Duzen auf Schwedisch

In Schweden duzen sich alle, klärte mich neulich ein Freund aus Göteborg auf. Aber wirklich alle. Man duzt den Chef, den Verkäufer im Laden,...

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

den Kell­ner im Café, den Kon­trol­leur in der U‑Bahn. Wenn einem der Minis­ter­prä­si­dent auf der Stra­ße begeg­net, kann man ihn duzen und mit dem Vor­na­men anre­den. Allen­falls sehr alte Leu­te und der (ziem­lich ver­lot­ter­te) König wer­den noch gesiezt. Irgend­wann in den Sieb­zi­ger Jah­ren haben sich die­se Umgangs­for­men durch­ge­setzt und sind heu­te nahe­zu alternativlos.

Plötz­lich erscheint mir der gan­ze schau­der­haf­te Duz-Faschis­mus, der einem etwa beim Ikea auf­ge­nö­tigt wird, in einem ande­ren Licht. “Aber war­um denn bit­te, das ist doch furcht­bar, wenn man von allen geduzt wird und alle duzen muß? Ich stel­le mir das wie einen Alp­traum vor!” – “Die Schwe­den sind ein­fach die gebo­re­nen Sozia­lis­ten. Das Gemein­schafts­ge­fühl ist sehr wich­tig, wie in allen skan­di­na­vi­schen Ländern.”

Hier fiel mir der Neue-Rech­te-Groß­va­ter Hen­ning Eich­berg ein, der sich einst aus sei­nem kom­pli­zier­ten und ange­schla­ge­nen Vater­land ins kusche­li­ge Däne­mark geflüch­tet hat, ver­mut­lich weil es dort ein­fa­cher schien, eine Art “Gemüts­na­tio­na­lis­mus” und eine unbe­las­te­te­re “Volks-Gemein­schaft” zu leben: “Volk ist, wo jeder zum ande­ren Du sagt”, hat er sinn­ge­mäß ein­mal for­mu­liert, wenn ich mich rich­tig erin­ne­re (und wenn nicht, dann meint er es trotz­dem so.)

“Außer­dem hält man es für unhöf­lich, dem ande­ren Distanz zu signa­li­sie­ren”, erklär­te mein schwe­di­scher Freund wei­ter. “Das ver­ste­he ich nun über­haupt nicht”, ant­wor­te­te ich. “Das Gegen­teil ist doch der Fall! Gera­de Distanz signa­li­siert doch Respekt und Höf­lich­keit, woge­gen das unge­frag­te Du einem sofort gna­den­los auf die Pel­le rückt, in den Nacken atmet, auf die Schul­ter klopft, ins Ohr­läpp­chen zwickt, und schlimms­ten­falls in den Schwitz­kas­ten nimmt! Distanz­nah­me garan­tiert dage­gen einen Schutz­traum, in dem man sich und den ande­ren in sei­ner Pri­vat­heit und sei­ner Beson­der­heit belas­sen kann. Wenn ich etwa auf Arbeit mei­nen Chef duze, und wir per Sprach­re­ge­lung so tun, als ob es kei­ne Hier­ar­chien gäbe und als ob wir alle gleich wären, dann ist das doch nichts als Heu­che­lei und Ver­schleie­rung der wah­ren Ver­hält­nis­se! Er hat bes­se­ren Zugriff auf mich, mein Zugriff auf ihn ist aber illu­so­risch. Dann lie­ber eine kla­re Sprache!”

So sprach ich, und noch ande­re Din­ge fie­len mir ein: mit die­ser Ver­wi­schung der Gren­zen wer­den ja auch alle Freu­den der Grenz­über­schrei­tung, alle wohl­be­mes­se­nen Stei­ge­run­gen der Annä­he­rungs­in­ten­si­tät ihres Aus­drucks und ihrer Spra­che beraubt. Was für eine Nivel­lie­rung der Zwi­schen­tö­ne, was für ein Ver­lust an kul­tu­rel­ler Ver­fei­ne­rung, an Span­nungs­mo­men­ten und ‑ver­hält­nis­sen, an sozia­ler Intel­li­genz und Sensibilität!

