Bilder 2009: Historizistische Hyperaktivität

Opel, Michael Jackson, Robert Enke, Obama, Schweinegrippe, Super-Wahljahr, Quelle, Winnenden. Gegen Ende jedes Jahres überschwemmen uns die Medien mit Jahresrückblicken.

Felix Menzel

Felix Menzel ist Chefredakteur des Schülerblogs blauenarzisse.de.

Beach­tens­wert ist dabei die Art und Wei­se, wie uns die jüngs­te Ver­gan­gen­heit mit die­sen Illus­tra­tio­nen vor­ge­führt wird. Wal­ter Ben­ja­min hat es erahnt: „Geschich­te zer­fällt in Bil­der, nicht in Geschichten.

Über das Jahr hin­weg zer­legt uns vor allem das Fern­se­hen Geschich­te in vie­le klei­ne Ein­zel­schick­sa­le. Ich habe dies am Bei­spiel des Mau­er­fall-Films „Das Wun­der von Ber­lin“ schon ein­mal the­ma­ti­siert. Kurz vor Jah­res­en­de ändert sich die­ser Modus der nar­ra­tiv geschlos­se­nen His­to­rio­gra­phie des Pri­va­ten und es kommt in Form von Jah­res­rück­bli­cken zu einer mosa­ik­ar­ti­gen Zusam­men­stel­lung von Schlüs­sel­er­eig­nis­sen, die erzäh­le­risch kaum geord­net werden.

Die Fern­seh­wis­sen­schaft­le­rin Vivi­an Sob­chack hat sich vor zehn Jah­ren in einem Auf­satz („Fro­hes neu­es Jahr“ und „Nehmt Abschied, Brü­der“. Tele­vi­su­el­le Mon­ta­ge und his­to­ri­sches Bewußt­sein) mit die­sem Phä­no­men beschäf­tigt und des­sen „zere­mo­ni­el­le Funk­ti­on im Zusam­men­hang mit dem Rät­sel his­to­ri­scher Zeit und mensch­li­cher Gegen­wart“ unter­sucht. Sie dis­ku­tiert dabei zwei unver­ein­ba­re Les­ar­ten: Ent­we­der könn­ten die­se unlo­gisch zusam­men­ge­stell­ten Jah­res­bil­der eine „his­to­ri­zis­ti­sche Hyper­ak­ti­vi­tät“ (J. T. Cald­well) anzei­gen oder als „Ort eines poten­ti­el­len‚ his­to­ri­schen Erwa­chens’“ inter­pre­tiert werden.

Folgt man der ers­ten Auf­fas­sung, bedeu­tet dies, daß die­ses Wirr­warr an prä­sen­tier­ten Ereig­nis­sen beim Zuschau­er zu Zer­streu­ung und his­to­ri­scher Ori­en­tie­rungs­lo­sig­keit führt, denn es bleibt unklar, was davon über das Jahr hin­aus wich­tig ist und was nicht. Der Zuschau­er läßt sich berie­seln von Effek­ten (z.B. Hys­te­rie um den Tod von Micha­el Jack­son), ohne die rele­van­ten Grund­ent­wick­lun­gen des ver­gan­ge­nen Jah­res zu erkennen.

Sob­chack macht sich aller­dings für die ande­re The­se stark:

Gera­de der Schock und die Wider­sprü­che der Mon­ta­ge geben uns einen Raum zur Medi­ta­ti­on „außer­halb der Zeit“, in dem die Anhäu­fung unzu­sam­men­hän­gen­der Bil­der und Töne als kohä­ren­te Alle­go­rie, als meta­his­to­ri­sche Geschich­te, „gele­sen“ und die Trüm­mer der Ver­gan­gen­heit – die Ben­ja­min in „Ver­stei­ne­run­gen“, „Feti­sche“, „Wunsch­bil­der“ und „Rui­nen“ ein­ge­teilt hat – „wie­der-erkannt“ wer­den können.

Durch die feh­len­de nar­ra­ti­ve Geschlos­sen­heit der Jah­res­rück­bli­cke erle­be der Zuschau­er also einen Schock und müs­se die frag­men­ta­ri­sche Anein­an­der­rei­hung von Ereig­nis­sen mit eige­nem Wis­sen ergän­zen, um Sinn zu erzeu­gen. Dadurch wer­de für ihn eine Illu­si­on der Selbst-Iden­ti­tät erzeugt, da er sich qua­si sein eige­nes Geschichts­bild zusammenbaut.

Ver­ant­wort­lich dafür sei die Haupt­kom­mu­ni­ka­ti­ons­ein­heit der Jah­res­rück­bli­cke: das – in Anleh­nung an S. Pai­ge Baty – soge­nann­te „Media­phem“. Im Gegen­satz zu Iko­nen exis­tie­ren Media­phe­me nicht im kol­lek­ti­ven Gedächt­nis, son­dern nur in der kurz­fris­ti­gen Erin­ne­rung. Sie sind also Schlüs­sel­bil­der im kom­mu­ni­ka­ti­ven Gedächt­nis und des­halb in ihrer Bedeu­tung weni­ger fest­ge­schrie­ben und flüch­ti­ger. Media­phe­me des Jah­res 2009 fin­den wir z.B. in der Insze­nie­rung der öffent­li­chen Trau­er nach dem Selbst­mord Robert Enkes. Wich­tig mag die­ses Ereig­nis für die deut­sche „Geschich­te 2009“ sein, aber nie­mals wer­den die­se Bil­der von Gene­ra­ti­on zu Gene­ra­ti­on wei­ter­ge­tra­gen, wie dies bei Iko­nen der Fall ist.

Da nun in Jah­res­rück­bli­cken sol­che flüch­ti­gen Momen­te des Glücks, der Trau­er, des Schmer­zes, der Lie­be et cete­ra direkt anein­an­der­ge­setzt wer­den, erhofft sich Sob­chack durch die­se „Dia­lek­tik der Bil­der“ eine Erschüt­te­rung, die „zu his­to­ri­schem Bewußt­sein und medi­ta­ti­ver Refle­xi­on“ führt. Ich glau­be, an die­ser Stel­le über­schätzt sie die Mün­dig­keit des Zuschau­ers maß­los. Wenn über­haupt, dann wird ein Intel­lek­tu­el­ler von die­ser Art der Geschichts­prä­sen­ta­ti­on scho­ckiert und fin­det so zu neu­en Erkenntnissen.

Mei­ner Mei­nung nach hin­ter­las­sen die „Bil­der 2009“, die ein ers­ter Schritt einer „His­to­ri­fi­zie­rung“ sind, Ori­en­tie­rungs­lo­sig­keit und statt eines Schocks ein ange­neh­mes Wohl­be­fin­den, weil uns die lose Struk­tur der Media­phe­me erlaubt, das Gese­he­ne mit unse­rer eige­nen Inter­pre­ta­ti­on zu vereinbaren.

Behält man nun auch die nar­ra­tiv geschlos­se­nen For­men der mas­sen­me­dia­len Geschichts­ver­mitt­lung im Auge, zer­fällt Geschich­te gegen­wär­tig in Geschich­ten und Bil­der. Das gro­ße Gan­ze jedoch bleibt unkenntlich.

Felix Menzel

Felix Menzel ist Chefredakteur des Schülerblogs blauenarzisse.de.

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