SEZESSION: Sehr geehrter Herr Brousek, Anfang September jährte sich das sogenannte Münchener Abkommen zum 85. Mal. Während andere historische Daten, vor allem in Zusammenhang mit dem Dritten Reich, regelmäßig im Fokus der bundesdeutschen Öffentlichkeit und deren „Erinnerungskultur“ stehen, wird über dieses Abkommen, den „vorletzten Sargnagel der demokratischen Nachkriegsordnung“, eher wenig diskutiert. Wie verhält sich das in Tschechien? Und wie gestaltet sich die offizielle und auch inoffizielle Erinnerungskultur, d.h. die Gespräche und Gebräuche im tschechischen Volk, ganz allgemein?
BROUSEK: Das ist eine wirklich ungemein interessante Sache. In der Bundesrepublik ist die „Erinnerungskultur“, ein schauderhaftes Wort übrigens, ja sehr intensiv, dieses Thema findet aber komischerweise fast nicht statt. Das ist für das heutige Deutschland offenbar politisch nicht opportun oder nicht genug schuldbelastet.
In Tschechien ist das völlig anders. Auf medialer Ebene und unter den Menschen selbst, auch bei sogenannten einfachen Leuten. Ich war jetzt gerade in Südböhmen, es gab dazu Sendungen im Fernsehen und im Radio, es gab dazu Artikel in den Zeitungen. Vor allem ist aber interessant, daß die Menschen noch immer darüber reden.
Gerade heute habe ich mir eine populärhistorische Zeitschrift gekauft, in der „München 1938“ das Hauptthema ist. Das Titelbild ist ein tolles historisches Farbfoto und stellt die Beseitigung tschechoslowakischer Grenzanlagen durch Deutsche in süddeutscher Trachtenkleidung dar. „Trachtler“ nennt man diese Leute in Bayern. Das Foto wurde ausgewählt, weil alle Tschechen alpine Trachten ungemein lächerlich und typisch deutsch finden. Deshalb müssen Sudetendeutsche immer „Trachtler“ sein.
Die Tschechen sind allerdings ein sehr historisch denkendes Volk, vielleicht ist das ein Spezifikum kleiner Völker. Sie reden viel über geschichtliche Ereignisse und haben dabei, denke ich, drei große historische Zeitpunkte, die für sie zentral und traumatisierend waren: 1621 die tschechische Niederlage in der Schlacht am Weißen Berg, 1968 die russische Okkupation und eben 1938 das Münchener Abkommen.
Das letztgenannte Thema wird immer noch am intensivsten erlebt. Grundtenor ist immer: Wir wurden vom Westen im Stich gelassen oder gar verraten – wir hätten uns im September 1938 gegen Deutschland verteidigen sollen – wir hätten uns erfolgreich verteidigen können, weil wir eine so moderne Armee hatten.
Der erste Punkt stimmt, der zweite ist zweifelhaft, der dritte Unfug. Die moderne tschechische Forschung nimmt nicht mehr an, daß eine Verteidigung sinnvoll gewesen wäre. Das Volk aber eben schon …
SEZESSION: Das Münchener Abkommen war ein vergleichsweise unblutiger, vor allem diplomatischer Erfolg der deutschen Führung unter Hitler. Der von Ihnen kürzlich wiederentdeckte Emanuel Moravec, der nach dem Abkommen mit den Deutschen kollaborieren sollte, beschreibt in seinem Buch Das Ende der Beneš-Republik sehr ausführlich, daß der junge tschechoslowakische Staat 1938 durchaus über militärische Mittel verfügte, Deutschland wenigstens einige Wochen standzuhalten. Wieso also diese diplomatische, womöglich wenig heroische „Lösung“ des Konflikts um das Sudetenland?
BROUSEK: Die Tschechoslowakei hätte sich meines Erachtens nicht lange wehren und halten können. Selbst, wenn die Briten und Franzosen eingegriffen hätten. Ich halte das für einen Mythos. Als aber Ende September 1938 klar war, daß vom Westen keine Hilfe zu erwarten sein würde, war jeder tschechoslowakische Widerstand völlig irrational. Die tschechoslowakische Armee war zwar qualitativ wirklich recht hochwertig, die Kampfmoral der Tschechen und Slowaken war ebenfalls hoch. Aber auch die viel modernere französische Armee ist 1940 in nur vier Wochen komplett zerschlagen worden. Damit hatte niemand gerechnet, nicht einmal der GröFaZ selbst. Der deutschen Wehrmacht konnte damals keiner standhalten, technisch nicht, taktisch nicht und (kampf-)moralisch nicht.