Mir per­sön­lich wird schon in Deutsch­land (und erst recht in mei­ner Wahl­hei­mat Kreuz­berg) viel zuviel geduzt. Könn­te ich es mir aus­su­chen, dann wäre es mir am liebs­ten, man wür­de es hand­ha­ben wie in den alten fran­zö­si­schen Fil­men, wo ein Jean-Jac­ques und eine Marie mit­ein­an­der ins Bett gehen, und sich am nächs­ten Mor­gen immer noch sie­zen: “Dan­ke für die­se wun­der­vol­le Nacht. Wann kann ich Sie wie­der­se­hen, Marie?”

Ein sech­zehn­jäh­ri­ger Fan hat ein­mal an Joa­chim Fer­n­au einen Brief geschrie­ben, mit der Bit­te, ihn bei einer etwa­igen Beant­wor­tung mit “Du” anzu­schrei­ben. Fer­n­au schrieb ihm zurück:

Ich soll Du zu Ihnen sagen. Das möch­te ich nicht, es wür­de Sie mir frem­der machen, als Sie es mir jetzt sind. Ver­ste­hen Sie?

Ja, ich ver­ste­he es. Wer noch?

Ich ken­ne Schwe­den in ers­ter Linie durch die Fil­me von Ing­mar Berg­man, in denen noch viel gefürch­tet, gezit­tert und nor­disch schwer­mü­tig über Sex, Tod und vor allem Gott nach­ge­grü­belt wur­de. Wor­un­ter der Pas­to­ren­sohn Berg­man, Jahr­gang 1918, noch tief gelit­ten hat, ist inzwi­schen offen­bar durch­ge­stan­den. Der Kampf ist vor­bei, der Gedan­ke an Gott tut nie­man­dem mehr weh. Kei­ner glaubt mehr an ihn, und hält das auch nicht für ein Pro­blem. Der Däne Kier­ke­gaard hat das schon in den 1840er Jah­ren vorausgesehen.

(In Schwe­den gibt es übri­gens, nur so als Bei­spiel, eine Par­tei, die sich allen Erns­tes “Mode­ra­te Samm­lungs­par­tei” nennt, und so stark ist, daß sie den Minis­ter­prä­si­den­ten stellt, der mit unse­rem Chef-Dhim­mi Wulff die mar­kan­te Phy­sio­gno­mie eines Woll­knäu­els gemein­sam hat. Sie gilt als die am wei­tes­ten “rechts” ste­hen­de Par­tei, neben den Schwe­den­de­mo­kra­ten-New­co­mern, ver­steht sich.)

Ist das nun das uner­war­te­te Hap­py-End, das Berg­man gera­de noch als men­schen­scheu­er, uralter Ere­mit mit­be­kom­men hat, das Aus­hei­len aller meta­phy­si­schen Neu­ro­sen in der sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Wohlstandswelt?

So ein­fach ist es nicht. Gott­fried Benn schrieb ein­mal, die Abgrün­de der mensch­li­chen See­le kön­ne man nicht “mit Woll­wes­ten und Streu­sel­ku­chen” auf­fül­len. Schwe­den, das mag sein ABBA’s Tra­la­la, Ikea-Kon­sum-Kom­fort, Knä­cke­brot mit Prei­sel­bee­ren und Astrid-Lind­gren-arti­ge Idyl­len mit Holz­hüt­ten am See. Aber hin­ter den roten Backen lau­ert immer noch der Berg­man-Grüb­ler, der Strind­berg-Zer­ris­se­ne, der nor­di­sche Exis­ten­zia­lis­mus, das Unbe­ha­gen in der Kul­tur, wie es in den absur­den Meis­ter­wer­ken von Roy Anders­son zum Aus­druck kommt.

Als ich nun ver­such­te, mei­nem schwe­di­schen Freund die deut­schen Dis­po­si­tio­nen und den immer­grü­nen Hit­ler­fim­mel zu erklä­ren, ver­blüff­te er mich mit der Aus­sa­ge, daß die Lage in Schwe­den in die­ser Hin­sicht kaum anders sei, obwohl das Land seit Ewig­kei­ten kei­nen Krieg mehr ange­zet­telt hat und auch kei­nen “Holo­caust” auf dem Gewis­sen hat. Es herr­sche ein pro­fun­der, staat­lich geför­der­ter kul­tu­rel­ler Selbst­haß, und Hit­ler wer­de stän­dig beschwo­ren, um die Agen­da der Lin­ken, Femi­na­zis und Libe­ra­len, die die Gesell­schaft fest im Griff haben, vor­an­zu­pu­shen und zu recht­fer­ti­gen. Mit der Fol­ge, daß auch in Schwe­den die Wöl­fe des Ori­ents ste­tig in das Land vor­drin­gen, und nur auf wil­lens­schwa­che, wehr­lo­se Ein­ge­bo­re­ne stos­sen (in Deutsch­land als “Kar­tof­feln”, “deut­sche Schlam­pen” und “Schwei­ne­fleisch­fres­ser” bekannt).

