Die Menschenwürde gilt nicht erst vor den fernen Küsten Nordafrikas bei der sogenannten Seenotrettung, sondern bereits im Altenheim um die Ecke beim langen Warten auf die Pflegekraft, welche endlich etwas gegen die Schmerzen bringt oder die volle Hose wechselt.
Nehmen wir das GG ernst und betrachten wir den Teilaspekt „unabhängig vom Alter“.
Pflege im Alter und der Umgang mit alten Menschen spielen in „rechten“ Gedankengebäuden keine ernstzunehmende Rolle. Doch berührt dieser Aspekt in besonderen Maße unsere Gedanken- und Lebenswelt, nämlich als Teil unserer Geschichte und damit unserer Herkunft.
Diese Alten, die es jetzt und in Zukunft zu betreuen und zu pflegen gilt, waren jene, die als Soldaten im Felde standen, in der Heimat den Bombenterror erlebten, eventuell Flucht und Vertreibung überstanden und Vergewaltigungen über sich ergehen lassen mußten. Sie erlebten Hunger, Leid und Tod und bauten nach dem Krieg unser Land dennoch wieder auf. Sie machten das Wirtschaftswunder möglich, von dessen Resten wir noch heute zehren.
Heute sind diese Männer und Frauen hochbetagt und brauchen Hilfestellungen bei den Dingen des täglichen Lebens, einige sind bettlägerig und benötigen professionelle Pflege. Doch bekommt jeder Alte die Unterstützung, die er braucht und ist diese würdevoll?
Problematisch aus Sicht der Pflege und Betreuung alter Menschen wird in den nächsten Jahrzehnten der oft zitierte demographische Wandel. Die Umkehrung der Alterspyramide führt erstmals zu der Situation, daß es mehr alte als junge Menschen in Deutschland geben wird. Durch den medizinischen Fortschritt und andere Faktoren werden die Alten immer älter und damit aller Voraussicht nach immer pflegebedürftiger.
Heute sind die jungen Menschen im allgemeinen mobiler bzw. wird dies von ihnen „jobtechnisch“ verlangt, was zu einem örtlichen Auseinanderreißen der Familien führt. In einigen Städten und Dörfer der sogenannten „östlichen“ Bundesländer fehlen ganze Kohorten junger Menschen, die Alten bleiben zurück.
Wir werden in Deutschland zukünftig also nicht nur weniger junge Menschen haben, die die Alten pflegen können – wir werden auch weniger familiäre Unterstützung aus oben genannten Gründen haben, was einen größeren professionellen Pflegebedarf zur Folge haben wird. Dies wiederum wird eine nicht zu unterschätzende finanzielle Herausforderung. Irgendwer wird die Alten ja betreuen müssen. Und wenn dies nicht mehr im Familienverbund erfolgen kann, so müssen dies professionell Pflegende tun, die auch gern einen anständigen Lohn erhalten möchten und vernünftige Arbeitsbedingungen reklamieren, um wiederum ihre Familien ernähren zu können bzw. für diese da zu sein.
Wie unter den genannten Bedingungen eine Pflege mit Würde möglich sein soll, erscheint als Quadratur des Kreises. Gute Pflege kostet Geld. Die Frage ist, ob wir als Gesellschaft uns diese leisten wollen.
Gut ausgebildete Pflegekräfte fehlen schon heute. Auf der anderen Seite sind viele professionell Pflegende nicht mehr im Beruf tätig, weil die körperlichen und seelischen Belastungen zu groß und die Arbeitsbedingungen inakzeptabel sind. Doch unsere Politiker und die Arbeitgeberverbände haben auch in der Pflege das Allheilmittel längst entdeckt: Die Anwerbung von ausländischen Fachkräften insbesondere aus Osteuropa und Asien soll das Problem quasi wegzaubern oder doch wenigstens in die nächste Legislaturperiode verschieben.
Daß dadurch in diesen Ländern ein pflegerischer „Brain-drain“ stattfindet und die guten Pflegekräfte dann dort in der Versorgung fehlen, nimmt man billigend in Kauf, zumal sich dieser Makel mit ein paar Millionen mehr an Entwicklungshilfe wieder ausgleichen läßt.
Doch lösen ausländische Pflegekräfte das Problem?
