Ellen Kositza, Erik Lehnert und Götz Kubitschek sprachen über diese Liste, den Zweck solcher Zusammenstellungen und über die Auswahl des SPIEGEL im Podcast mit Christoph Berndt – hier kann man das nachhören, um die Romane geht es nach einer Stunde (genau ab 1.02.00).
Lehnert kündigte in diesem Gespräch an, man werde eine eigene Liste füllen und für jedes Jahr einen Roman benennen. Es werde Überschneidungen zur SPIEGEL-Liste geben, aber natürlich werde die Sezession-Liste leicht zu erkennen sein.
Hier ist sie nun, und in der Tat ist sie wesentlich anders. In ihr ist die Innere Emigration gewürdigt, dazu das, was 1950 bis 1980 erschien und verschüttging. Auch das, was jüngst erschien, kann anders sortiert werden.
Veröffentlicht wird in drei Teilen. Weimarer Republik und Drittes Reich 1924–1945, Nachkrieg, DDR und BRD 1946–1989, Berliner Republik bis heute 1990–2024. Nicht alle, aber die meisten Bücher sind kurz kommentiert, EL steht für Lehnert, EK für Kositza, GK für Kubitschek.
Dort, wo Ausgaben der Bücher erhältlich sind, ist auf antaios.de in einem eigenen Bücherschrank verlinkt. Weitere Links führen zu Literaturgesprächen und Videorezensionen. Der Kommentarbereich bleibt offen: Wer begründet ergänzen will, sollte das tun. Diskussionen darüber, ob solche Listen überhaupt sinnvoll sein könnten, finden keinen Platz: Sezession hielt die Arbeit für sinnvoll und hat sie geleistet.
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Weimarer Republik und Drittes Reich – 1924 bis 1945
1924 Thomas Mann: Der Zauberberg - hier bestellen
Eine Art invertierter Bildungsroman (der Held zieht nicht “hinaus”, sondern “hinein”) : Der 23jährige Hans Castorp reist für einen Kurzbesuch zu seinem Vetter Joachim Ziemßen, der sich in einem Sanatorium bei Davos kuriert. Die dort residierende Kurgesellschaft ekelt und fasziniert ihn. Zunächst wird der aufklärerisch gestimmte Demokrat, Freimaurer und Philanthrop Settembrini Castorps pädagogischer und intellektueller Meister – dann taucht ein geistiger Gegenspieler auf: der jüdische Katholik Naphta, eine auratische Figur mit Redegabe. Naptha plädiert für einen totalitären Gottesstaat. Castorps Auenthalt auf dem Zauberberg wird sich auf sieben Jahre erstrecken. Kongenial verfilmt übrigens 1981 von Hans Geißendörfer. (EK)
1925 Franz Kafka: Der Prozeß - hier bestellen
Gegen die Verfügung Kafkas entschied der Nachlaßverwalter Max Brod, die Manuskripte zu veröffentlichen. Bedenken Sie bitte, wie jemand Kafkas Roman noch einmal neu und anders lesen muß, nachdem er in die Mühlen der Justiz geriet und im anonymen Verwaltungsstaat von Tür zu Tür irrt, ohne jemals jemanden anzutreffen, der nicht nur ein Rädchen ist, sondern umfänglich Bescheid weiß. “Mauer aus Kautschuk” hat Armin Mohler das genannt: keinen Hebelpunkt finden können … (GK)
1926 Arthur Schnitzler: Traumnovelle - hier bestellen
Schnitzler, der damals schon alte Mann der „Wiener Moderne“, läßt ein Ehepaar in einer einzigen Nacht die ewigen Themen der Psychoanalyse – die Träume, das Unbewußte und die Sexualität – durchleben. 1999 kongenial verfilmt von Stanley Kubrick: Eyes wide shut. (EL)
