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»Mitleid!« sagte der Konsul. »Immer dieses erbärmliche, widerliche, hassenswerte Mitleid! Ich weiß, Sie nennen es Nächstenliebe, Solidarität, Weltgewissen und so weiter. Aber wenn ich Sie anschaue, sehe ich in jedem von Ihnen nur Selbstverachtung und Verachtung dessen, wofür Sie stehen. Vor allem, was soll das überhaupt heißen? Und wohin soll es führen? Bedenken Sie doch die Konsequenzen Ihres allzu willfährigen Mitleids! Das ist doch geradezu kriminell! Nur ein Wahnsinniger oder ein Verzweifelter kann so blind sein wie Sie!«
Mit verbundener Stirn sah sich der Konsul in seinem Büro einem Dutzend Personen gegenüber, die auf ihren Holzstühlen aufgereiht saßen wie Apostelfiguren auf der Fassade einer Kirche. Sie hatten alle dieselbe weiße Hautfarbe, dieselben schmalen Gesichter und dieselbe schlichte Kleidung – Shorts oder Leinenhosen, khakifarbene Hemden und Sandalen. Vor allem aber war in ihren Augen jenes gewisse, tiefe Flackern zu sehen, wie man es von Propheten, Schwärmern, Weltverbesserern, Fanatikern, Märtyrern, besessenen Verbrechern und halluzinierenden Visionären kennt, oder ganz einfach von all jenen, die ihr Bewußtsein gespalten haben, weil sie sich in ihrer eigenen Haut nicht wohl fühlen. Unter ihnen befand sich auch ein Bischof. Er unterschied sich jedoch in keiner Weise von dem Missionsarzt oder von dem säkularen Idealisten an seiner Seite. Auch der atheistische Philosoph und der abtrünnige katholische Schriftsteller, der zum Buddhismus übergetreten war, gehörten zum selben Typus. Die beiden letzteren waren die geistigen Köpfe der kleinen Gruppe. Sie alle schwiegen.
»Sie sind zu weit gegangen«, sagte der Konsul, »und Sie taten es mit Absicht, weil Sie konsequent Ihren Überzeugungen folgen. Wissen Sie, wie viele Kinder des Ganges Sie bislang nach Belgien geschickt haben? Ich spreche nicht einmal von Europa als Gesamtheit, wo einzelne nüchtern denkende Länder ihre Grenzen schon viel früher als wir dichtgemacht haben. Vierzigtausend in fünf Jahren! Dabei konnten Sie auf die zermürbten Seelen unserer braven Landsleute zählen, denen Sie systematisch alle möglichen Gewissensbisse eingetrichtert haben, um die christliche Nächstenliebe für Ihre seltsamen Zwecke zu mißbrauchen. Vor allem in unseren blühenden bürgerlichen Mittelschichten haben Sie erniedrigende Komplexe gezüchtet. Vierzigtausend! Etwa soviel wie die französischen Kanadier Mitte des 18. Jahrhunderts. Sie haben im Herzen unserer weißen Welt ein flächendeckendes Rassenproblem geschaffen, das uns alle zerstören wird. Und das ist offenbar Ihr Ziel. Keiner von Ihnen besitzt noch den Stolz seiner weißen Haut und weiß, was sie bedeutet.«
»Weder Stolz, noch überhaupt ein Bewußtsein dafür«, bemerkte eine der Statuen. »Das ist der Preis für die Gleichheit unter den Menschen. Wir werden ihn bezahlen.«
»Übrigens ist dies alles schon überholt«, fuhr der Konsul fort. »Es geht längst nicht mehr um Adoptionen, ob verboten oder nicht. Ich habe mit meinen europäischen Kollegen hier im Land telefoniert. Auch sie werden wie ich von schweigenden Menschenmassen belagert, die auf irgend etwas warten. Und sie haben nicht einmal Dekrete aushängen wie wir. Die Briten zum Beispiel haben ihre Visen stets nur tröpfchenweise verteilt. Und trotzdem wird auch ihre Botschaft von Zehntausenden Menschen belagert. Überall in der Stadt, wo eine europäische Fahne weht, hat sich eine Menge versammelt, ohne ersichtlichen Grund. Und das ist erst der Anfang. Man hat mir gemeldet, daß im Hinterland ganze Dörfer auf den Straßen nach Kalkutta unterwegs sind.«
