Unser Autor Ivor Claire hielt im Rahmen der Rußland-Akademie Mitte Februar einen Vortrag zum Thema “Rußland und wir. Eine geostrategische Skizze”. Dieser Vortrag war Teil des Entromantisierungsprogramms, das der Tagung die Grundstimmung gab. In der anschließenden Diskussion wurde unter anderem die Frage gestellt, ob sich Deutschland nicht aus der Nato entfernen solle. Die Antwort war schroff: Ob man nicht zugehört habe, ob man nicht verstanden habe, daß mit den Beständen zu rechnen sei, nicht mit feuchten Träumen.
Im Grunde war das auch eine vorweggenommene Antwort an die vier Luftwaffenmanager in Uniform, die über ungeschützte Leitungen Stratego spielten. (Von Armin Mohler stammt übrigens der Spruch, daß sich in solchen Situationen und nach solchem Dilettantismus früher wenigstens einer der Beteiligten in einer Ecke leise weinend mit seiner Dienstwaffe erschossen hätte. Wir aber hören, es sei nichts passiert und es solle planmäßig befördert werden …)
Hier nun Claires Vortrag in der gekürzten Fassung, die auch in der 118. Sezession abgedruckt ist. Die Video-Version des Vortrags kann nicht gezeigt werden. Eine technische Panne machte die Aufnahmen unbrauchbar.
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»Darf Rußland eine europäische Macht im bisherigen Sinne bleiben, oder darf es das nicht, wenn unsere Zukunft sicher sein soll?« Der baltendeutsche Theologe und ethische Kulturimperialist Paul Rohrbach, der diese Frage 1915 aufwarf, forderte ohne Umschweife, ein für allemal »mit der Bedrohung Deutschlands und der europäischen Kultur durch das östliche Barbarentum« ein Ende zu machen.
»Ohne die Ukraina ist Rußland nicht Rußland, hat es kein Eisen, keine Kohle, kein Korn, keine Häfen! Wenn einer Rußland niederwerfen will, wohin muß er marschieren? […] Alles große Leben in Rußland muß versiegen, wenn ein Feind die Ukraina packt«. Im »Großen Krieg« hoffte Rohrbach darauf, »daß Rußland sich auseinandernehmen läßt wie eine Apfelsine«, und propagierte daher als Kriegsziel die »Zerlegung des russischen Kolosses in seine natürlichen, geschichtlichen und ethnographischen Bestandteile«.
Freilich ging er damals von Deutschland als kontinentaler Großmacht aus, die sich nach dem siegreichen Krieg durch einen Kordon unabhängiger Staaten wie Weißrußland, Ukraine und Polen sowie ein deutsch beherrschtes Baltikum ostwärts absichern und das auf die »Moskowiter« reduzierte Rußland nach Asien abdrängen sollte.
Ihm widersprach der in Berlin lehrende sächsische Historiker Otto Hoetzsch, der Begründer der deutschen Osteuropaforschung: Es sei »kein Zeichen politischer Reife«, wenn schon kurz nach Kriegsausbruch »hochstehende Männer unseres Geisteslebens […] das russische Reich auflösten, wie man Blätter einer Artischocke abpflückt«. Er gelangte zwar nach sorgfältiger Analyse der sozioökonomischen und politischen Verhältnisse des Zarenreichs zum Befund, dieses lasse sich militärisch durchaus besiegen, sei aber nicht zu unterschätzen, weshalb man sich in der Formulierung von Kriegszielen zurückhalten müsse.
Die Entwicklung sollte ihm recht geben; angesichts der auch nach dem Krieg dem Reich nicht wohlgesinnten Westmächte avancierte Hoetzsch in der Zwischenkriegszeit, aus einer Position der Machtlosigkeit heraus, folgerichtig zum zentralen Befürworter eines deutsch-sowjetrussischen Ausgleichs gegen die Hegemonie der westlichen Seemächte, bis er dann unter Hitlers Regierung als »Kulturbolschewist« denunziert und kaltgestellt wurde. Die Konsequenzen der weiteren nationalsozialistischen Rußlandpolitik sind bekannt.
Hundert Jahre später, im Jahr 2015, sprach der Amerikaner George Friedman, der Gründer der strategischen Beratungsgesellschaft Stratfor, vor dem Chicago Council on Foreign Affairs über sein gerade publiziertes Buch zur Krise Europas. Friedman, der über die politische Philosophie der Frankfurter Schule promoviert hat, stammt selbst aus Ungarn, hat aber seinen politischen Standort und Standpunkt längst in den USA gewählt.