Die Lösung durch die Befolgung des Münchener Abkommens war wirklich unheroisch, aber klug, angemessen und pragmatisch. Es war aber die einzige echte Lösung, die es Ende September 1938 gab. Viele Menschen haben das hinterher Präsident Beneš verübelt. Gerade auch Oberst Moravec, der sich als „mutiger“ Soldat vom „feigen“ Politiker verraten fühlte. Ich denke aber, daß Politiker und Diplomaten immer klüger sind als Generäle und Soldaten. Zudem war die Tschechoslowakei die einzige Demokratie in Ostmitteleuropa. In einer Demokratie haben Generäle zu tun, was die Regierung ihnen vorgibt, nicht etwa umgekehrt.
Und nicht zuletzt: Hätten die Tschechoslowaken mit Beneš sich im Herbst 1938 nicht gefügt, hätten in der Welt sie als Kriegstreiber dagestanden und nicht etwa Adolf Hitler, der in Wirklichkeit den Krieg ja schon 1938 wollte.
SEZESSION: Der Historiker Stefan Scheil spricht in einem Interview von einem „typisch ‚tschechischen Gedanken‘“. Die Polen hingegen hätten in einer vergleichbaren Situation sicher anders gehandelt, so Scheil. Liegt er damit richtig? Läßt sich die „Kapitulation“ der Tschechen, eines Volks, das sich zu Recht auf die militärische Tradition der Hussiten beruft, so einfach erklären? Die Tschechen als Pazifisten? Ist das auch heute noch das Mindset dieses Volks? Oder steckt – historisch betrachtet – mehr dahinter?
BROUSEK: Stefan Scheil ist ein bemerkenswerter Historiker, der nicht dem Mainstream angehört. Das macht ihn sehr interessant. Ich habe viel von ihm gelesen, kann ihm aber in vielen Dingen nicht beipflichten. Hier indes schon.
Natürlich kann man das nicht simplifizieren, nach dem Motto: „feige Tschechen“, „tapfere Polen“. Die Polen hätten nie kapituliert, zugegeben. Sie sind tapfer, ja heroisch, und auch großspurig. Das hat ihnen in der Geschichte auch immer sehr viele Probleme bereitet.
Die Tschechen sind ein viel kleineres Volk als die Polen, sie sind ein friedfertiges Volk, und sie sind seit jeher ziemlich antimilitaristisch eingestellt. Feige sind sie aber nicht. Sie wägen immer vernunftbezogen ab. Das rechnet sich historisch eher als Heldenmut à la Ulanenangriffe gegen deutsche Panzer. Das war in den böhmischen Ländern seit der Zeit nach den Hussitenkriegen eigentlich immer so und ist auch heute noch so.
Dennoch gab es im Einzelfall hervorragende militärische Leistungen auch in der Zeitvnach dem Hussitenführer Jan Žiska. Man denke nur an die Tschechoslowakischen Legionen in Sibirien im Ersten Weltkrieg, oder aber an die herausragenden tschechischen Geschwader der RAF bei der Luftschlacht um England im Zweiten Weltkrieg.
SEZESSION: Emanuel Moravec kollaborierte, wie gesagt, nach dem Münchener Abkommen mit den Deutschen. Er gilt den Tschechen als „Schreckgespenst“ der eigenen Geschichte. Wie bekannt ist dieser Mann in Tschechien? Könnten Sie einen Vergleich mit einer historischen Figur in Deutschland ziehen?
BROUSEK: Emanuel Moravec wird in Tschechien bis heute gehaßt und verachtet. Und zwar extrem. Er gilt als Verkörperung des Bösen. Er ist deshalb durchaus auch immer noch sehr bekannt, da Horrorfiguren stärker in Erinnerung bleiben als die Guten. Sauron ist doch auch viel interessanter als etwa Bilbo Beutlin. Deshalb gibt es über Moravec auch ständig Bücher, Filme, ja sogar Graphic Novels.
Der Haß auf Moravec ist meines Erachtens auch eine Art Selbsthaß oder eine spezielle Form des Fremdschämens, nach dem Motto: Wie konnte unser friedliches Volk, ein Volk der Friedenstauben, wie sich die Tschechen nämlich selbst gern nennen, so einen fiesen Bösewicht und Finsterling hervorbringen?
Moravec ist auf diesem Gebiet genauso bekannt wie die zweite große Schreckensfigur der tschechischen Geschichte: der stellvertretende Reichsprotektor Reinhard Heydrich nämlich.
Die Tschechen reden auch immer noch viel von Reinhard Heydrich und dem Attentat auf ihn im Jahr 1942. Emanuel Moravec und Reinhard Heydrich kann man da sehr gut miteinander vergleichen. Sie spielen in der gleichen Liga, der Champions League des Schreckens sozusagen, einer für Tschechien, der andere für Deutschland.
