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Ich werfe erneut die Frage auf, welches Werte-Fundament, welche Tugenden, welche Weltanschauung einer (ge)rechten Pflege zugrunde liegen sollten. Als mögliche Antwort bringe ich den Begriff einer menschengemäßen Pflege ins Spiel – mithin einer ganzheitlich ausgerichteten und den Funktionsbedingungen des menschlichen Organismus entsprechenden Pflege, die mehr ist als die reine Versorgung.
Grundsätzlich gilt es, die unterschiedlichen Ebenen und Kategorien gedanklich zu trennen. Gepflegt zu werden stünde per se und abstrakt betrachtet jedem Erdenbürger zu (ähnlich Trinkwasser und Nahrung). Daraus leitet sich aber selbstverständlich kein konkreter Anspruch ab, dieses alles in einem Land seiner Wahl zu bekommen.
Eine solchermaßen abstrakte Betrachtungsweise griffe zu kurz. Umsetzbar erscheint diese Art von Pflege nur innerhalb einer klar definierten Solidargemeinschaft. Lothar Fritze (Der böse gute Wille) folgend ist ein Sozialstaat am ehesten im Nationalstaat umsetzbar.
Der Umgang mit den eigenen Alten und Hilflosen sei ein Spiegelbild dessen, was wir von uns selbst halten, zugleich ließe sich daran die Kultur eines Staates erkennen, war in den Kommentaren zum vorherigen Beitrag zu lesen. Ebenso wurde herausgestellt, daß Menschen keine Wertpapiere sind und so auch nicht behandelt werden sollen. Nur die Kultur könne der Unmenschlichkeit, welche sich in der Barbarei der Natur ausdrückt, Einhalt gebieten.
Das bedeutet nach meinem Verständnis: eben kein „Survival of the fittest“, sondern Mitmenschlichkeit im Sinne einer caritas und keine rein materialistische Betrachtungsweise, da unmittelbar existenzielle Bedürfnisse von Angehörigen des eigenen Volkes berührt sind.
Es geht beim Thema Pflege eben nicht um irgendwelche Gegenstände, daher ist eine bloße ökonomische bzw. monetäre Sichtweise nicht angemessen und nicht menschengemäß.
Der Grundkonsens – einen anderen Menschen so zu behandeln, daß ich sein mir fremdes Wollen (zumindest) verstehen will – sollte bestehen. Denn dies erst ermöglicht ein ausgeprägtes soziales Miteinander innerhalb einer Solidargemeinschaft (Volk) jenseits pekuniärer Interessen und Vorteile.
Die Überalterung der Ureinwohner Deutschlands ist ein demographischer Fakt, welcher die BRD-Bevölkerung demnächst unsanft treffen wird. Wir werden in Deutschland zukünftig nicht nur weniger junge Menschen haben, die die Alten pflegen können – wir werden auch weniger familiäre Unterstützung haben, was einen größeren professionellen Pflegebedarf zur Folge haben wird. Dies wiederum wird eine nicht zu unterschätzende finanzielle Herausforderung, denn gute Pflege kostet Geld.
Dabei hat der heutige Pflegenotstand seine Ursache in einer seit Jahrzehnten verfehlten Politik. Die Ökonomisierung im Gesundheitswesen führte dazu, daß Pflege als Kostenfaktor gesehen wird – statt als Teil familiärer und/oder staatlicher Daseinsvorsorge. Denn in diesem personalintensiven Bereich stellt die größte Berufsgruppe im Gesundheitswesen logischerweise den größten Kostenfaktor dar.
Möchte man als Krankenhaus-Aktiengesellschaft oder Pflegeheim-GmbH seine Gewinne maximieren, so kann man dies am einfachsten tun, wenn man beim Personal spart – a) der Anzahl nach und/oder b) der Qualifikation nach. Neben der Ökonomisierung führte die mangelnde politisch-gesellschaftliche Wertschätzung zur Abwertung des Berufes. Volker Beck, damals migrationspolitischer Sprecher der Grünen, rechtfertigte unwidersprochen in einer bundesdeutschen Talkshow auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise die Aufnahme von Analphabeten mit folgender Aussage: „Wir brauchen zum Beispiel viele Leute in der Pflege, da braucht man keine hohe Schulbildung.“
Wenn dies gesellschaftlicher Konsens ist, sollte man sich über einen Mangel an Pflegekräften nicht wundern. Übrigens gilt in Pflegeheimen eine Fachkraftquote von 50%, d.h. wir akzeptieren, daß bei der Versorgung von Menschen nur die Hälfte der Beschäftigten dies gelernt hat. Würden wir unser Auto in eine Werkstatt geben, wo draußen dran steht, daß sich dort nur die Hälfte mit Autos auskennt – oder würden wir einer Bank unser Geld anvertrauen, wo nur 50% eine Ausbildung haben?