Bekanntheit erlangte seine Rede, weil er unverblümt aussprach, daß es stets das Ziel der amerikanischen Politik in Europa gewesen sei und bleibe, ein Zusammengehen von Deutschland und Rußland zu verhindern: »German technology and German capital, Russian natural resources, Russian manpower« sei die einzige Kombination, die den Vereinigten Staaten immer Angst eingejagt habe.
Auf die Frage einer kroatischen Geschichtsstudentin, wie er sich denn Europa vorstelle, wenn Rußland als europäische Macht kollabierte – für sie »ein angsteinflößendes Szenario« –, antwortete er, die amerikanische Lösung liege im Intermarium. Dies definierte er als eine der russischen Dominanz entzogene Zone von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer, von der nicht nur der deutsche Imperialist Rohrbach, sondern auch Polens Marschall Piłsudski in den 1920er Jahren geträumt hatte – der allerdings wollte Polen als Vormacht gegen Deutschland und Rußland etablieren.
Ein »Cordon sanitaire«, auch diesen Ausdruck aus jener Zeit führte Friedman wörtlich an, müsse die Beziehungen zwischen Rußland und Europa im amerikanischen Sinne ordnen. Zuvor hatte er mit Blick auf den 2014 im Donbass aufgeflammten Konflikt und die russische Annexion der Krim ausgeführt, ein zumindest neutraler Status der Ukraine sei allerdings für die Russen eine existentielle Notwendigkeit.
Den entscheidenden und unbekannten Faktor hinsichtlich dieser Szenarien bilde indessen die »deutsche Frage«: »Nun, wer auch immer mir sagen kann, was die Deutschen zu tun beabsichtigen, wird mir die nächsten zwanzig Jahre Geschichte darlegen. Unglücklicherweise aber haben sich die Deutschen noch nicht entschieden, und das ist immer Deutschlands Problem: wirtschaftlich überaus stark, geopolitisch sehr fragil, und nie wissen sie genau, wie sie das beides unter einen Hut bringen können. Seit 1871 ist dies die deutsche Frage gewesen, die Frage Europas. […] Denken Sie über die deutsche Frage nach, denn sie kommt jetzt wieder hoch, das ist die nächste Frage, der wir uns zuwenden müssen.«
Manche Prognose Friedmans erwies sich als falsch, so seine 1991 verkündete Vision vom kommenden Krieg zwischen den USA und Japan; seine Antwort auf die Frage jener Kroatin jedoch führt uns klar vor Augen, welcher Sprengstoff einer geostrategischen Beurteilung Rußlands aus deutscher Sicht innewohnt: Spricht man in Deutschland über Rußland, darf man nie vergessen, daß dies von den Amerikanern unter genannter Prämisse genau observiert wird. Kommen die Deutschen hier zu einer Lagebeurteilung und politischen Weichenstellung, die dieser Prämisse ihres Hegemons zuwiderlaufen, ist mit dessen Eingreifen in allen möglichen Formen zu rechnen.
Dennoch gilt es, gerade aus europäischer Sicht und Erfahrung, grundsätzlich zu bedenken, was der Philosoph Wilhelm Goerdt, der erst 1956 als einer der letzten deutschen Soldaten aus russischer Kriegsgefangenschaft heimgekehrt war, mit Blick auf ebendieses Rußland forderte, das damals als Feind hinter dem »eisernen Vorhang« des Kalten Kriegs lag: Es dürfe »das Verhältnis eines Europäers zu einem anderen Teil Europas, nämlich Rußland, nicht negativ sein oder werden« – eine »richtig und echt ›gefühlte und geahnte Differenz‹« sei »nicht in emotionaler Abwehr oder auch Zustimmung als ewige Fremdheit« zu fixieren. Vielmehr müsse sie »als Differenz erkannt, als Unterschied in Europa gesehen werden, um dessen Einheit klar darstellen zu können.«
Sprechen wir heute als Deutsche über Rußland, sollte unsere erste Prämisse also eine europäische sein: die Definitionsmacht nämlich, was zu Europa zu rechnen sei, nicht außereuropäischen Mächten zu überlassen. Daß die noch immer bis zur Beringstraße reichende Rußländische Föderation mit ihrem politischen Kerngebiet in all ihren Eigenheiten schlicht zu Europa gehört, ist schon kulturhistorisch durch jahrhundertalte enge Verflechtungen evident. Geographisch ist die Grenze zur asiatischen Landmasse sowieso eine wandelbare Setzung, kein Meer trennt und verbindet hier die Kontinente, im Positiven wie im Negativen.
