Am Mittwoch, den 18. Juli, kam Sarrazin nun erneut, um mit immerhin rund 400 Dresdnern über Europa und den Euro zu debattieren.
Die Hauptthese von Sarrazin steckt schon in seinem neuen Buchtitel: Europa braucht den Euro nicht. Seit über 60 Jahren bestünden viele ansprechende Europa-Konzeptionen und auch der gemeinsame Wirtschaftsraum sei ohne Frage ein großer Erfolg. Aber Europa brauche dafür keine gemeinsame Währung, so der ehemalige Bundesbanker.
Zu dieser sei es lediglich gekommen, weil der ehemalige Bundeskanzler Helmut Kohl Anfang der 90er-Jahre dem französischen Drängen aus „unerklärlichen Gründen“ nachgegeben habe. Ausdrücklich betonte Sarrazin in Dresden, daß der Euro keine Vorbedingung für die deutsche Einheit gewesen sei. Vielmehr hätte der „glühende Europäer“ Kohl inmitten der Wiedervereinigungseuphorie genau das falsch gemacht, was bei der deutsch-deutschen Währungsunion unter maßgeblicher Beteiligung Sarrazins als Referatsleiter im Bundesfinanzministerium richtig gelaufen sei.
Damals sei er sich mit seinen Mitarbeitern absolut im Klaren darüber gewesen, daß die Bundesrepublik nach dem Mauerfall keinen einzigen Pfennig mehr in die untergehende DDR pumpen dürfe. Eine gemeinsame Währung könne nur bei einem gemeinsamen Rechtssystem funktionieren, weshalb die DDR-Führung zunächst zustimmen mußte, dies eins zu eins zu übernehmen.
Genau das sei auch der Knackpunkt bei der heutigen Diskussion um die Zukunft des Euro: Alle Stabilitätspakte der letzten und zukünftigen Jahre blieben solange ziemlich teure Papiertiger für Deutschland, bis es eine gemeinsame europäische Rechtsordnung gebe. Letztendlich liefe diese Option auf einen europäischen Bundesstaat hinaus, der über die Einhaltung von Haushalten und Verträgen wacht. Bisher könnten die mediterranen Staaten (Sarrazin meint damit Griechenland, Spanien und an der Spitze Frankreich) jedoch alle vorgeschlagenen Sparvorgaben und Strukturreformen mißachten, weil alle Verträge nur auf unbestimmten Völkerrechtsbegriffen beruhten. Die Rechtlosigkeit ist der Europäischen Union somit systemimmanent. Sie ist auf den guten Willen der reichen, nordeuropäischen Staaten angewiesen, um die Mißwirtschaften im Süden auszugleichen.
Dabei läuft die Europäische Union logischerweise in jene Sackgasse hinein, aus der bisher alle sozialistischen Experimente nicht mehr herauskamen. Schlechtes Wirtschaften werde durch mehr Subventionen belohnt und damit erhalten. Richtig wäre es also, führt Sarrazin aus, die maroden, mediterranen Staaten pleite gehen zu lassen und ihnen so einen Neustart ohne Euro zu ermöglichen. Binnen zwei Jahren könnten Staaten wie Griechenland wieder auf die Beine kommen, wenn die EU endlich die Subventionierung der Mißwirtschaft beenden würde.
Was wäre dazu nötig? Alle Forderungen aus dem Dresdner Publikum, Deutschland solle die DM wieder einführen, weist Sarrazin zurück. Dies sei zwar technisch ohne Probleme möglich, jedoch bestünde für die Bundesrepublik überhaupt nicht die Notwendigkeit, darüber nachzudenken. Es würde vollkommen reichen, wenn die Bundesregierung und Parlamentarier endlich wieder lernen würden, „Nein“ zu sagen – der Rest würde sich praktisch von alleine klären. Wenn der Euro im Zuge dieses „elementaren Machtkampfes“ zerbrechen würde, wäre dies lediglich das Ende der gescheiterten Maastricht-Politik. Mehr nicht – weder der Frieden noch der deutsche Export seien dann bedroht.
