Jean Raspail ist tot

Am 13. Juni ist der französische Schriftsteller Jean Raspail, weltreisender Entdecker und Generalkonsul von Patagonien, verstorben.

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

Er wur­de vier­und­neun­zig Jah­re alt. Antai­os pflegt sein Werk seit sie­ben Jah­ren, und ich will nun als Ras­pails Ver­le­ger eini­ge Sta­tio­nen notieren:

Ich las Ras­pail, bevor ich ihn als den ken­nen­lern­te, der er für unse­re Sache als Autor ist. Sie waren die Ers­ten lau­tet der Titel eines ver­grif­fe­nen Buches, das Ras­pail über sei­ne Fahrt zu den Ala­ka­louf, den eben­so unan­sehn­li­chen wie unvor­stell­bar abge­här­te­ten Feu­er­land­in­dia­nern schrieb.

Die­se Rei­se und der Bericht über einen Fran­zo­sen, der sich zum König von Pata­go­ni­en aus­rief, begrün­de­te jenes “Ander­land”, zu dem sich hin­ge­zo­gen fühlt, wer etwas für Kämp­fe auf ver­lo­re­nen Pos­ten übrig hat. Ras­pail trat die­ses Erbe aus Traum, Lächer­lich­keit und hei­li­gem Ernst an, und ich habe von ihm vor drei Jah­ren end­lich mei­ne zwei­te Staats­bür­ger­schaft aner­kannt bekommen …

Kon­rad Weiß hat für unse­re Zeit­schrift über die­ses könig­li­che Spiel des “Pata­go­nis­mus” einen fein­sin­ni­gen und umfas­sen­den Auf­satz geschrie­ben – man kann ihn hier lesen.

Jeden­falls fiel mir die­se frü­he Ras­pail-Lak­tü­re erst wie­der ein, als mich ein begeis­ter­ter Leser davon über­zeug­te, die von ihm nach Fei­er­abend mit gro­ßer Sorg­falt und sprach­li­cher Kraft fer­tig­ge­stell­te Über­set­zung des Romans Sie­ben Rei­ter ver­lie­ßen die Stadt zu ver­öf­fent­li­chen. Die­ses Buch ist inso­fern typisch für Ras­pails Werk, als in ihm ein bestimm­ter Typ Mann in aus­sichts­lo­ser Mis­si­on Hal­tung bewahrt bis zum bit­te­ren, aber außer­or­dent­lich ver­blüf­fen­den Ende.

Es geht dar­in um ein Fürs­ten­tum, des­sen Bewoh­ner (vor allem die jun­gen Leu­te) von einer uner­klär­li­chen Rase­rei befal­len wor­den sind und die Ord­nung zer­stört haben. Der Fürst schickt nun die letz­ten sie­ben Rei­ter sei­ner Gar­de ins Land. Sie sol­len ergrün­den, was geschah und wie es gesche­hen konnte:

Wir wer­den suchen müs­sen, jen­seits des­sen, was wir ken­nen und des­sen, was wir nicht ken­nen. Zuerst inner­halb unse­res eige­nen Lan­des und dann auch außer­halb der Gren­zen. Was geschieht um uns her­um? Was ist die Bedeu­tung von alle­dem? Es wäre die­ser Stadt nicht wür­dig, das Ende untä­tig abzu­war­ten, ohne nach einem Aus­weg zu suchen. Das ist der Befehl, den ich Ihnen gebe.

Die Sie­ben Rei­ter lie­gen mitt­ler­wei­le in der 3. Auf­la­ge vor und haben zusam­men mit Joa­chim Fern­aus Haupt­mann Pax die “edi­ti­on nord­ost” inner­halb von Antai­os begrün­det. In die­ser Rei­he ver­öf­fent­li­chen wir lite­ra­ri­sche Wer­ke, die wir ent­we­der künst­le­risch illus­trie­ren las­sen oder mit Fotos bebil­dern. Im Fal­le der Sie­ben Rei­ter ging die rus­si­sche Künst­le­rin Kris­ti­na Zie­ber ans Werk, und mir wur­de berich­tet, daß Ras­pail zunächst skep­tisch, nach Begut­ach­tung aber sehr zufrie­den mit Zie­bers kosa­ki­schem Stil war.

