Chance für den Aufgang einer anderen Gestimmtheit sehen. Diese andere Gestimmtheit könnte sich niederschlagen in der Wiederentdeckung jener Autoren, die der in den vergangenen Jahrzehnten wirkmächtigste Kritiker deutscher Zunge, Marcel Reich-Ranicki, zerdrückt hat. Allen voran: Gerd Gaiser.
Über diesen Gerd Gaiser habe ich einmal ein Autorenportrait geschrieben, er hat mit Die sterbende Jagd einen Fliegerroman verfaßt, in dem Aussichtslosigkeit und Pflichterfüllung in eine seltsame Gleichgültigkeit führen. Magisch im Ton sind die Erzählungen Gib acht in Domokosch oder Der Mensch, den ich erlegt hatte, und diese Texte hatten Gaiser zu einer führenden Stimme der deutschen Nachkriegsliteratur gemacht – bis Walter Jens und dann vor allem Reich-Ranicki auf den Plan traten, um diesen konservativen Autor zu erledigen.
Nun genügten Analysen und Kritiken noch nicht, um Gaiser als Gallionsfigur in Frage zu stellen, man mußte eine andere Gallionsfigur vorschlagen,
bekannte Reich-Ranicki nach getaner Tat, und so habe er
das seinige getan, um mitzuwirken bei der Schaffung einer anderen Gallionsfigur, die, ich will es offen sagen, ohne dem Verstorbenen ein Unrecht anzutun, nur eine Notlösung war. Ich meine Heinrich Böll.
Das ist, pardon, war typischer Reich-Radetzky-Ton: der Strippenzieher, der Überblicksleser, der Kritik-Stratege, der Leute warf oder hob, und der selbst diejenigen, die er hob, noch schnell vor Publikum demütigte. Dies ist übrigens nur ein Kennzeichen der Überheblichkeit von Kritikern bei gleichzeitigem Minderwertigkeitskomplex: Zum Autor hats halt nicht gereicht, obwohl man alles besser weiß …
Das Reich-Ranicki einer der Erfinder des Kritikers als einer selbständigen Figur des Literaturbetriebs im Zeitalter der Massenmedien sei, hat Helmut Böttiger in seinem Buch über die Geschichte der Gruppe 47 herausgearbeitet. Ich habe dieses Buch in der 55. Sezession rezensiert und dabei über Reich-Ranicki geschrieben:
Weil letzterer noch besser als die anderen den medialen Unterhaltungswert der situativen Kritik begreift, wird er später den Klagenfurter Bachmann-Wettbewerb erfinden, in dem die jungen Autoren nur noch den Hintergrund bilden für den Auftritt einer sich produzierenden Jury.
Zu ergänzen wäre, daß sich das in dem ganz auf Reich-Ranicki zugeschnittenen literarischen Quartett noch steigerte und seine massenkompatible Ausmendelung in Dieter Bohlens verbalen und psychischen Vernichtungsorgien gegenüber seinen vorher geladenen Jedermann-Stars findet.
Reich-Ranicki hatte Unterhaltungswert, also Publikum, also Marktwert. Aber nicht nur deswegen war er sakrosankt: Es ist die Mischung aus jüdischer Herkunft, Holocaust-Schicksal, deutschem Schuldkomplex, hohem Wiedererkennungswert der Stimme und fehlendem Gegner, die ihn zur Kritik-Instanz in Deutschland machte, vor allem, nachdem seine konservativen Kontrahenten Friedrich Sieburg, Hans Egon Holthusen und Curt Hohoff verstummt waren. Und so konnte er 1964 folgendes äußern:
Und gern möchte ich wissen, was ein Mann wie Gerd Gaiser auf der Zuhörertribüne des Auschwitz-Prozesses fühlen und denken würde. Das meine ich ganz ohne Ironie und Bosheit. Er hat damals mitgemacht, seither viele Bücher verfaßt, die aber, meiner Ansicht nach, fast immer von demselben Geist zeugen. Ist es denkbar, daß er sich tatsächlich nicht geändert hat? Ich möchte es doch nicht glauben.
Gaiser war danach fertig, erledigt, er, der Jagdflieger und Verfasser eines nationalsozialistisch angehauchten Gedichtbändchens (1941), der damals von nichts wußte, dennoch teuer für seine Vergangenheit bezahlte und dann 1968ff mitansehen mußte, wie auch seine Studenten (er lehrte Kunstgeschichte) Plakate jener Mao, Ho Chi Min und Lenin durch die Straßen trugen, von deren millionenfachem Mord man alles jederzeit wissen konnte.
Auch über Reich-Ranicki kann man mehr wissen, als alle wissen wollen. Ronald Gläser hat das 2009 für das Magazin eigentümlich frei zusammengefaßt, hier nachzulesen. Kann man – auch vor diesem Hintergrund – Gerd Gaiser rehabilitieren? Die Erbin seiner Buch-Rechte ist vernagelt, sonst wäre in der edition nordost längst Die sterbende Jagd angekündigt. Es gibt derlei Veröffentlichungsverhinderungsstrategien, angesichts derer man Lust auf Samisdat-Methoden bekommt …
Für heute bloß: Der Reich-Radetzky-Marsch erklingt nicht mehr, es ist Platz für andere Töne. Und: Wer ein bißchen mehr erfahren will über die Zerstörung der deutschen Literatur nach dem Kriege, der kann zur Literatur aus der Schuldkolonie greifen, die Thorsten Hinz verfaßt hat. Von diesem 20. kaplaken-Bändchen sind gerade mal noch zwölf Exemplare zu haben. Eine 2. Auflage wird es nicht geben.
Zuallerletzt – Michael Klonovskys Notiz zum Ereignis, datiert vom 19. September, also heute:
Er sei “das Gesicht der deutschen Literatur” gewesen, schreibt die “Welt” in einem Anfall von nekrologischer Pathosbesoffenheit über Marcel Reich-Ranicki. Aber nicht doch, er war, indem bei seiner Art, Literatur aufzunehmen, der Allerwerteste das Gehirn dominierte, allenfalls ihr Gesäß.
Kiki
Vor allem war er faules Fleisch vom faulen Fleische der Bundesrepublik; ein würdiger Repräsentant eines staatlich-kulturellen Gebildes, welches völlig von Kreaturen wie den Dodererschen HausmeisterInnen beherrscht, dominiert und geprägt wird.
Jemand wie der jüngst Verstorbene wäre in den großen Zeiten und Zentren der deutschen Kunst und Kultur wie zB im Wien der Jahrhundertwende allenfalls Tellerwäscher oder Eckensteher geworden, bei etwas Anstrengung vielleicht noch Schmierant; mehr wäre weder ihm noch allen anderen BlindgängerInnen der Butzelrepublik unter lebensechten Bedingungen gar nicht möglich gewesen.
Herr Klonovsky hat - wie so - oft recht, wobei man den Vergleich mit dem Hintern für die ganze Legion des derzeitigen "Eliten"personals hierzulande ziehen dürfte.
"Die sterbende Jagd" gibt es wenigstens antiquarisch und immer wieder auf kirchlichen Bücherflohmärkten, wenn das GemeindereferntIn schwungvoll den alten Mist aus der Pfarreibibliothek aussondert. Dort liegt Gerd Gaiser dann in der 50-Centkiste neben Bergengruen, Schneider, Hünermann und wartet auf brave Seelen, die ihn und die anderen bergen, weitergeben oder im heimischen Keller aufbewahren - für bessere Zeiten.