Sarrazin erzählt all das nüchtern und sachlich. Während seines dreiviertelstündigen Referats gibt es im Gegensatz zur Vorstellung von Deutschland schafft sich ab nur verhaltenen Zwischenapplaus. Das Thema scheint zu komplex zu sein, um die Menschen emotional zu fesseln. Die Stimmung unter den Zuhörern ist eine andere: Sie sind hin und wieder fassungslos, auf jeden Fall aber ratlos, was die Durchsetzungsfähigkeit von Alternativen angeht. Ein Mann aus dem Publikum äußert die Vermutung, die Bundestagsabgeordneten könnten aufgrund des Umfangs des ESM-Vertrags gar nicht genau wissen, worüber sie da abstimmen. Ihn erinnere das derzeitige Vorgehen genauso wie Vera Lengsfeld an die DDR-Volkskammer.
Sarrazin rückt diese populistische Äußerung schließlich gerade, indem er darauf hinweist, daß Politiker nicht zwingend den gesamten Inhalt neuer Gesetze kennen müßten. Viel entscheidender sei es für sie, den Kern begreifen und bewerten zu können. Letztendlich müßten sie nur über die Frage abstimmen, ob Deutschland den mediterranen Staaten Geld zuschießen solle oder nicht.
Politik habe es schon immer mit solchen Entscheidungen zu tun gehabt. „Komplexität“ sei damit nur eine feige Ausrede derjenigen, die ihre „besinnungslose Politik ohne inhaltliche Diskussion“ durchsetzen wollen, so Sarrazin. Die politische Klasse kaschiere damit ihr „kollektives Versagen“ und wolle nicht eingestehen, daß sie die Weichen nach 1989 einfach falsch gestellt hat und seitdem beharrlich den eingeschlagenen Weg weitergegangen ist. Die Lösung eines Problems sei jedoch nie mit dem alten Denkstil zu erreichen, womit Sarrazin schlußendlich die entscheidenden Fragen nach neuem politischen Spitzenpersonal und inhaltlichen Alternativen in den Raum stellt, ohne sie beantworten zu können. Klar ist auch, warum er sich hier so bedeckt hält. Es ist in Deutschland weit und breit kein Spitzenpolitiker mit Ecken und Kanten in Sicht, der einer alternativen Europa-Politik seinen Kopf leihen könnte.
Uns darf jedoch genau dieser Mangel nicht dazu verleiten, resignativ die Hände in die Hosentaschen zu stecken. Die Machtlosen tragen ebenfalls Verantwortung für die Zukunft, sie haben nur andere Pflichten. Die erste Pflicht der Machtlosen ist logischerweise die Analyse der Lage. Ich stimme darin in weiten Teilen Thilo Sarrazin zu. Er gehörte bis vor kurzem selbst der technokratischen Funktionselite der Bundesrepublik an und weiß deshalb am besten, wie sinnlos es ist, in der jetzigen Lage mit dem Grundgesetz herumzuwedeln und vor einem „Verfassungsputsch“ zu warnen. Legalität ist etwas für idealistische Träumer. Politische Machtmenschen finden unabhängig von irgendwelchen Urteilen der Gerichte immer eine Hintertür für ihre Pläne.
Vermutlich geht die Auflösung des Parlamentarismus und des Rechtsstaates durch die Europäische Union daher sogar so weit, wie es linke und rechte Kritiker der Postdemokratie beschreiben. Die linke belgische Politologin Chantal Mouffe trifft dabei ebenso ins Schwarze, wenn sie die „postpolitische Perspektive“ der herrschenden Eliten bemängelt, wie das französische Autorenkollektiv Tiqqun, das eine kybernetische Herrschaft heraufziehen sieht.
Im Gegensatz zu Mainstream-Denkern wie Peter Sloterdijk wissen diese Autoren auch, daß uns die „Wutbürger“ nicht von dieser „Herrschaft des Niemand“ befreien können. Erschreckenderweise passen sich die Bürger der nivellierenden Tendenz der Politik an. Tiqqun nennt den heutigen Bürger folgerichtig „Bloom“. Dieser sei
eingespannt in den Schraubstock einer gleichermaßen totalisierenden und individualisierenden Kontrolle und bis auf die Haut bedrängt von einem doppelten Zwang, der uns mit der gleichen Bewegung, mit der er uns ins Dasein erhebt, zum Erlöschen bringt (…)
Die zweite und wohl in der Gegenwart wichtigste Aufgabe der Machtlosen ist es deshalb, Alternativen zur „Alternativlosigkeit“ aufzuzeigen. Genau an diesem Punkt können wir mit Sarrazin nicht weitergehen. Er hat sich zwar vom „alten Denkstil“ losgesagt, wagt es aber nicht, sich zu einer Vision von einem besseren Deutschland bzw. Europa zu bekennen. Dieses Bekenntnis ist es, das man heute so lange suchen muß. Alle unabhängigen Geister Europas sind sich weitestgehend in der Analyse der Lage einig. Es fehlt jedoch am Mut, dem ein positives Bild entgegenzusetzen.