Eben­falls in der “edi­ti­on nord­ost” ist vor zwei Jah­ren Ras­pails Roman Die blaue Insel in deut­scher Über­set­zung erschie­nen. Dar­in sind die für Frank­reich kata­stro­pha­len und demü­ti­gen­den Wochen im Mai und Juni 1940 geschil­dert, in denen die deut­sche Wehr­macht das fran­zö­si­sche Heer nie­der­warf. Ras­pail stellt sei­nen Lands­leu­ten kein gutes Zeug­nis aus, stellt man­geln­de Hal­tung und Ver­fei­ne­run­gen von Aus­re­de und Ver­wei­ge­rung her­aus – und fin­det in einem wider­stän­di­gen, tap­fe­ren Kna­ben und Träu­mer wie­der­um die für ihn typi­sche Haupt- und Hoffnungsfigur.

Der Sech­zehn­jäh­ri­ge mit dem Kara­bi­ner trifft auf den Pan­zer eines Leut­nants v. Picken­dorff, jenes von Ras­pail erschaf­fe­nen ost­elbi­schen Adels, des­sen Ange­hö­ri­ge sich durch sein Werk zie­hen. Der Leut­nant aus der Blau­en Insel muß ein Nach­fah­re des Obers­ten v. Picken­dorff sein, der die Sie­ben Rei­ter anführte …

Für wen sind sol­che Bücher geschrie­ben? Jeden­falls für Män­ner, denn auch die Haupt­fi­gu­ren, die Hel­den sind immer Män­ner – stets gebil­det, stets vor­nehm, stets nicht Mas­se, stets vor­be­rei­tet für die paar Augen­bli­cke oder Sze­nen, in denen sie ihren Text auf­sa­gen und ihre Rol­le spie­len sol­len. Manch­mal ste­hen sie ein­an­der feind­lich gegen­über, aber sie erken­nen dabei eine tie­fe­re Form der Ver­bun­den­heit: So sein kann man nie allein.

Es lag vor die­ser Grund­stim­mung auf der Hand, die klei­ne Text­samm­lung aus Gesprä­chen und Auf­sät­zen, die in der rei­he kapla­ken erschie­nen ist, Der letz­te Fran­zo­se zu nen­nen. Soviel Abbruch, soviel Des­il­lu­si­on, soviel Wahr­neh­mung von groß­ar­ti­ger Ver­bor­gen­heit wie in der Per­son Ras­pail und in sei­nen Stel­lung­nah­men ist kaum ein zwei­tes Mal mög­lich. Aus sei­nem Text über “Die Tyran­nei des Duzens” lei­te­ten jeden­falls Ellen Kositza und ich zunächst spie­le­risch, mitt­ler­wei­le ernst und fremd das “Sie” für­ein­an­der ab.

Mit in Ras­pails kapla­ken auf­ge­nom­men ist der umfang­rei­che Essay “Big Other”. Ras­pail stell­te ihn einer Neu­aus­ga­be sei­nes ohne Zwei­fel berühm­tes­ten und berüch­tig­ten Werks vor­an: Das Heer­la­ger der Hei­li­gen liegt seit 2015 in der voll­stän­di­gen und auto­ri­sier­ten Über­set­zung vor: Mar­tin Licht­mesz hat sie besorgt und im Arbeits­pro­zeß fest­ge­stellt, daß die ers­te deut­sche Aus­ga­be aus den frü­he­ren Acht­zi­gern auf eine ent­lar­ven­de Art und Wei­se unvoll­stän­dig war: Was weg­ge­las­sen wur­de, damals, nahm dem Buch sei­ne Dif­fe­ren­ziert­heit und den kri­ti­schen Blick auf die Deka­denz und Daseins­ver­feh­lung jenes libe­ra­len Wes­tens, der die Auf­lö­sung aller Din­ge für Fort­schritt hält.

