Die zu diesem Zeitpunkt tonangebenden Sex Pistols brachten als kalkulierte Provokation die Single “God Save The Queen” heraus, die trotz Boykott der BBC rasch die Hitlisten anführte: “Gott schütze die Königin und das Faschistenregime, das dich zum Volltrottel gemacht hat…”
Der Song wurde zur Hymne einer ganzen Generation, besonders wegen des berühmten pessimistischen Slogans, der ihn beschloß:
There is no future
In England’s dreaming -No future, no future,
No future for you!
No future, no future,
No future for me!No future, no future,
No future for you!
No future, no future
For you!
Zumindest was die Queen und das britische Königshaus betrifft, die in erster Linie mit dem “You” gemeint waren, haben sich die Sex Pistols offensichtlich geirrt. Elizabeth, die die Langlebigkeit der legendären Queen Mum geerbt hat, geht inzwischen auf die Neunzig zu und feierte kürzlich ihr diamantenes Thronjubiläum. Diesmal rotzten keine Punkrocker und Avantgardefilmer in die Suppe, stattdessen fand sich der Rock- und Popadel Großbritanniens beinah geschlossen zur unkontroversen Huldigung ein, vorzugsweise freilich die “Oldies”, von Paul McCartney bis zum unvermeidlichen Elton John. Ohne Zweifel: die Briten lieben mehrheitlich ihre Monarchie, wie auch die rege Anteilnahme an Prinz Williams Hochzeit im letzten Jahr zeigte.
Die Bedürfnisse, die die monarchischen Feierlichkeiten befriedigen, haben allerdings wohl eher mit Nostalgie und Realitätsflucht als mit Zukunftszugewandtheit zu tun. Denn letztere sieht für die Briten momentan ebensowenig rosig aus wie die Gegenwart. Die Sex Pistols verhöhnten das Königshaus zwar schon 1977 treffend als Touristenattraktion, dennoch erfüllt es weiterhin eine gewisse Rolle als Repräsentant für die überzeitliche Kontinuität und die übergeordnete Idee der Nation. Die meisten Briten würden diese Dinge freilich nicht so abstrakt formulieren. Sie sehen wohl in erster Linie den blendenden Glamour und das Spektakel der Parallel- und Gegenwelt der Reichen und Schönen, die zugleich auch für Tugendhaftigkeit, Vorbildwirkung, Sicherheit und Dauer einstehen sollen. Umso gieriger und schadenfroher lauert man allerdings auf ihre Laster, Fehltritte und Allzumenschlichkeiten.
Indessen dient die britische Monarchie heute über weite Strecken als bloßes Opium fürs Volk, und das nicht nur auf dem Unterhaltungssektor der Klatschpresse. Auch die nationale Kontinuität, die sie suggeriert, ist nicht viel mehr als eine optische Täuschung und Beruhigungspille für die Massen. Denn seit Elizabeths Krönung hat sich das Land auf eine radikale Weise geändert, wie es sich in den Fünfziger Jahren kaum jemand vorstellen konnte. Kann man ernsthaft sagen, daß dies überwiegend zu seinem Guten geschehen sei? Es scheint zum Beispiel, daß gerade das, was die “Britishness” des Landes ausgemacht hat, heute immer mehr zum fernen Traum von Vorgestern wird.