»Richtig«, sagte eine Statue, deren Gesicht ein dichter blonder Bart zierte. »Viele sind aus Dörfern, die von uns betreut werden.«
»Dann sagen Sie mir doch bitte, was diese Leute von uns wollen! Was suchen sie? Auf was warten sie?«
»Offen gesagt, wir wissen es auch nicht.«
»Haben Sie wenigstens eine Ahnung?«
»Vielleicht.«
Ein merkwürdiges Lächeln huschte über die Lippen der bärtigen Statue. War er der Bischof? Oder der konvertierte
Schriftsteller? »Sie haben doch nicht etwa selbst …?« Der Konsul brach die Frage ab und deutete seinen Verdacht nur an. »Nein! Unmöglich! So weit würden Sie nicht gehen!«
»Das stimmt«, sagte eine dritte Statue (diesmal war es wohl der Bischof), »ich selbst wäre nicht so weit gegangen.«
»Sie haben also die Kontrolle verloren?«
»Sieht ganz so aus. In der Tat passieren gerade Dinge von außergewöhnlicher Bedeutung. Die Volksmenge hat davon
nur eine vage Vorstellung, ohne wirklich zu begreifen, was sich da zusammenbraut. Darf ich dazu eine Hypothese vorbringen? An die Stelle der vereinzelten Adoptionen, die so viele dieser armen Leute mit Hoffnung erfüllt haben, ist eine noch unglaublichere, geradezu irrsinnige Hoffnung getreten. Nämlich die auf eine Generaladoption aller. Es braucht von hier aus nicht mehr viel, um eine unaufhaltsame Dynamik in Gang zu setzen.«
»Da haben Sie ja ganze Arbeit geleistet, Hochwürden«, sagte der Konsul. »Sie sind mir ein Prachtexemplar eines römisch-katholischen Bischofs. Aufgestiegen zum Kondottiere der Heiden. Sie haben sich den Zeitpunkt gut ausgesucht. An Armen fehlt es nicht. Sie zählen Millionen! Das Jahr ist noch keine drei Monate alt, und schon ist die Hälfte dieser Provinz von Hungersnöten heimgesucht. Die Regierungen dieser Gebiete sind völlig überfordert. Was auch kommen mag, sie werden sich die Hände in Unschuld waschen. Das haben sie uns heute morgen unmißverständlich mitgeteilt. Und was machen Sie unterdessen? Sie ›legen Zeugnis ab‹. So nennt man das doch in Ihren Kreisen, nicht wahr? Sie legen Zeugnis ab. Von was eigentlich? Von Ihrem Glauben? Ihrer Religion? Ihrer christlichen Kultur? Keineswegs. Sie legen Zeugnis ab wider sich selbst. Sie sind zu einem Verächter des Abendlandes geworden.
Glauben Sie denn, daß die armen Teufel, die ihnen nachlaufen, das nicht merken? Blasse Haut und blasse, schwächliche Überzeugungen, das ist in ihren Augen eins. Sie wittern deutlich, daß Sie sich selbst aufgegeben haben, und Sie haben sie auch noch auf diese Spur geführt. Von all Ihren Predigten haben diese Leute nichts weiter behalten, als daß das Abendland stinkreich ist. Und in Ihnen sehen sie einen symbolischen Vertreter dieses Überflusses. Sie repräsentieren den Reichtum einer anderen Welt, und durch Ihre bloße Anwesenheit vermitteln Sie Ihren Schäfchen, daß Sie ein schlechtes Gewissen haben, wenn Sie diesen nicht mit ihnen teilen. Das ist ja sehr hübsch, wie Sie alle die Asketen spielen und den Curry mit der Hand essen, wie Sie das Land mit Experten überziehen, die ihre Weisheiten verbreiten und leben wie die Bauern.