1927 Arnold Zweig: Der Streit um den Sergeanten Grischa
Zweig war ein weltanschaulich fragwürdiger Autor, aber ein großer Erzähler. Sein pazifistischer Roman spielt im Herbst des Jahres 1917 im Land OberOst und zeigt am Schicksal eines russischen Gefangenen, wie es ist, wenn die Mühlen der Militärverwaltung einmal in Schwung gekommen sind. (EL)
1928 Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius – hier bestellen
Der Roman um einen Justizirrtum und seine Aufklärung fragt nicht nur, ob es irdische Gerechtigkeit geben kann, sondern macht daraus einen Vater-Sohn-Konflikt, der geschichtlich einiges vorwegnimmt. In einer Nebenfigur taucht der ewige Jude, das Lebensthema Wassermanns, auf. (EL)
1929 Arnolt Bronnen: O.S. – hier bestellen
Die Kämpfe um Oberschlesien nach dem I. Weltkrieg sind vergessene Geschichte. Deutsche Freiwilligenverbände sicherten deutsches Gebiet gegen den polnischen Übergriff. Zum Mythos wurde die Erstürmung des Annabergs durch das Freikorps Oberland. Die Weimarer Regierung blieb indifferent und stützte die Freiwilligen nicht. Bronnens Roman ist rasant, modern, fast schon experimentell und jedenfalls mit das Beste, was es literarisch über diese Jahre zu lesen gibt. (GK)
1930 Edwin Erich Dwinger: Zwischen Weiß und Rot – hier bestellen
Teil zwei der großen Rußland-Trilogie Dwingers: Deutsche Gefangene kommen unter der Bedingung frei, auf Seiten der zarentreuen Verbände gegen die Revolutionstruppen zu kämpfen. Dwinger gelang eine der wenigen authentischen Darstellungen des entsetzlich grausamen Bürgerkriegs in Rußland zwischen 1917 und 1922. (GK)
1931 Erich Kästner: Fabian. Die Geschichte eines Moralisten – hier bestellen
Eine Parabel auf die aus den Fugen geratene Weimarer Republik, in der die Hauptfigur vom Naivling zum Pessimisten wird, den nur seine Weltfremdheit davor bewahrt als Zyniker zu enden. Stattdessen stirbt der Nichtschwimmer beim Versuch, einen Ertrinkenden zu retten. (EL)
1932 Hans Fallada: Kleiner Mann, was nun? – hier bestellen
Fallada schildert in seinem Bestseller die Verelendung und Perspektivlosigkeit der Angestellten während der Weltwirtschaftskrise am Schicksal eines jungen Ehepaars. Kein Buch fängt diese Jahre besser ein, keines ist so unerbittlich und lakonisch, keines schaut genauer hin. (EL)
1933 Franz Werfel: Die vierzig Tage des Musa Dagh – hier bestellen
Das große Dokument der Ausmordung der Armenier durch die Osmanen im Verlauf des I. Weltkriegs – und des Widerstands einiger Dörfer in der Bergfestung auf dem Musa Dagh. (GK)
1934 Alexander Lernet-Holenia: Die Standarte – hier bestellen
Österreich-Ungarns Heer am Ende des Ersten Weltkriegs: Nationalitätenrivalitäten brechen auf, die Truppe meutert, die Offiziere frönen dem Standesdünkel, ihnen entgleiten die Zügel. Aus dem Chaos rettet ein Fähnrich die Standarte seiner Einheit, aber die Zeit der äußeren Symbole ist vorerst vorbei, das Kaiserreich Geschichte. (EL)
1935 Werner Bergengruen: Der Großtyrann und das Gericht
1936 Eines der Jahre “in dunkler Zeit”, in denen überbordend viel Gültiges erschien. Darüber ist viel geschrieben worden – über die literarische Kontinuität und das gespaltene Bewußtsein der Epoche.