Am meisten verbreitet ist es noch, auf eine vergangene, idealisierte Gesellschaftsform zurückzugreifen. Die Kritiker der Postmoderne machen hier den gleichen Fehler wie die konservativen Theoretiker, die alternativlos am Nationalstaat festhalten. Sowohl die Demokratie als auch den Nationalstaat hat es eben historisch nie in der idealtypischen Form gegeben, wie es die entsprechenden Intellektuellen wünschen. Armin Mohler hat mit dem Begriff des „Nationaljakobinismus“ das Dilemma benannt, dessen sich eine demokratische, nationalstaatlich orientierte Rechte zwingend stellen muß. Sie findet erst zu wirklichen Alternativen, wenn sie begreift, daß der Nationalstaat und die moderne Demokratie auf das Engste mit der Ideologie der Gleichheit verknüpft sind.
Welche Schlußfolgerung man aus diesem Befund zieht, ist dann die politische Richtungsfrage, über die gestritten werden muß, und die auf ein Bekenntnis zu einer Alternative abzielt. Ich habe mich dazu klar mit der Idee eines „Europas der Regionen“ positioniert, die in der Rechten in den letzten Jahrzehnten immer wieder diskutiert wurde (u.a. Alain de Benoist, Henning Eichberg). Dabei ist mir vollkommen klar, daß dies kein wünschenswertes Endstadium der Staatenentwicklung ist. In den ersten Thesen-durch-Fakten-Anschlägen der Blauen Narzisse habe ich dazu geschrieben,
daß ein Europa der Regionen kein Wunschgebilde ist, das die Gefahren der Zersplitterung verkennt. Es ist lediglich ein erster Schritt, der an die Stelle der abstrakten Macht der bürokratischen Herrschaft eine überschaubare Ordnung setzt, die dem entspricht, was sich die Menschen vor Ort wünschen.
In aller Kürze heißt das z.B. für das Problem der Überfremdung:
- Überall in (West-)Europa gibt es ähnliche ethnische Bruchlinien. Europa muß dieses Problem deshalb gemeinsam bewältigen.
- Ein „Europa der Regionen“ ist eine denkbare Konsequenz aus der Herausbildung erster „gated communities“ und Parallelgesellschaften. Kubitschek und Paulwitz sprechen in Deutsche Opfer, Fremde Täter von einer drohenden „Brasilianisierung“. In diesem Szenario werden die Deutschen nur bestehen können, wenn sie in der Lage sind, eigene lokale Gemeinschaften zu bilden.
Wirtschaftsgeographisch würde ein „Europa der Regionen“ bedeuten:
- Daß es nur eine Frage der Zeit ist, bis es zu einem „fiskalischen Bürgerkrieg“ in Europa kommt, weil die Starken irgendwann nicht länger die Schwäche der Schwachen subventionieren wollen.
- Dies wiederum wird einerseits dazu führen, daß einzelne Konzerne in der Lage sein werden, faktisch die Macht in bestimmten Regionen zu übernehmen. Andererseits wird es Regionen geben, wo die Bürger das Heft selbst in die Hand nehmen. Dieses Szenario wirtschaftlicher Sezessionen haben Libertäre wie Hans-Hermann Hoppe schon vor Jahren durchdacht. Ihr Fehler jedoch: Sie stellen sich das Ergebnis der Sezessionen als ein wünschenswertes Endstadium vor, das endlich die Freiheit der Bürger durchsetzt. Das ist utopisch.
Der Vorwurf, ein „Europa der Regionen“ sei ein Rückfall in die Kleinstaaterei des 19. Jahrhunderts, erweist sich damit als unsinnig, weil sich die historischen Situationen nicht ähneln. Selbstverständlich wird ein sehr föderalistisches Europa auf einen gemeinsamen Wirtschaftsraum setzen und auch gegen gemeinsame Währungen ist solange nichts einzuwenden, wie sie für alle Beteiligten von Vorteil sind. Dennoch: „Europa braucht den Euro nicht“, es ist kulturell viel reicher und muß an viel längere Traditionen anknüpfen als ein waghalsiges Währungsprojekt.