Viele Engländer, die unter dem Chaos, der Unsicherheit und der Zersplitterung der gegenwärtigen Gesellschaft leiden, denken an die Vergangenheit mit einem zunehmenden Gefühl wehmütiger Verklärung zurück. Der ehemalige Smiths-Sänger Morrissey, selbst ein Kind der Punkrockgeneration, hat diesen Verlust des Britisch-Eigenen des öfteren öffentlich beklagt. In seinem Hit “Irish Blood, English Heart” (2004) plädierte er gar dafür, nicht nur die Tory- und Labour-Partei, sondern gleich die ganze korrupte “Royal Line” abzusetzen, und zwar gerade aus Liebe zu England. Sogar Sex Pistols-Kopf Johnny Rotten (alias Lydon) gab seiner “No Future”-Hymne später eine durchaus patriotische Deutung:
Man schreibt einen Song wie ‚God Save the Queen‘ nicht, weil man die englische Rasse (sic!) haßt, sondern weil man sie liebt. Und weil man die Nase voll davon hat, wie sie mißhandelt wird…
Über den Wandel der “Britishness” seit Elisabeths Thronbesteigung schrieb FAZ-Korrespondentin Gina Thomas:
England sei ein Land, das sich mit wenig zufrieden gebe, berichtete der 1933 aus Göttingen geflohene Kunsthistoriker Nikolaus Pevsner seiner Frau und fluchte über die ungeheizten Häuser. Ausländer besäßen eine Seele, die Engländer stattdessen Understatement, witzelte der ungarische Humorist George Mikes. Der deutsch-jüdische Beirat riet Emigranten aus Hitler-Deutschland zur Diskretion: „Der Engländer legt sehr viel Wert auf Bescheidenheit, Understatement und Unauffälligkeit in Kleidung und Benehmen. Er schätzt gute Manieren weit mehr als sichtbare Beweise des Wohlstandes.“
Ein klassisches Beispiel dafür liefert das Jahresheft eines der führenden Jungeninternate, das Anfang der vierziger Jahre in der Rubrik über ehemalige Schüler zu Archibald Wavell, damals Oberbefehlshaber der britischen Armee im Nahen Osten, schrieb, er habe „seine Sache in Nordafrika gut gemacht“. An dieser Grundhaltung hatte sich im Krönungsjahr nichts geändert. Sie ging mit einer heute kaum vorstellbaren materiellen Bescheidenheit einher: Bis 1961 lag der Höchstlohn für Fußballspieler bei zwanzig Pfund in der Woche; George Cohen, der rechte Außenverteidiger der siegreichen Nationalmannschaft bei der Weltmeisterschaft von 1966, erinnerte sich später, wie peinlich es ihm mit siebzehn gewesen sei, fünfzig Pfund netto im Monat nach Hause gebracht zu haben, wo der Vater für eine Vierzigstundenwoche bloß zehn bis zwölf Pfund brutto verdiente.
Der durchschnittliche Hauspreis betrug im Krönungsjahr 2000 Pfund. Inzwischen ist er landesweit auf mehr als 160 000 Pfund eskaliert und liegt in London mit 360 721 Pfund außerhalb aller Möglichkeiten normal verdienender Erstkäufer.
(…)
Als Elisabeth II. den Thron bestieg, gab es noch die Todesstrafe, Homosexualität war verboten, Theater wurde zensiert, und die Luft war derart verpestet, dass die Smogkatastrophe vom Dezember 1952 12 000 Londoner das Leben kostete. Damals kamen 4,8 Prozent der Kinder unehelich auf die Welt, heute beträgt die Zahl 46,8 Prozent. 1952 wurden 33 922 Ehen geschieden, 2010 hatte sich diese Zahl mehr als verdreifacht. Frauentaillen waren damals wegen der anstrengenderen Hausarbeit fünfzehn Zentimeter schmaler, und das Pfund von 1952 wäre jetzt 24,34 Pfund wert.
Über die Todesstrafe läßt sich streiten, der Zensur, dem sinnlosen Verbot der Homosexualität, und der Umweltverpestung muß man nicht nachtrauern – der erschreckende Zerfall der Familie und der wirtschaftlichen Kaufkraft läßt allerdings auch für die Zukunft nichts Gutes erwarten.
Besonders aufhorchen läßt aber dies:
Mit der immer größer werdenden Kluft zwischen Arm und Reich, mit Macht und Ungleichheit im heutigen Britannien befasst sich auch Ferdinand Mounts Betrachtung „The New Few or A Very British Oligarchy“, die umso mehr auffällt, als der Autor ein ehemaliger Mitarbeiter Margaret Thatchers und Konservativer ist. Er bezeichnet Britannien am Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts als „eine schwabbelige, korrodierte Art von liberaler Demokratie, in der die Oligarchen freien Lauf genießen“.
Er führt die unselige Konzentrierung von Macht und Reichtum in den Händen einer kleinen Elite auf die Entmännlichung von Wählern und Aktionären zurück, auf die schwindende Bedeutung des Parlaments und die Degradierung der kommunalen Politik, mit der Folge, dass Regierung und Vorstandsetagen in eine Art parallele Welt abgedriftet seien, wo finanzielle und politische Macht eins werden und Firmenchefs sich das Vielhundertfache des Durchschnittsgehalts ihrer Angestellten gönnen, selbst dann, wenn die Unternehmensleistung es nicht rechtfertigt. Mount zählt zwei von der Allgemeinheit losgelöste Gruppen – oben die Oligarchen, unten die machtlose Unterklasse -, wodurch die Gesellschaft gebrochen sei wie nie zuvor.