Ein großer Unterschied zu anderen Dienstleistungen ist, daß Pflege nicht nur eine „Face-to-face“- sondern auch „Body-to-body“-Aktivität ist. Bei der pflegerischen Arbeit spielen Sprache und Körperlichkeit zusammen eine große Rolle. Idealerweise mündet dieses Zusammenspiel in Vertrauen, Geborgenheit und Schutz, also einer Pflege in Würde.
Es fällt einheimischen Pflegekräften schon schwer, sich in die Situation der heute Hochbetagten zu versetzen und ihre Biographie zu berücksichtigen, bzw. es bedeutet viel Hingabe, Zeit und Kompetenz, diese zu ergründen. Schließlich haben sich die Zeiten und Lebensweisen geändert, es klafft heute zwischen den Generationen eine größere technische und weltanschauliche Lücke als in den Jahrzehnten zuvor. Dennoch wissen einheimische Pflegekräfte noch eher über ihre eigene heimische Geschichte und deren Irrungen und Wirrungen Bescheid. Sie können somit besser gewisse Verhaltensweisen der heute Alten verstehen und darauf empathischer reagieren, da sie Teil des Eigenen sind. Ein paar selbst erlebte Erfahrungen aus dem Pflegealltag sollen dies verdeutlichen.
Beispiel 1: Frau K. ist 90 Jahre alt. Sie ist dement und lebt im Altenheim. Sie ist bettlägerig, inkontinent und benötigt eine komplette pflegerische Unterstützung. Auf der Station arbeiten viele Pflegekräfte aus Osteuropa, auch männliche. Auffällig ist, daß Frau K. sich bei der Intimpflege wehrt, sie schlägt um sich und schreit. Oftmals müssen die Pflegekräfte gegen sie arbeiten, um ihr die Schutzhose („Windel“) wechseln zu können. Besonders ausgeprägt ist dieses Verhalten nachts, wenn Pfleger Iwan Dienst hat, der nur gebrochen Deutsch spricht. Da Frau K. verwirrt ist, wird dieses Verhalten ihrer Demenz zugeschrieben und nicht weiter beachtet, die Patientin gilt als schwierig und aufwendig. „In der Pflegeversicherung sollen geschlechtsspezifische Unterschiede bezüglich der Pflegebedürftigkeit von Männern und Frauen und ihrer Bedarfe an Leistungen berücksichtigt und den Bedürfnissen nach einer kultursensiblen Pflege nach Möglichkeit Rechnung getragen werden.“ (SGB XI §1 Abs.4a) Das Verhalten, welches Frau K. an den Tag legt, läßt sich verstehen, wenn man diesen Grundsatz des SGB XI ernstnimmt und Biographiearbeit leistet. Was Frau K. mit ihren 90 Jahren tagtäglich im Pflegeheim erlebt, ist eine Retraumatisierung. Sie durchlebt jedes Mal ihre als junge Frau erlebte Vergewaltigung durch russische Soldaten.
Jahrelang war das Trauma zugeschüttet und vergessen, schließlich mußte das Leben nach der Vertreibung aus Schlesien ja weitergehen. Sie mußte stark sein wegen ihrer Kinder, der Mann blieb im Felde. In ihrer Demenz bricht das verschüttete Trauma wieder auf. Das Langzeitgedächtnis funktioniert bei Demenz ja noch, nur das Kurzzeitgedächtnis ist hinüber. Dazu kommen jetzt die Handlungen und Situationen, die die Retraumatisierung auslösen können: männlicher slawischer Akzent; nachts; sanfte Gewalt bei der Intimpflege, da Frau K. sich ja dagegen wehrt; als Reaktion darauf ein „Stellen Sie sich nicht so an“ des gestreßten Pflegers. Hier sollte deutlich werden, daß kultursensible Pflege keine Einbahnstraße ist. Man darf auch der eigenen Kultur und Geschichte gegenüber sensibel sein! So wie die resolute Schwester Gertrud, selbst Kind Vertriebener, die solche Schicksale aus dem eignen Familienkreis kennt. Sie geht mit den Angehörigen von Frau K. ins Gespräch, spürt Frau K.s Biographie auf, deutet ihr Verhalten richtig und organisiert eine Bezugs- und Beziehungspflege für Frau K. Das Schlagen und Schreien wird weniger, Frau K. wirkt nicht mehr so verängstigt.