Edgar Maass: Verdun
Über den Ersten Weltkrieg, über die Materialschlachten, gibt es unzählige Romane, dieser ist besonders. Er beschönigt und verzerrt nichts. Er beschreibt die Schlacht so, daß der Leser sich dem unerbittlichen Sog des Geschehens nicht entziehen kann und trotzdem nicht die Orientierung verliert. Ohne jedes Pathos steht am Ende die Frage, ob die Besten nicht gefallen sind. (EL)
llse Molzahn: Der schwarze Storch – hier bestellen
Völlig magisch. Kein Leser wird diesem Sog entgehen! Posen, um 1900, auf einem Gut, das vom Ruin bedroht ist. Erzählt wird aus der Sicht der kleinen Tochter. Die Mutter: Pietistin mit „frommem Gesicht“. Der Vater: ein cholerischer Draufgänger. Er hat diese Rarität, den schwarzen Storch, erlegt. Der präparierte Vogel schwebt als Totemtier im Speiseraum und über der ganzen Szenerie. (EK)
Siegfried von Vegesack: Baltische Tragödie
Die Deutschen beherrschten lange das Baltikum, die Kaufleute und das Bildungsbürgertum in den Städten, der Adel auf dem Lande. Vegesack war einer von ihnen. Aus der Perspektive eines Heranwachsenden schildert er die Zuspitzung der Gegensätze zwischen Deutschen und Letten, die schließlich in Revolution und Bürgerkrieg führen. Die drei Bände erschienen zwischen 1933 und 1935, 1936 erfolgte die Ausgabe in einem Band, die bis heute lieferbar ist. (EL)
Klaus Mann: Mephisto
1937 Gleich drei Grundwerke unserer Weltanschauung und Welterschließung:
Jochen Klepper: Der Vater – hier bestellen
Jochen Klepper hat DEN Roman über den preußischen Geist, seine Formung, seine Unvergleichlichkeit geschrieben. Das Buch war ab 1937 ein großer Erfolg, vor allem auch in den Kreisen der Wehrmacht. Es diente der geistigen Ausbildung des Offizierskorps. (GK)
Horst Lange: Schwarze Weide – hier bestellen
Neben „Erlkönig“ von Michel Tournier mein Lieblingsbuch. Düster, magnetisch, apokalyptisch, schillernd. Lange ist Schlesier – Heimat meiner Eltern… Ein junger Mann verbringt den Sommer kurz nach dem Ersten Weltkrieg auf dem Hof seines Onkels in Schlesien. Im Dorf gibt es eine Art unterirdisches Rumoren, seltsame Dinge bahnen sich an. Cora, die weibliche Hauptfigur, fesselt mich bis heute. Wie widerspenstig kann man sein? Neo Rauch sagte mal, „Schwarze Weide“ sei eine Inspirationsquelle für sein Bildwerk – das kann man sich gut vorstellen. (EK)
Hans Fallada: Wolf unter Wölfen – hier bestellen
Was hat die Hyperinflation von 1923 mit dem deutschen Volk gemacht? Sie hat den Glauben an die Zukunft zerstört und die Deutschen zu Materialisten gemacht, die nur noch einen Gedanken kennen: Geld. Nicht nur in den Städten regiert der Wahnsinn, auch auf dem Land. Fallada kennt beides aus eigener Erfahrung. Irgendwann hat der Spuk ein Ende, es wird sich zeigen, wer unbeschadet daraus hervorgegangen ist. (EL)
Friedrich Reck-Malleczewen: Bockelson
1938 Auch die folgenden drei Werke konnte man als Arbeiten der Inneren Emigration und als Warnung und Mahnung lesen – oder eben nicht.
Reinhold Schneider: Las Casas vor Karl V. – hier bestellen
Der Dominikaner Las Casas war erster Bischof Mexikos und setzte sich bald gegen die Conquistadoren für die Rechte der Ureinwohner ein. Er trug vor Karl V. von Spanien vor und erreichte bedeutende Verbesserungen. Schneider schrieb sein Werk in der Überzeugung, daß mutig vor Hitler getreten werden müsse. Sein Roman wurde so gelesen und verstanden. (GK)
Gertrud von le Fort: Die Magdeburgische Hochzeit – hier bestellen
1634 zerstörte die Katholische Liga unter Tilly das protestantische und widerständige Magdeburg und brandschatzte drei Tage lang. Rund 20 000 Einwohner kamen ums Leben. Im Roman mißlingt die Rettung, weil kaum einer derjenigen, die entscheiden können, nüchternen Verstand ansetzt: Trunkenheit, Besessenheit, Wahn, Verrat. Man las 1938 den Roman als Vorahnung darauf, daß ein neuer, verheerender Krieg wohl nicht verhindert werden könne. (GK)
Joseph Roth: Die Kapuzinergruft – hier bestellen