Diese Machtkonzentrierungen sind ein europaweiter Trend: die Parlamente und demokratischen Kontrollinstanzen werden zunehmend entmachtet, zugunsten oligarchischer Eliten, die nur mehr sich selbst verpflichtet sind. Das britische Königshaus liefert dazu nicht mehr als eine hübsche, trügerische Fassade. Was Thomas nicht erwähnt, ist der Zusammenhang dieser Entwicklungen mit der zum Teil erheblich fortgeschrittenen Multikulturalisierung und demographischen Umwandlung des Landes, die unter anderem schwere Kriminalität, progressive Islamisierung und bürgerkriegsschwangere Brandherde mit sich gebracht haben.
Die Labourpartei hat sich in diesem Spiel zu einem der ärgsten Feinde ihrer traditionellen Wählerschicht gewandelt, der weißen englischen Arbeiterklasse, deren Mißhandlung einst Johnny Rotten so empörte und in deren Namen er gegen das System protestierte. So wurde etwa 2009 bekannt, daß Labour unter Tony Blair absichtlich die Einwanderung nach England forcierte, um den gegnerischen Parteien das Wasser abzugraben.
Im Dezember letzten Jahres habe ich über den Fall einer offenbar mental nicht ganz stabilen Frau aus der Unterschicht berichtet, die aufgrund mitgefilmter “rassistischer” Ausfälle zunächst per Twitter öffentlich gemobbt (unter aktiver Beteiligung von Labour-Chef Miliband) und schließlich verhaftet und vor Gericht gestellt wurde. Dabei hatte auch sie nur in Punkrockmanier ihren persönlichen “No Future”-Frust artikuliert: “My Britain is fuck-all now.”
Inzwischen wurde eine weitere Frau wegen eines ähnlichen Vorfalls zu 21 Wochen (!) Haft verurteilt. Schon kleine Kinder werden auf der Insel von oben her unter Druck gesetzt und eingeschüchtert, wenn sie Rassenunterschiede auch nur bemerken. Die Liste dieser orwellianischen Maßnahmen ist lang. Je “diverser” Großbritannien wird, umso massiver werden sie eingesetzt, und umso mehr beherrscht das Phantom des “Rassismus” den öffentlichen Diskurs (ähnlich wie in Obamas Vereinigten Staaten, die sich eher “hyperracial” als “postracial” entwickeln.)
Es gilt hier zu erkennen, daß die “political correctness” genau dort gedeiht, wo nach Ferdinand Mount eine „schwabbelige, korrodierte Art von liberaler Demokratie” herrscht, “in der die Oligarchen freien Lauf genießen“, und daß sie eben diesem System zum Machterhalt dient und darum von ihm gefördert wird.
Letzten August schrieb Karlheinz Weißmann auf diesem Blog über die Diskussionen, die den Krawallen in London-Tottenham und anderen Städten folgten:
… überraschenderweise geht es endlich einmal nicht um Diskriminierung und Ungleichheit, um die armen Opfer ohne Schulabschluß und Plasmabildschirm, um die Notwendigkeit, noch mehr Verständnis zu haben, mehr Pädagogen zu schicken und mehr Geld in Stadtviertel zu pumpen, die längst zu no go areas geworden sind, sondern um den Skandal jenes ungeheuren Zerstörungsprozesses, den das Establishment zu verantworten hat, das sich auf seine politische Korrektheit so viel zu gute hält, wo letztlich kein Unterschied mehr ist zwischen Labour und Liberal und Tory, und das es fertig gebracht hat – ganz ohne Krieg und Pestilenz – eine Gesellschaftsordnung an den Rand der Katastrophe zu führen.
Herr Dr. Weißmann, der im Gegensatz zu mir vermutlich kein Sex Pistols-Fan ist, wird mir hoffentlich verzeihen, wenn ich ihn zum Abschluß mit Johnny Rotten/Lydon kurzschließe:
Diese Textzeile ‚no future‘ ist prophetisch gemeint: Wenn du deine Zukunft nicht selbst in die Hand nimmst, dann wirst du auch keine haben – so einfach ist das.
Daniel
Eine kleine Anektode darüber, wie sehr sich die Zeiten innerhalb Lissis Regentschaft geändert haben: in den frühen 1950er Jahren unternahm die Königin eine Reise durch ihr englisches Reich und befand im Anschluß daran, sie hätte den Eindruck sich nicht mehr in England zu befinden, so viele Schwarze und andere Fremdvölker aus den Kolonien hatte sie dabei angetroffen. Die damalige Regierung reagierte umgehend und startete ein Abschiebungsprogramm, das aber offenbar nur vorübergehend Ergebnisse zeigte. Ob irgendjemand zu dem aktuellen Jubiläum daran erinnert?
Sorry, aber die Quelle hierzu kann ich nicht mehr nennen, ich fand das vor 10 Jahren während einer Recherche zum Islam in einem Buch in der hiesigen Uni-Bibiliothek.