Diese beiden Tendenzen – Ökonomisierung und mangelnde Wertschätzung – führten zu einem Mangel an Pflegekräften ihrer Anzahl und ihrer Qualifikation nach. Somit sank das Niveau der pflegerischen Versorgung. Diese implizite Rationierung ist wissenschaftlich belegt.
In bundesdeutschen Krankenhäusern werden durchschnittlich pro Schicht (!) fünf notwendige Pflegemaßnahmen weggelassen. Besonders häufig werden rationiert: Zeit für Zuwendung und Gespräche; Beratung und Anleitung von Patienten und Angehörigen; Erstellen bzw. Erneuern der Pflegeplanung. Mithin wird der eigentliche Kern pflegerischer Arbeit fortgelassen, weil man hierzu keine Zeit hat. Das führt zur Frustration und zur Berufsflucht der letzten motivierten Pflegekräfte, da sie nicht das tun können, was sie erlernt haben. Aktuell beträgt die durchschnittliche Verweildauer im Beruf 5–7 Jahre.
Dieser Teufelskreis kann durchbrochen werden. Jedoch werden wir ein pflegerisches Tal durchschreiten, bis es wieder besser wird. Denn jahrzehntelange verfehlte (Pflege)Politik bedarf einer längeren Heilung.
In einem ersten Schritt sind folgende Maßnahmen denkbar: Einführung verpflichtender Dienstmonate (mindestens 6) für alle; Pflege als Teil staatlicher Daseinsvorsorge statt als Markt organisieren; Gehalt für pflegende Angehörige festlegen und einführen.
Diese Maßnahmen sind letztlich innerhalb der bestehenden Strukturen umsetzbar und könnten Teil eines Paradigmenwechsels sein: Teil eines anderen, menschengemäßen Systems, welches vom einzelnen Menschen (als Mitglied der Solidargemeinschaft) her denkt und die Dichotomie zwischen gesund und krank zugunsten des Salutogenese-Konzepts aufgibt. Dafür wäre allerdings ein langwieriger Um- bzw. Rückbau gleichsam vom Kopf auf die Füße notwendig. Es wäre eine echte „Systemfrage“ – umfassend ganzheitlich statt symptomorientiert.
Dann könnten wir als Eltern freudig und stolz reagieren, wenn unsere Kinder den Berufswunsch „Pflegekraft“ äußern, und würden uns ein „Bist Du Dir da sicher?“ oder „Überleg doch noch mal…“ verkneifen.
RMH
a) "d.h. wir akzeptieren, daß bei der Versorgung von Menschen nur die Hälfte der Beschäftigten dies gelernt hat."
b) "Einführung verpflichtender Dienstmonate (mindestens 6) für alle;"
Hier sehe ich einen leichten Wertungswiderspruch zwischen a) und b), der m.M.n. nur dadurch auflösbar ist, in dem man anerkennt, dass man viele, die Profis entlastende Tätigkeiten, auch durch kurzeitig angelernte Kräfte ausführen lassen kann und dass dieser Umstand nichts über die Gesamtqualität einer Pflege aussagt. Im Übrigen stimme ich den Ausführungen zu, plädiere für ein Pflegegeld analog zum Kindergeld für pflegende Angehörige und würde ergänzend noch aufnehmen, dass man selbstverständlich auch alle sich bietenden technischen Möglichkeiten bis hin zu Pflegerobotern ins Programm aufnehmen sollte. Ich persönlich fände es bspw. wesentlich diskreter und meinem Schamgefühl entsprechender, wenn es mal einen Roboter gäbe, der mir im Pflegefall bei meinen allzumenschlichen Bedürfnissen hilft und man dafür keinen Menschen mehr braucht. Man bedient sich zu Lebzeiten aller möglichen technischer Hilfsmittel und wenn es solche für das Alter gibt, hebt das das eigene Autonomiegefühl und stärkt die eigene Würde mehr, als wenn man für alles eine helfende, menschliche Hand braucht. Japan & Korea entwicklen viele Hilfen für das Alter. Das darf nicht tabuisiert werden.