Geht es nun um eine strategische Beurteilung Rußlands von einem deutschen und damit in Europa verorteten Standpunkt, sollte man sich an eine weitere Prämisse halten, die Karl Haushofer 1934, leider vergeblich, so formuliert hatte: Man muß »die Sowjets als möglichen Freund, Gegner oder lachenden Dritten zeigen, wie sie wirklich sind, nicht wie sie von der eigenen ›Propaganda‹ oder von haßerfüllten Verkleinerern übersteigert oder abgeschwächt gezeigt werden«.
Dabei sind die klassischen geopolitischen Faktoren ebenso zu berücksichtigen wie die sozioökonomischen und politischen, die militärischen und kulturellen. Allesamt sind sie dann im gegebenen Rahmen zu bewerten – der wiederum definiert sich durch die jeweiligen Bedingungen, unter denen Deutschland agieren kann. Prinzipiell lassen sich nur Grundlinien möglicher Entwicklungen seriös bedenken, denn der berühmte Zufall bleibt ein wichtiger Faktor, der in keiner Rechnung vergessen werden darf.
Langfristig wirksam sind notorische geopolitische Kenngrößen: der Raum in seiner konkreten Gestalt einschließlich der Ressourcen, seine Erschließung durch Industrie und Infrastruktur, nicht zu vergessen die Manpower, die Demographie.
Zu den mittelfristig beurteilbaren Faktoren gehören alle Elemente der politischen Gestaltung wie die Bündnispolitik, Militär‑, Rüstungs- und Wirtschaftspolitik, aber auch die Bio- und Psychopolitik.
Die Rußländische Föderation als flächenmäßig größter Staat der Welt grenzt im Norden an das arktische Eismeer, das mit der sogenannten Nordostpassage für den Schiffsverkehr, aber auch als militärisches Schlüsselgelände geopolitisch wieder sehr wichtig wird. Im äußersten Osten trennt Rußland die Beringstraße vom amerikanischen Alaska, im Südosten ist der nächste, durch die See geschiedene Nachbar Japan, an Land folgt in westlicher Richtung ein kleiner Streifen Nordkoreas, während die Grenze zu China rund 4200 Kilometer umfaßt. Dem folgen die Mongolei, Kasachstan, Aserbaidschan und Georgien als südliche Nachbarn, im Westen schließlich die Ukraine, Weißrußland, Lettland, Estland und Finnland; außerdem ist die Exklave Königsberg mit Grenzen zu Polen und Litauen zu berücksichtigen.
Ein grundsätzliches Problem Rußlands ist also nach wie vor der begrenzte Zugang zu ganzjährig eisfreien Häfen, während in der Tiefe des Raumes und dessen gewaltigen Ressourcen seine größte Stärke liegt. Die demographische Entwicklung der rund 145 Millionen zählenden rußländischen Bevölkerung ist negativ, wogegen die russische Regierung durch gezielte Familienförderung anzusteuern sucht.
Mittelfristig ist zu konstatieren, daß es Rußland unter Putin geschafft hat, sich nicht nur politisch und militärisch, sondern auch ökonomisch einigermaßen erfolgreich zu restrukturieren. Die Sanktionen seitens der USA und der mit ihnen verbündeten Staaten erhöhten seit 2014 den Druck, in eigene Kapazitäten zu investieren – mit gewissem Erfolg, wie der Jungfernflug des neuen Iljuschin-Passagierflugzeugs vermuten läßt, in dem angeblich ausschließlich Elektronik und Triebwerke aus heimischer Produktion verbaut werden.
Wir haben in Rußland überdies eine zunehmend kriegserfahrene, innovationsfähige und atomar hochgerüstete Militärmacht, außerdem eine traditionelle Weltraum-Großmacht als europäischen Nachbarn, und auch hier wurde seit Putins Amtsantritt kräftig investiert, man denke nur an das 2016 in Betrieb genommene Kosmodrom Wostotschny im Amurgebiet nahe der Grenze zu China. Dies flankiert eine Kultur- und Psychopolitik, die einen mobilisierungsfähigen russischen Nationalismus fördert und stabilisiert.
Auch in gewöhnlich gut unterrichteten Kreisen kursiert noch immer das Stereotyp vom Russen als »Taktiker«, der zur Improvisation neige, wohingegen der Chinese als »Stratege« mit langfristiger, in Dezennien denkender Planung firmiert – dessen Projekt einer neuen globalen Seidenstraße dient seit 2013 als probates Beispiel.
