Beachtenswert ist dabei die Art und Weise, wie uns die jüngste Vergangenheit mit diesen Illustrationen vorgeführt wird. Walter Benjamin hat es erahnt: „Geschichte zerfällt in Bilder, nicht in Geschichten.
Über das Jahr hinweg zerlegt uns vor allem das Fernsehen Geschichte in viele kleine Einzelschicksale. Ich habe dies am Beispiel des Mauerfall-Films „Das Wunder von Berlin“ schon einmal thematisiert. Kurz vor Jahresende ändert sich dieser Modus der narrativ geschlossenen Historiographie des Privaten und es kommt in Form von Jahresrückblicken zu einer mosaikartigen Zusammenstellung von Schlüsselereignissen, die erzählerisch kaum geordnet werden.
Die Fernsehwissenschaftlerin Vivian Sobchack hat sich vor zehn Jahren in einem Aufsatz („Frohes neues Jahr“ und „Nehmt Abschied, Brüder“. Televisuelle Montage und historisches Bewußtsein) mit diesem Phänomen beschäftigt und dessen „zeremonielle Funktion im Zusammenhang mit dem Rätsel historischer Zeit und menschlicher Gegenwart“ untersucht. Sie diskutiert dabei zwei unvereinbare Lesarten: Entweder könnten diese unlogisch zusammengestellten Jahresbilder eine „historizistische Hyperaktivität“ (J. T. Caldwell) anzeigen oder als „Ort eines potentiellen‚ historischen Erwachens’“ interpretiert werden.
Folgt man der ersten Auffassung, bedeutet dies, daß dieses Wirrwarr an präsentierten Ereignissen beim Zuschauer zu Zerstreuung und historischer Orientierungslosigkeit führt, denn es bleibt unklar, was davon über das Jahr hinaus wichtig ist und was nicht. Der Zuschauer läßt sich berieseln von Effekten (z.B. Hysterie um den Tod von Michael Jackson), ohne die relevanten Grundentwicklungen des vergangenen Jahres zu erkennen.
Sobchack macht sich allerdings für die andere These stark:
Gerade der Schock und die Widersprüche der Montage geben uns einen Raum zur Meditation „außerhalb der Zeit“, in dem die Anhäufung unzusammenhängender Bilder und Töne als kohärente Allegorie, als metahistorische Geschichte, „gelesen“ und die Trümmer der Vergangenheit – die Benjamin in „Versteinerungen“, „Fetische“, „Wunschbilder“ und „Ruinen“ eingeteilt hat – „wieder-erkannt“ werden können.
Durch die fehlende narrative Geschlossenheit der Jahresrückblicke erlebe der Zuschauer also einen Schock und müsse die fragmentarische Aneinanderreihung von Ereignissen mit eigenem Wissen ergänzen, um Sinn zu erzeugen. Dadurch werde für ihn eine Illusion der Selbst-Identität erzeugt, da er sich quasi sein eigenes Geschichtsbild zusammenbaut.
Verantwortlich dafür sei die Hauptkommunikationseinheit der Jahresrückblicke: das – in Anlehnung an S. Paige Baty – sogenannte „Mediaphem“. Im Gegensatz zu Ikonen existieren Mediapheme nicht im kollektiven Gedächtnis, sondern nur in der kurzfristigen Erinnerung. Sie sind also Schlüsselbilder im kommunikativen Gedächtnis und deshalb in ihrer Bedeutung weniger festgeschrieben und flüchtiger. Mediapheme des Jahres 2009 finden wir z.B. in der Inszenierung der öffentlichen Trauer nach dem Selbstmord Robert Enkes. Wichtig mag dieses Ereignis für die deutsche „Geschichte 2009“ sein, aber niemals werden diese Bilder von Generation zu Generation weitergetragen, wie dies bei Ikonen der Fall ist.
Da nun in Jahresrückblicken solche flüchtigen Momente des Glücks, der Trauer, des Schmerzes, der Liebe et cetera direkt aneinandergesetzt werden, erhofft sich Sobchack durch diese „Dialektik der Bilder“ eine Erschütterung, die „zu historischem Bewußtsein und meditativer Reflexion“ führt. Ich glaube, an dieser Stelle überschätzt sie die Mündigkeit des Zuschauers maßlos. Wenn überhaupt, dann wird ein Intellektueller von dieser Art der Geschichtspräsentation schockiert und findet so zu neuen Erkenntnissen.
Meiner Meinung nach hinterlassen die „Bilder 2009“, die ein erster Schritt einer „Historifizierung“ sind, Orientierungslosigkeit und statt eines Schocks ein angenehmes Wohlbefinden, weil uns die lose Struktur der Mediapheme erlaubt, das Gesehene mit unserer eigenen Interpretation zu vereinbaren.
Behält man nun auch die narrativ geschlossenen Formen der massenmedialen Geschichtsvermittlung im Auge, zerfällt Geschichte gegenwärtig in Geschichten und Bilder. Das große Ganze jedoch bleibt unkenntlich.