In dem ame­ri­ka­ni­schen “New Right” Netz­ma­ga­zin Occi­den­tal Obser­ver ist eben ein Arti­kel erschie­nen, in dem ein Schwe­den-Kor­re­spon­dent schil­dert, wie die links­li­be­ra­len Intel­lek­tu­el­len dort das glei­che “Ich sehe etwas, was Du nicht siehst”-Spielchen trei­ben wie hier­zu­lan­de, die glei­che dümm­li­che und destruk­ti­ve Iden­ti­täts-Abwra­cker-Num­mer, die auch bei uns soviel Scha­den ange­rich­tet hat:

Unse­re Eli­ten behaup­ten, daß der “struk­tu­rel­le Ras­sis­mus” der schwe­di­schen Kul­tur ein tie­fes Pro­blem in unse­rer Gesell­schaft ist. Gleich­zei­tig behaup­ten unse­re Eli­ten, daß die schwe­di­sche Kul­tur und das schwe­di­sche Volk sozia­le Kon­struk­te sei­en. Ein sehr häu­fi­ges Argu­ment ist die Behaup­tung “Die schwe­di­sche Kul­tur ist die Sum­me aller Kul­tu­ren”. Unse­re Eli­ten eröff­nen die Debat­ten über den Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus ger­ne mit der rhe­to­ri­schen Fra­ge: “Wer ist denn schon ein Schwe­de?” Sie wol­len uns weis­ma­chen, daß wir als Schwe­den gar nicht exis­tie­ren. Wir als Schwe­den exis­tie­ren nur, wenn wir die Ein­wan­de­rer diskriminieren.

Also auch hier das im Wes­ten so weit ver­brei­te­te “white guilt”-Syndrom, das auch Natio­nen plagt, die kei­nen Krieg ver­lo­ren haben und kei­nen Hit­ler hat­ten. Das ist eben­so tod­trau­rig, wie es absurd ist, denn wer die Schwe­den (und die Skan­di­na­vi­er über­haupt) kennt, weiß, daß sie see­lisch und phy­sio­gno­misch ein sehr aus­ge­präg­tes und lie­bens­wür­di­ges Volk sind, und das auch heu­te noch, wo sie nicht min­der von allen Krank­hei­ten der west­li­chen Welt heim­ge­sucht werden.

Aber so volks­feind­lich und “men­schen­ver­ach­tend”, so nie­der­träch­tig, minus­be­seelt, res­sen­ti­ment­ge­la­den, so eng­her­zig, eng­stir­nig und neu­ro­tisch, so ohne einen Fun­ken Lie­be zu Euro­pa und sei­nen wun­der­ba­ren Völ­kern ist eben die inter­na­tio­na­le Mul­ti­kul­ti-Lin­ke: sie wird nicht auf­ge­ben, bis auch noch der letz­te Schwe­de, Deut­sche, Eng­län­der, Ita­lie­ner, Fran­zo­se usw. sich selbst zum Kot­zen fin­det und jede Selbst­ach­tung aufgibt.

Es gibt aber Hoff­nung: die libe­ral-natio­na­len Schwe­den­de­mo­kra­ten haben trotz des mas­si­ven Gegen­drucks der Medi­en bei der letz­ten Wahl enorm zuge­legt; folgt man dem Bericht des Autors auf Occi­den­tal Obser­ver, so sind ihre Anhän­ger durch­weg gebil­de­te Men­schen mit aka­de­mi­schem Hin­ter­grund und ihre Köp­fe bril­lan­te und intel­li­gen­te Rhe­to­ri­ker, die noch in den schlimms­ten Talk­show-Löwen­gru­ben ihre Geg­ner alt aus­se­hen las­sen. Wir wol­len hof­fen, daß das nicht nur in Schwe­den erst der Anfang ist, und daß in Deutsch­land auch bald Ver­gleich­ba­res entsteht.

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

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