Es zeigte sich jedoch, daß auch Putin ein klares strategisches Ziel hat und dieses mit chinesischen Vorstellungen zumindest auf absehbare Zeit kongruiert: die »multipolare« Machtverteilung auf der Welt, für die er auf der 43. Münchener Sicherheitskonferenz 2007 angesichts der NATO-Osterweiterung und der umstrittenen Frage einer Mitgliedschaft der Ukraine warb.
Daß dies keine taktische Einlassung war, zeigt die 2006 zusammen mit China gegründete Staatenvereinigung BRIC(S), die kontinuierlich erweitert wird und mit der New Development Bank seit 2014 auch ein Konkurrenzinstitut zu Weltbank und Internationalem Währungsfonds ausbaut. Dazu kommen Arbeiten an Alternativen zum westlich dominierten elektronischen Finanztransfersystem SWIFT in Rußland, China und Indien, um einer – inzwischen erfolgten – Aussperrung aus dem Bankenverkehr vorzubeugen und den Handel mit lokalen Währungen gegen den dominierenden Dollar voranzutreiben.
Ob dies alles von Erfolg gekrönt sein wird, bleibt offen; es zeigt aber, daß Rußland mit seiner von Putin kurz nach Amtsantritt intensivierten Kooperation vor allem mit China strategisch agiert und nicht reaktiv aus der Hüfte schießt.
Mit China kooperiert Rußland auch in der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit, verbunden letztlich in einer frienimosity, einer Mischung aus Freundschaft und Animositäten; letztere rühren von potentiellen und evidenten Interessenkonflikten vor allem in Zentralasien her. Auch dort betreibt man im übrigen mit der Eurasischen Wirtschaftsunion und der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit, einem Militärbündnis, klassische Machtpolitik, die nicht allein mit der Entfremdung vom kollektiven Westen zu tun hat.
Diese Konstellationen, mit China und Rußland als strategischem Duo im Kern, bergen tatsächlich die Möglichkeit, die globale Vorherrschaft der USA in Währung, Militär und Wirtschaftskraft durch ein Konkurrenzverhältnis mehrerer ähnlich befähigter Mächte abzulösen.
Wie solche Entwicklungen mit Blick auf Rußland nun von einem deutschen Standpunkt in Europa zu bewerten wären, hängt essentiell von seinen Rahmenbedingungen ab. Diese sind derzeit durch den Krieg in der Ukraine gesetzt, längst als Stellvertreterkrieg kenntlich.
Nach zwei Europa ruinierenden Weltkriegen kann weder ein Interesse daran bestehen, diesen Stellvertreterkrieg auf unserem eurasischen Subkontinent zu eskalieren, noch ihn in einen neuen Kalten Krieg zu überführen, da ein stabiles bipolares Patt unter den neuen globalen Konstellationen nicht zu erwarten ist.
Auch aus ökonomischen Gründen läge für die Exportnation Deutschland eine kontrollierte Kooperation mit Rußland nahe, die sich nicht in einseitige Abhängigkeit begeben dürfte.
Eine solche auch im russischen Interesse liegende europäische Koexistenz als Gegengewicht zur Abhängigkeit von China ist in der derzeitigen Lage und wohl auch im nächsten Jahrzehnt kaum möglich, da das Porzellan nachhaltig zerschlagen wurde, in Europa kein politisches Personal staatsmännischen Formats zu erkennen ist und das Interesse des westlichen Hegemons mit seiner zentralen polnischen Achse gegen ein solches Arrangement steht.
Um nicht unter die Räder dieser Achse zu geraten, hilft nur eine langfristig planende Politik der kleinen Schritte, die keinesfalls mit einer Kündigung bestehender europäischer und transatlantischer Vertragssysteme wie der EU und der NATO eingeleitet werden darf – schon aus Selbstschutz. Die Lage ist ernst.
Artabanus
Sehr interessanter Text. Insbesondere wird zumindest teilweise die semantische Trennung zwischen Russländisch und Russisch gemacht, die in Russland selbst eine große Rolle spielt. Russländer und Russen sind nicht deckungsgleich.
Im Übrigen wären Austritte aus NATO und/oder EU überhaupt nicht notwendig, um eine vernünftigere Außenpolitik zu betreiben. Die Beispiele Ungarn und Türkei zeigen doch wie es geht.