SEZESSION: In Ihrem sehr ausführlichen Nachwort zum Buch schreiben Sie, die Tschechen hätten diesen Teil Ihrer Geschichte, nämlich die freiwillige Kollaboration mit den Deutschen, keineswegs „aufgearbeitet“. Ihr Nachwort stößt in diese Lücke. Meinen Sie, es ist an der Zeit, darüber zu sprechen? Und warum? Sicher wollen Sie keinen tschechischen Schuldkult befördern.
BROUSEK: Wissenschaftlich ist die Frage der Kollaboration von tschechischer Seite natürlich schon bearbeitet worden. Historische Bearbeitung ist aber eben keine „Aufarbeitung“. Darunter verstehe ich eine bewußtseinsmäßige Durchdringung und Erfassung historischer Komplexe. Eine gesellschaftlich herrschende Meinung zu zentralen geschichtlichen Problemfeldern, die gebildet werden und sich durchsetzen muß.
Diese fehlt doch bei vielen Völkern. Denken sie einmal an das Vichy-Frankreich von Marschall Pétain, das viele Franzosen bis heute ignorieren, weil es ja nur die Résistance gegeben habe. Oder aber die Russen mit Katyn. Die wissen schon, daß sie es waren, wollen es aber nicht wahrhaben. Oder aber der Genozid der Osmanen an den Armeniern. Hier wird ja die Wahrheit in der Türkei bis heute sogar strafrechtlich verfolgt.
Die Tschechen wissen durchaus, daß sie keinen wirklich nennenswerten Widerstand gegen die deutschen Besatzer geleistet haben. Deswegen werden ja die Heydrich-Attentäter so gefeiert. Ich sehe da übrigens eine Parallele zu den Attentätern des 20. Juli. Auch diese müssen in der bundesdeutschen Erinnerungskultur Jahr für Jahr intensiv dafür herhalten, daß es gegen Adolf Hitler bis zum Schluß so gut wie keinen deutschen Widerstand gab. Womit ich beide Ereignisse als solche natürlich nicht schmälern möchte.
Die Tschechen reduzieren aber das Protektorat von 1939–1945 auf das Attentat auf Heydrich und den Prager Aufstand am 5. Mai 1945, wobei schon das späte Datum Bände spricht. Im breiten Bewußtsein der Menschen wird höchstens noch der Protektoratspräsident Emil Hácha als tragischer alter Mann gesehen. Die im Protektorat durchaus vorhandene und gar nicht geringe Kollaboration von tschechischen Beamten, Journalisten, Künstlern und sogar Soldaten wird ausgeblendet, ist vielen Leuten gar nicht bekannt. Nur Moravec eben, der aber als Figur aus dem Gruselkabinett gilt. Das ist jedoch unrichtig. Moravec stand nicht allein.
Über solche Dinge muß gesprochen werden, weil man historische Wahrheiten immer erkennen und anerkennen muß. Mit Schuldkult hat das gerade nichts zu tun. Ein aufrichtiges Mea culpa ist eben kein Kult. Es genügt, wenn man es ernst meint, dann wird einem verziehen. Nur in Deutschland wird alles so schrecklich breitgetreten, institutionalisiert und instrumentalisiert.
SEZESSION: Apropos „Aufarbeitung“: Das Verhältnis zwischen Deutschland und Tschechien war schon immer ein besonderes – vor allem durch das Sudetenland, die gemeinsame Grenze und die Historie. Auf der politischen Rechten sind die sogenannten wilden Vertreibungen natürlich noch immer irgendwie ein Thema – nicht zuletzt aufgrund der Familiengeschichten. Wie wird mit diesem Thema in Tschechien umgegangen?
BROUSEK: Das Thema der „wilden“ Vertreibungen der Sudetendeutschen im Jahr 1945 wird in Tschechien leider sehr ungenügend behandelt. Ich kenne jüngere („einfache“) Leute, die darüber nichts oder so gut wie nichts wissen. Ich kenne auch ältere Menschen, die darüber nicht reden wollen oder aber es bis heute gerechtfertigt, normal und richtig finden. Die meisten Tschechen denken darüber aber lieber nicht nach, weder positiv noch negativ.
Man sagt nur, „früher, als die Deutschen da waren“, mehr nicht. Als wäre das eine Art Naturereignis gewesen, das sich im Mai 1945 ereignet hat. Ein Naturereignis wie zum Beispiel Hagel oder Hochwasser kann man ja auch nicht wirklich bewerten. Es passiert eben.
Ich denke auch, daß sich daran im tschechischen Bewußtsein nichts mehr ändern wird. Wenn es bis heute nicht wirklich aufgearbeitet wurde, wird es so lange Zeit danach auch nicht mehr erfolgen. Wozu? Tempi passati.
