Der »Radardenker« ist eine typische Figur aus dem Kabinett Gottfried Benns. Dieser expressionistische Lyriker und Vordenker hatte den »Neuen Staat« bis etwa 1936 als große Chance begrüßt (oder verkannt), über die Kunst direkt in die Formung eines neuen Menschenschlags einwirken zu können – berühmte Essays wie Dorische Welt (1933) zeugen davon. 1936 war Schluß mit derlei Vorstößen.
Es folgten die Innere Emigration in die Wehrmacht und der Versuch, die Verbindung zwischen Kunst und Leben in vier Ansätzen auszuloten: Weinhaus Wolf (1936), Roman des Phänotyp (1943/44), Der Ptolemäer (1946/47) und Der Radardenker (1949).
Wer die Arbeit des 1981 geborenen Literaturwissenschaftlers Till Röcke liest, wird in die unterschiedlichen Grundpositionen der Benn’schen Weltbetrachtung eingeführt und weiterbefördert zu einer intensiven Interpretation der letzten der poetischen Trägerfiguren: Der »Radardenker« ist einer, der mit feinem Sensorium auftaucht und Eindrücke sammelt, für die ihm die Ordnungskriterien abhanden gekommen sind, während doch alles in ziemlich normalen Bahnen abzulaufen scheint. Der Radardenker kann die Einzelheiten kaum in einen Zusammenhang bringen, und das ist nun schon sehr gekonnt, wie Till Röcke diese Figur interpretiert und ihre Relevanz für die Haltung des Künstlers in der geronnenen, technokratischen Massengesellschaft herausschält. Der »Radardenker« ist wohl die empathischste Figur des im Kern asozialen Gottfried Benn, die Grundfrage lautet: Kann man anknüpfen, sich beteiligen? Nach allen Verständnisversuchen muß Benn zu dem Schluß kommen: Kann man nicht, selbst dann nicht, wenn man – wie der Radardenker – autonom ist und sein Instrumentarium zu bedienen weiß. Und so ist es wie immer bei Benn: Das »Fehlen einer ordnenden Klammer ist der Beginn der Dichtkunst«, man legt seine Köder aus, und diejenigen, die sich locken lassen, sind die Besten.
Röcke hat bisher zweimal für Sezession zur Feder gegriffen: 2008 und 2009 steuerte er über Benn und über das Futuristische Manifest Texte bei, die nicht nur seine innere Nähe zu Benn belegen, sondern auch die Annäherung an dessen Sprachstil. Diese Methode ist auch im Traktat über den Radardenker das Grundgerüst: Röcke leuchtet den Erkenntnisprozeß noch einmal gründlich in jenen artifiziellen Räumen aus, in denen auch Benn regelmäßiger Besucher war – gemäß der lapidaren Zuschreibung Arnold Gehlens: »Die künstlerische und wissenschaftliche Kultur wird an den Frontstellen Virtuosenreservat«. Kann man, kann Röcke in der Beschreibung eines Virtuosenreservats überhaupt weiter vorstoßen?
Wer die Frage so formuliert, hat die Entmachtung des Künstlers akzeptiert, die Gehlen mit seinem Aufsatz über »Die Seele im technischen Zeitalter« in dem ihm eigenen Pathos der Kälte festgestellt hat: Bei Gehlen klingt das immer ein bißchen schmeichelhaft für die Virtuosen, die sich – im Neonlicht des gesellschaftlichen Komplexes betrachtet – nur noch gegenseitig ihre irrelevante Frontstellung bestätigen. Dabei meint er es knallhart: »Kultur ist doppelsinnig: sie kann die Verklärung der Größe eines Volkes sein, aber auch die Lebensform der Entmachteten«. Die Frage muß also anders gestellt werden: Ist der Front-Künstler, der Radardenker, überhaupt ein Reservatbewohner, oder ist er – viel schlimmer! – nicht doch mitten drin in der Gesellschaft und sucht dort nach einer Front, die es natürlich gar nicht mehr gibt? Ja, sagt Röcke, so ist es. Es ist so, der Radardenker ist der x‑te Versuch, obwohl die Teller längst ausgelöffelt sind.
Aber Benn redet nochmals darüber, und für diesen lautstarken, weil wortreichen Sättigungsversuch vor leeren Schüsseln formuliert Röcke das schönste Bild seines Bändchens: »Doch Benn kratzt noch mal die Ränder aus.« Den Begriff »Wahrnehmungselite« vermeidet Röcke, aber nichts anderes meint er: mehr wissen, keine Illusionen mehr hegen, alles aus dem Ich schöpfen und – siehe Benn – die Virtuosität ausgebildet haben, dies alles zur Sprache bringen zu können. Das ist natürlich »Sezession«, ist das Konzept der Romantik, dieser Selbsterregenden, die der Autonomie der Kunst in ihren Geist-Kommunen huldigten und nur dort (also: gesellschaftsabgewandt) zu strahlen begannen.
Röckes Arbeit über den »Radardenker«: Das ist eine expressive Endstation, eine auch in Form und Satz exklusive Arbeit, wie sie derzeit nur in Virtuosenreservaten Form annehmen kann.
Till Röcke: Radardenker. Traktat über Gottfried Benns »Phase II«, Treuenbrietzen: Telesma 2013. 150 S., 14.95 €