In der Wiener Kapuzinergruft werden bis heute die Angehörigen des österreichischen Kaiserhauses bestattet. Joseph Roth nimmt diese Tradition zum Ausgangspunkt seines letzten großen Romans, der den Faden des Radetzkymarschs wieder aufnimmt und ihm bis in die Gegenwart, dem Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich, folgt. Der tiefe Pessimismus des Buches läßt erahnen, wie sehr Roth im Exil das alte Österreich vermißt hat. (EL)
1939 Und am Vorabend des Kriegsausbruches dann diese beiden Hämmer:
Ernst Jünger: Auf den Marmorklippen – hier bestellen
Die große Parabel auf Gewalt- und Schreckensherrschaft, auf Widerstandsformen und das ewige Pendelgesetz der Geschichte. Hier die verfeinerte Uferstadt Marina, dort die Reviere des Oberförsters und seiner Gesellen – als der Roman erschien, hielten es viele Leser für sicher, daß der Autor zur Rechenschaft gezogen würde. (GK)
Ernst Wiechert: Das einfache Leben – hier bestellen
Ein früher Aussteiger-Roman: Der Kriegsheimkehrer von Orla kommt mit dem lauten Berlin und seiner lebenssüchtigen Ehefrau nicht mehr zurecht und flieht auf eine Insel in einem See im Osten, um im einfachen Leben das wirkliche Leben zu finden. Widerstand durch Rückzug, Entzug? So las man diesen Bestseller. (GK)
1940 Erika Mitterer: Der Fürst der Welt
Als typischer Roman der Inneren Emigration spielt seine Handlung in ferner Vergangenheit, in der Zeit der Inquisition. Es geht um Hexenwahn, um das Böse, das freie Bahn hat, wenn ihm niemand entgegentritt, und die Schleier, hinter denen es sich verbirgt. Die Doppelbödigkeit und der Gegenwartsbezug des Buches fielen nicht jedem auf, angeblich sahen die NS-Zensoren in ihm eine Abrechnung mit der katholischen Kirche. Vielleicht erschien es auch deshalb als eines der wenigen Bücher der Inneren Emigration auch in der DDR. (EL)
1941 Frank Thiess: Das Reich der Dämonen
1942 Stefan Zweig: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers
Dieses Buch ist auch die Autobiographie eines wachen Beobachters und nahezu ressentimentfreien Großbürgers, der in den zwanziger Jahren zu den erfolgreichsten deutschen Schriftstellern gehörte, vor allem aber die Schilderung einer Epoche mit all ihren Facetten. Ins Exil gezwungen, blickt Zweig auf eine Welt zurück, in der Europa in höchster Blüte stand und als Maßstab galt. Zweig nahm sich 1941 das Leben, das Buch erschien postum. (EL)
1943 Hermann Hesse: Das Glasperlenspiel – hier bestellen
Hesse wird bis heute viel gelesen und verfilmt. Das Glasperlenspiel gehört zu den anspruchsvollsten Büchern dieses Autors, der dem Kitsch nicht immer widerstehen konnte. Es ist gleichzeitig sein letzter Roman. Wie so oft bei Hesse steht ein Schüler-Meister-Verhältnis im Mittelpunkt der Handlung. Es geht um die Frage, wie man geistig wachsen kann und ein ganzer Mensch wird. (EL)
1944 Horst Lange: Die Leuchtkugeln
Daß diese Erzählungen (neben den Leuchtkugeln enthält der Band auch Auf den Hügeln vor Moskau) noch 1944 erscheinen konnten, grenzt an ein Wunder. Nicht nur, daß der Autor zu dieser Zeit schon längst in Ungnade gefallen war, die Schilderung des Krieges in derart unheroischer und zwischenmenschlich verbindlicher Art steht in starkem Widerspruch zum nationalsozialistischen Rasse- oder Weltanschauungskrieg. (EL)
1945 Carl Zuckmayer: Der Seelenbräu
Hesperiolus
Erscheint denn hoffentlich bald Helmuth Kiesels, irgendwo angeraunte, becksche Geschichte der Deutschen Literatur 1933-1945? Von den Genannten sind Marmorklippen und Glasperlenspiel meine Wieder- und Wiedergelesenen. Doderers „Dämonen“ , entstehungszeitlich teils hier her gehörigen, folgen wohl in der zweiten Phase, die ich einer – literaturaffinen, unglücklich geliebten japanischen – Freundin als größtes, den „Zauberberg“ in die Ecke stellendes, extrakanonisches Gipfelwerk deutschsprachigen Romanschaffens angekniet habe. Henry Benraths (nom de plume) „Ball auf Schloß Kobolnow“ (1931) wäre auch zu nennen.