Wohlgemerkt meine ich hierbei nicht offizielle oder halboffizielle Veranstaltungen von kultureller, politischer, christlicher oder sonstiger Seite, ich meine wiederum nur das normale Volk. Das will nichts davon wissen.
SEZESSION: Und was denken Sie als jemand, der sozusagen zwischen den Stühlen sitzt, über Schuld, Sühne und Vergebung? Gibt es einen gemeinsamen Weg in die Zukunft?
BROUSEK: Sie haben völlig recht. Ich sitze ja leider wirklich auf zwei Stühlen oder dazwischen oder auf keinem Stuhl richtig.
Die Vertreibung 1945 war historisch ein großes Verbrechen. Das tschechische Volk hat sich damit noch weiter nach Osten katapultiert als schon 1918 bei Gründung der Tschechoslowakei. Aber auch, wenn ich mich damit unbeliebt mache: Wie hätte Beneš diesen Konflikt lösen sollen? Es bot sich der Tschechoslowakei nach Kriegsende die einmalige Chance einer Lösung dieser historisch verfahrenen Lage. Sie brachte eine definitive Befriedung. Beneš hatte sich ja die Aussiedlung der Griechen aus der Türkei in den Jahren 1921–1923 als historisches und juristisches Vorbild genommen. Auch diese war ahistorisch, grausam, aber aus heutiger Sicht erfolgreich.
Ich denke, es gibt in der Geschichte bei Großereignissen kein richtig oder falsch. Es gibt nur Ereignisse, die ex post so oder so bewertet werden können. War die Eroberung Konstantinopels 1453 ein Verbrechen? War die Verbrennung von Jan Hus 1415 in Konstanz kanonisch gerechtfertigt? War die Absetzung Mussolinis durch den Großen Faschistischen Rat 1943 ein Putsch oder ein Befreiungsakt? Wir könnten die Liste unendlich fortsetzen.
Schuld und Sühne ist mir zu sehr Dostojewski. Historisch gibt es keine Schuld an Ereignisses, es gibt nur klare Verbrechen: den Holocaust, den Holodomor, die Gulags, die Killing Fields usw. Für Verbrechen gibt es nur Strafe und/oder Vergebung. Vergebung kann aber nur das Opfer selbst gewähren. Dafür ist im Hinblick auf die gesamten Ereignisse in der deutsch-tschechischen Geschichte 1938–1945 nunmehr aber zu spät.
Auf jeden Fall gibt es einen gemeinsamen Weg von Tschechen und Deutschen in die Zukunft. Ohne alle Probleme und ohne diese ganzen schweren Belastungen aus unserer gemeinsamen Geschichte. Einfach nur, weil die meisten jungen Menschen hüben wie drüben sich für diese Dinge nicht mehr wirklich interessieren. Das ist zwar etwas armselig im Ergebnis, aber befreiend.
Es gehen so Schuld, Sühne und Vergebung verloren. Wir werden sie nicht mehr brauchen. Es geht aber auch das gemeinsame historische Bewußtsein verloren, das Bewußtsein dafür, daß das tschechische und das deutsche Volk seit der Taufe der 14 böhmischen Fürsten im Jahr 845 in Regensburg historisch und kulturell eng miteinander verbunden waren. Jedenfalls bis Mai 1945.
Und gemessen an diesen 1100 Jahren sind Figuren wie Emanuel Moravec oder auch Reinhard Heydrich dann doch eher marginal.
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Emanuel Moravec: Das Ende der Beneš-Republik, übersetzt von Antonin Brousek. Jungeuropa 2023, hier einsehen und bestellen.
RMH
"Auf der politischen Rechten sind die sogenannten wilden Vertreibungen natürlich noch immer irgendwie ein Thema – nicht zuletzt aufgrund der Familiengeschichten."
Oh ja! Heute war sog. Volkstrauertag. Da hätte ich mir auf SiN ein anderen Beitrag gewünscht, als dieses Interview (das hätte ich einen Tag oder ein paar Tage später online gestellt). Die Kollaboration interessiert deutlich weniger als das, was an Terror und Mordbrennerei dann 45 an den Deutschen geschehen ist. Die Kollaboration spielt hier allenfalls als Motiv eine Rolle, sich mit dem Blut der alten "Herren" rein zu waschen, mit vermeintlich "berechtigter" Rache sich als Opfer darzustellen und bei den neuen Herren als zuverlässig zu präsentieren, aber die Kollaboration war sicher kein tragendes und auch kein alleiniges Motiv für die Verbrechen, die ab 45 geschehen sind. Und zu einer Historisierung gehört auch eine Aufklärung darüber, was genau mit den Opfern passiert ist. Viele haben nicht einmal ein Grab, sind nur verscharrt oder am Wegesrand verwest.