Schwierig auch, nichts über die Tat in Halle zu schreiben. Noch schwieriger in jedem Fall, da diese Kolumne ja einer gewissen Themenbindung unterliegt, die schon häufig genug ausgereizt wird. Wie auch immer, ich habe ein bißchen gesucht und bin fündig geworden.
Die Frage danach, wie ein Volk mit seinen Opfern umgeht, auch danach, was zu welcher Zeit überhaupt darunter verstanden wird, ist in der Beurteilung einer Gesellschaft nicht zu unterschätzen. Daß es einen Unterschied zwischen victim und sacrifice gibt, wußte nicht nur René Girard, es wird auch deutlich, weil letzteres in der Öffentlichkeit dieser Tage schlechterdings keine Rolle mehr spielt, während ersteres eine nahezu allumfassende Geltungshoheit erfährt.
Die Gedenkveranstaltungen wollen „den Opfern eine Stimme geben“, überhaupt gibt es inzwischen allenthalben auch Opferorganisationen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, den hierarchisch geordneten victims zur Geltung zu verhelfen, oder sie überhaupt erst über ihren Opferstatus aufzuklären.
Auch im Fall des „Livestream-Terrors“ (Sellner) von Halle verhält es sich so. Nachdem zu Beginn ein starker Fokus auf dem Täter Stephan B. lag, gingen die Bilder der zwei Erschossenen durch die Medien, es gab Informationen aus dem Privatleben und Interviews. Es ist anzunehmen, daß das schon seine Richtigkeit haben wird, will man doch die sinnlos erscheinenden Auslöschung irgendwie wieder gut machen – ein kleines Bißchen Ruhm und Anerkennung für diejenigen, die damit nichts mehr anfangen können.
Fast nichts war indes zu lesen über diejenigen, die sich dem Täter entgegenstellten und überlebten. Wenig nur hörte man von jenem angeschossenen Elektriker, der dem Amokschützen in Wiedersdorf trotz vorgehaltener Waffe die Herausgabe eines Wagens verweigerte und gemeinsam mit seiner Frau niedergeschossen wurde.
Auch die Tat eines anonymen LKW-Fahrers, der auf Bitten der Polizei hin das auf ihn zurasende gestohlene Auto in einer Baustelle blockierte und so die Festnahme von Stephan B. ermöglichte, verschwand irgendwo zwischen Synagogentür und „Kiez-Döner“ – wohl auch, weil er allem Anschein nach nicht verletzt wurde.
Verstehen Sie mich nicht falsch: Es ist schon gut, daß es an diesem Tag kein sacrificium gab; daß kein Polizist, oder wackerer Passant seinen Einsatz mit dem Leben bezahlen mußte. Vor allem ist es auch gut, weil unser Volk, so wie es heute verfaßt ist, mit dieser Art von Opfer wohl gar nicht umgehen könnte, weil es in der DNA dieser Gesellschaft liegt, die Opfer ihrer Feinde zu glorifizieren und die Schlagzeilen für ihre Helden der Bildzeitung zu überlassen.
Ich bin allerdings, um ehrlich zu sein auch froh, daß die Namen des Elektrikers und des Lastwagenfahrers den meisten gar nicht bekannt sind. Sie würden – gleiches gilt für den Namen des Streifenpolizisten, der Stephan B. auf 50 Meter Distanz mit einer Handfeuerwaffe in den Hals schoß und so in die Flucht schlug – doch nur öffentlich zerissen werden. Entweder von der Arroganz derer, die genau zu wissen meinen, was man hätte besser machen können, oder vom Zynismus der abseitigen Minusmenschen, die dem Täter einen höheren “Score” gewünscht hätten.
Ich möchte Sie trotzdem einladen, liebe Leser, gedenken Sie nicht nur der Opfer. Gedenken Sie derjenigen, die in einer Ausnahmesituation die richtige Entscheidung trafen, ihre Angst besiegten und durch ihren Einsatz Leben gerettet haben. Ich fürchte, wir brauchen solche Menschen in Zukunft noch oft.