Beispiel 2: Hubert und Hannelore L. sind seit 60 Jahren verheiratet und leben in ihrem Reihenhaus. Beide sind multimorbid und benötigen Unterstützung bei der Körperpflege und im Haushalt. Beide sind noch per Rollator mobil, kleine Spaziergänge im Ort sind möglich. Ihre Söhne sind berufstätig, einer lebt mit seiner Familie weit weg, der andere ist zwar im Ort, kann sich aber als selbständiger Handwerker kaum um seine Eltern kümmern. Die Rente des Ehepaares ist gering, Erspartes ist kaum vorhanden, das meiste Geld haben sie in ihr Haus gesteckt. Herr L. hat Pflegestufe 1, seine Frau Pflegestufe 2, das Geld daraus reicht nicht aus, um den ambulanten Pflegedienst inkl. Haushaltshilfe zu bezahlen. (Von Beginn an war die Pflegeversicherung als „Teil-Kasko-Versicherung“ konzipiert, doch haben die Politiker „vergessen“, dem Wähler dies zu sagen.)
Deswegen wird über eine Agentur eine 24-Stunden-Kraft aus Polen organisiert, die mit im Haus wohnt und die Pflege und hauswirtschaftliche Versorgung der Alten übernimmt. Eine pflegerische Ausbildung hat diese Dame nicht. Dafür ist sie aber insgesamt günstiger als der ambulante Pflegedienst, welcher bisher dreimal täglich zum Ehepaar L. kam. Die Söhne haben ein gutes Gefühl: Es ist jetzt jemand 24 Stunden vor Ort, und Geld wurde auch noch gespart. Fortan wird im Hause L. gebrochen Deutsch gesprochen, es gibt polnisches Essen, polnische Schlager liegen in der Luft. Insgesamt zieht sich das Ehepaar L. immer mehr zurück, sie reden des öfteren über das Sterben. Die Söhne haben wenig Verständnis für das von Anfang an aufkommende Klagen der Alten gegen die neue Hilfskraft. Sie sollten mehr Dankbarkeit zeigen! Sie seien doch jetzt besser versorgt. Die Alten resignieren und ergeben sich in ihr Schicksal, sie sind nicht mehr Herr im eigenen Haus, sie wurden das zweite Mal aus ihrer Heimat vertrieben. Beide stammen aus einem kleinen Ort in Niederschlesien und wurden 1947 der angestammten Heimat verwiesen. Auch hier findet eine erneute Traumatisierung statt, es wird erneut eine Machtlosigkeit erlebt. Nur jetzt sind sie alt, haben keine Kraft mehr, können nicht nochmal von Neuem anfangen.
Diese zwei Bespiele sollen aufzeigen, daß eine würdevolle Pflege oftmals an der eigenen Geschichtsvergessenheit scheitert. Oder anders formuliert: Die Tabuisierung gewisser geschichtlicher Wahrheiten und der eigene anerzogene Schuldkomplex können zu einer menschenunwürdigen und krankmachenden Pflege führen. Hier hat die Verachtung des Eigenen unmittelbaren Einfluß auf die körperliche und seelische Gesundheit.
Wie diese Dinge ein zwar gut ausgebildeter, jedoch kulturfremder Pfleger aus Indonesien erkennen, verstehen und beheben soll, bleibt fraglich. Unser Menschenbild beruht auf der Einheit von Körper und Geist, weswegen wir eine reine verrichtungsorientierte Pflege ablehnen müssen. „Satt und sauber und Hauptsache nicht gestorben“ ist nicht unsere Forderung, wir wollen unserem Volk eine adäquate Pflege anbieten. Denn wir empfinden noch Empathie für das Eigene.
Franz Bettinger
Ich will als alter Mensch nicht in ein Seniorenheim. Ich möchte meine eigenen 4 Wände um mich haben bis zum Schluss. Das wäre die beste Lösung für Alte. Es ist leider Mode geworden, die alt Gewordenen los zu werden und deren Haus zu vermieten oder selbst zu bewohnen. Es ist, außer für die Abgeschobenen, ja so bequem. Wir sollten hier auf SiN wenigstens die Alternative erwähnen, die außerhalb D’s, z.B. auch in Italien, noch Tradition hat: Dass die Kinder für ihre alten Eltern da sind bis zu deren Tod. (Mein Bruder und ich hatten uns in dieser Aufgabe abgelöst. Ich war sehr froh darum.)