Aber Sie sind für dieses Land nichts weiter als eine permanente Versuchung. Das müssen Sie doch wissen. Nach all unserer Entwicklungshilfe, nach all unserer ärztlichen Versorgung und all unserer technischen Beratung haben die Armen herausgefunden, daß es einfacher ist, Sie anzuflehen: ›Nimm meinen Sohn, nimm meine Tochter, nimm mich selbst und meine ganze Familie, und führe uns in dein Land.‹ Diese Idee hat sich rasch verbreitet, und flugs ist sie Ihnen über den Kopf gewachsen. Eine Flut, eine unkontrollierbare Flutwelle bahnt sich an. Gott sei Dank liegt noch ein Meer zwischen diesem Land und unserem Europa!«
»Ja, das Meer ist noch da! In der Tat, es ist noch da«, sagte eine vierte Statue, die diesen Gedanken offenbar erst durchsickern lassen mußte. »Für Leute Ihres Schlags«, fügte der Konsul hinzu, »gibt es einen althergebrachten Namen: Verräter. Der Fall ist nicht neu. In der Geschichte gab es oft genug Bischöfe, Generäle, Minister und Intellektuelle, die Verrat begingen. Diese Sorte Mensch scheint in Europa um so üppiger zu gedeihen, je mehr es zusammenschrumpft. Eigentlich sollte es genau umgekehrt sein, aber der Geist verfällt und das Herz wird unsicher. Gewiß, da kann man wohl nichts mehr machen. Auch ich bin machtlos. Aber selbst wenn ich mich über seine Folgen täuschen sollte: Ich mißbillige Ihr Handeln zutiefst. Ihre Pässe werden nicht mehr erneuert. Dies ist das einzige Mittel, das ich noch habe, um meiner Mißbilligung offiziellen Ausdruck zu verleihen. Meine europäischen Kollegen tun im Augenblick das Gleiche mit ihren eigenen Verrätern.«
Die Statue, die vom Meer gesprochen hatte, erhob sich. Diesmal war es der atheistische Philosoph, der hierzulande unter dem Namen Ballan bekannt ist. »Pässe, Nationen, Religionen, Ideale, Rassen, Grenzen und Meere – alles Quatsch!« sagte Ballan. Ohne ein weiteres Wort verließ er den Raum. »Ich danke Ihnen dafür, daß Sie mir zugehört haben«, sagte der Konsul. »Wir werden uns wohl nicht mehr wiedersehen. Mein Amt hat keinerlei Bedeutung mehr für Sie. Ich nehme an, daß Sie deshalb so geduldig waren. Wie mit einem Sterbenden.«
»Irrtum«, sagte der Bischof, »wir werden beide sterben, auch wenn wir auf gegenüberliegenden Seiten stehen. Ich
werde Indien nicht mehr verlassen.«
Nachdem Ballan durch das Gittertor des Konsulats gegangen war, hatte er sich einen Weg durch die Menge gebahnt.
Ein paar besonders monströse Kinder klammerten sich an seine Beine und sabberten auf seine Hosen. Ballan und die
Mißgeburten zogen sich gegenseitig magisch an. Er stopfte klebrige Bonbons, die er stets bei sich trug, in ihre unförmigen Mäuler. Als er den großen Fäkalienfürsten erblickte, auf dessen Schultern immer noch das scheußliche Totem saß, rief er ihm zu: »Und du, Kotkneter, was suchst du hier?«
»Nimm uns mit, ich bitte dich.«
»Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein.«
»Heute noch?« stieß der arme Teufel ungläubig hervor.
Ballan lächelte ihn liebevoll an. Vielleicht ist dies eine Erklärung?
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