Die dritte Pflicht der Machtlosen ist es schließlich, mit gutem Beispiel voranzugehen. Ich möchte überhaupt keinen Hehl daraus machen, daß meine Skepsis gegenüber der Zukunftsfähigkeit des deutschen Nationalstaates jenseits aller theoretischen Überlegungen einen ganz pragmatischen Grund hat: Mein Naturell verbietet es mir, ein Leben lang auf Veränderungen an der Spitze der Bundesrepublik zu warten. Auch der individuelle Waldgang und die Position einer Wahrnehmungselite sind nichts für mich.
Der Maßstab, den ich an meine eigene Lebensleistung in zehn oder zwanzig Jahren anlege, wird nicht die Erfolge in publizistischen Grabenkämpfen beurteilen. Bei allem Respekt vor der schreibenden Zunft wird entscheidend sein, welche handfesten, bleibenden Dinge ich aufgebaut habe. Für meine Region fallen mir dabei eine ganze Menge Projekte ein, die in den nächsten Jahrzehnten angegangen werden müssen. Was die Rettung des deutschen Nationalstaates hingegen betrifft, sind alle Großanstrengungen (Stichwort: Parteigründung von rechts) der letzten Jahrzehnte erfolglos geblieben.
Martin Lichtmesz
Sieh an, "weiß" Sarrazin das? Daß es machttechnisch "sinnlos" ist, wenn ein politischer Kommentator mit dem GG "herumwedelt", weiß ich auch. Daraus kann ich auf Machtverhältnisse schließen. Ich weiß auch, daß es vermutlich sogar machttechnisch "sinnlos", wenn nun die Karlsruher Richter verzweifelt mit dem GG "herumwedeln", wie es ihr Job ist und wie sie es ohnehin zu wenig getan haben bisher. Daraus kann ich auch auf Machtverhältnisse schließen. Aber was folgt daraus über das GG und das Verfassungsgericht? Ist das eine uninteressante, unerhebliche Frage?
Ich weiß des weiteren, daß es in den letzten Jahrzehnten machttechnisch äußerst effektiv war, wenn der Verfassungsschutz mit dem GG "herumgewedelt" hat, um politische Gegner mundtot zu machen und unter "Verdacht" zu stellen. Oder daß Schäuble und andere in letzter Zeit auffällig viel mit dem GG "herumgewedelt" haben, um den Verfassungputsch, vor dem man nicht mehr "warnen" muß, weil er schon geschieht, zu einem gegebenen Zeitpunkt zu legitimieren und legalisieren. Oder, daß sich, wie Klonovsky einmal bemerkte mit dem "Verfassungspatriotismus" zuerst der Patriotismus und dann die Verfassung auflöst, was auch von theoretischem Interesse sein sollte.
Und nun, Felix, ist es auch "sinnlos", genau diese Vorgänge präzise zu beschreiben?
Dann dürfte auch die Zunft der Staats-, Volks- und Verfassungsrechtler mitsamt ähnlichen "Idealisten" und "Träumern" einpacken gehen, wenn angesichts des Zynismus der Macht ohnehin schon alles egal ist. (Erzähl uns was Neues über die Hintertüren der Machtmenschen.) Mit einer rein zynischen Haltung zur Legalität wirst Du auch Dein künftiges und hoffentlich korruptionsfreies Fürstentum Chemnitz im regionalistischen Europa nicht aufbauen können. (Vielleicht hast Du ja auch vor, Dich gleich unter Umgehung bindender Gesetze zum autokratischen Absolutisten zu erklären, dann wird bei euch wenigstens weniger geheuchelt als in der alten BRD.) Ohne "Glaube" an die Geltung der Legalität lassen sich auch keine Leges begründen. Und wenn ich anhand dieses Maßstabs feststelle, daß konkrete Leges gebrochen wurden, bin ich ja auch kein "idealistischer Träumer". Genausogut könnte ich sagen, daß wer Diebstahl Diebstahl nennt, ein "idealistischer Träumer" sei, der immer noch glaubt, daß nicht mehr geklaut wird, wenn Diebstahl verboten ist.
Der Nationalstaat geht ja nicht unter. Er wechselt nur den Besitzer. Auch das zu beschreiben wird "in der jetzigen Lage" nicht unerheblich sein, und ist jedenfalls mehr "Hier und Jetzt"-Praxis als von einem etwaigen "Europa der Regionen" im Jahre Schnee zu ... träumen.