19001945 schon ein­mal gezeigt, als er die Salon­kul­tur und deren Netz­wer­ke sehr kennt­nis­reich und aus­ge­wo­gen beschrieb. In Das Café der trun­ke­nen Phi­lo­so­phen. Wie ­Han­nah Are­ndt, Ador­no & Co. das Den­ken revo­lu­tio­nier­ten (Ber­lin: Auf­bau 2022, 459 S., 30 Euro) ver­folgt ­Mar­tyn­ke­wicz ein ande­res Netz­werk bis in sei­ne feins­ten Verästelungen.

Es geht um den sich Anfang der 1930er Jah­re in Frank­furt am Main zusam­men­fin­den­den Kreis von Intel­lek­tu­el­len und deren Lebens­schick­sa­le. In Frank­furt befand sich nicht nur das Insti­tut für Sozi­al­for­schung, son­dern auch der Theo­lo­ge Paul Til­lich sowie die Sozio­lo­gen Karl Mann­heim und Nor­bert Eli­as waren an der dor­ti­gen, nach dem Ers­ten Welt­krieg gegrün­de­ten Uni­ver­si­tät tätig. Auch die Phi­lo­so­phin Han­nah Are­ndt, die nach ihrer Affä­re mit Heid­eg­ger Gün­ther Stern, der spä­ter unter dem Namen Gün­ther Anders bekannt wur­de, gehei­ra­tet hat­te, fand sich dort ein.

Was hat­ten die­se Per­so­nen gemein­sam? Sie leb­ten und arbei­te­ten in Frank­furt und besuch­ten das­sel­be Café, das »Lau­mer« im West­end. Daß es sich bei der über­wie­gen­den Mehr­heit um Juden han­del­te, kam hin­zu, ohne daß es für den Kreis von beson­de­rer Bedeu­tung gewe­sen wäre, denn die wenigs­ten bekann­ten sich dazu, son­dern such­ten ihr Heil in Mar­xis­mus, Psy­cho­ana­ly­se und eben der Sozio­lo­gie als neu­er Leit­wis­sen­schaft. Man war davon über­zeugt, den Schlüs­sel zur Beant­wor­tung der drän­gends­ten Fra­gen in der Sozio­lo­gie gefun­den zu haben. Doch die Kon­zep­te, die man ver­trat, waren ziem­lich unter­schied­lich, wenn­gleich die­se Unter­schie­de vor allem unter­ein­an­der wahr­ge­nom­men wur­den. Für Außen­ste­hen­de han­del­te sich um mehr oder weni­ger ortho­do­xe Mar­xis­ten, die sich um Details zank­ten. Wen inter­es­sier­te, ob Mann­heims Buch Ideo­lo­gie und Uto­pie ein Angriff auf den Mar­xis­mus war oder doch eher eine Erneue­rung einer mar­xis­ti­schen Fragestellung?

Einig zeig­te man sich aller­dings dar­in, daß eine his­to­ri­sche Stun­de ange­bro­chen war und sie dazu beru­fen waren, die­se zu nut­zen. Die Macht­er­grei­fung der Natio­nal­so­zia­lis­ten, die man in die­sem Kreis lan­ge nicht ernst genom­men hat­te, änder­te die Situa­ti­on grund­sätz­lich. Der gesam­te Kreis muß­te ins Exil. Selbst der nicht­jü­di­sche Paul Til­lich ver­lor sei­nen Lehr­stuhl, weil er Sozia­list war. In den Ver­ei­nig­ten Staa­ten traf man sich größ­ten­teils wie­der, wo die alten Ani­mo­si­tä­ten unter den neu­en Bedin­gun­gen gedie­hen. Aber auch hier blieb man von der eige­nen Bedeu­tung überzeugt.

Ein­lö­sen konn­ten die­sen Anspruch letzt­lich nur Ador­no und Hork­hei­mer, denen es nach 1945 tat­säch­lich gelang, das Mei­nungs­kli­ma in der alten Hei­mat kom­plett umzu­krem­peln. Dabei kam ihnen ent­ge­gen, daß das revo­lu­tio­nä­re Sub­jekt des Mar­xis­mus wan­del­bar war: Die Juden wur­den zum »Gegen­punkt zur Kon­zen­tra­ti­on der Macht« (Ador­no). Sicht­bar wer­den die­se Zusam­men­hän­ge nur, weil Mar­tyn­ke­wicz sich nicht mit der Col­la­ge zufrie­den gibt, son­dern die Lini­en auszieht.

 

Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

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