Fast jeder, der uns kennt, kennt die­ses Buch, des­sen Hand­lung dar­in besteht, daß eine Mil­li­on Inder auf klapp­ri­ge Käh­ne stei­gen, das Kap der guten Hoff­nung umfah­ren und an der fran­zö­si­schen Mit­tel­meer­küs­te anlan­den. Ras­pail schrieb die­sen Roman 1973. Der Jar­gon der Zivil­ge­sell­schaft von heu­te, die den unge­brems­ten Zustrom nach Euro­pa in den Medi­en, Par­la­men­ten, Kir­chen und Schu­len beklatscht und mora­lisch ver­kauft, ist unfaß­bar hell­sich­tig vor­weg­ge­nom­men – aber nicht ein­mal karikiert.

Jeden­falls kam unse­re neue, voll­stän­di­ge Aus­ga­be nur ein paar Mona­te vor Mer­kels Grenz­öff­nung in die Buch­lä­den: Das Heer­la­ger der Hei­li­gen wur­de als Buch zur Stun­de wahr­ge­nom­men und ist nach Rolf Peter Sie­fer­les kapla­ken Finis Ger­ma­nia der best­ver­kauf­te Titel von Antai­os. Die­ser Erfolg gip­fel­te in einer Thea­ter­in­sze­nie­rung, zu der Licht­mesz, Kositza und ich nach Reck­ling­hau­sen fuh­ren (ich habe hier dar­über berichtet).

Im Zusam­men­hang mit dem Heer­la­ger muß nun noch ein ver­bor­ge­nes Spiel ans Licht, das ich trieb: Ras­pail schrieb mir sei­ne Brie­fe natür­lich auf Fran­zö­sisch, und weil ich kein Wort davon kann, über­setz­te mir stets Bene­dikt Kai­ser Ras­pails Zei­len ins Deut­sche und mei­ne Ant­wor­ten ins Fran­zö­si­sche. Ich schrieb sie mit Fül­ler auf gutes Papier und schick­te sie nach Paris. Ras­pail lob­te zwei, drei Mal mei­ne vor­züg­li­chen Sprach­kennt­nis­se und lud mich eins Tages zu sich ein, weil er mir eine fran­zö­si­sche Erst­aus­ga­be des Heer­la­gers mit hand­schrift­li­chen Anmer­kun­gen über­ge­ben wollte.

Ich fuhr nicht, son­dern sand­te eine der Töch­ter, die, der Spra­che mäch­tig, mei­ne drin­gen­den Hin­de­rungs­grün­de vor­trug und das Spiel fort­setz­te. Ich bekam drei Tage spä­ter einen sehr vor­wurfs­vol­len Brief, in dem Ras­pail mich frag­te, wie ich dazu käme, eine Nach­fah­rin der v. Picken­dorffs allei­ne durch Paris zu schi­cken, noch dazu mit einem so schwe­ren Ruck­sack und ohne ein Zim­mer in einem ange­mes­se­nen Hotel. Er per­sön­lich habe eines aus­ge­sucht und die jun­ge Dame mit dem Wagen dort­hin gefahren.

Ich sand­te ihm ein Ori­gi­nal der Zeich­nun­gen zu den Sie­ben Rei­tern und bat förm­lich um Ent­schul­di­gung für die Hemds­är­me­lig­keit Ostel­bi­ens – das Gan­ze natür­lich hand­schrift­lich und in mei­nem feins­ten Französisch …

Was bleibt? Der Ring des Fischers, neben den Sie­ben Rei­tern mein liebs­tes Buch aus der Feder Ras­pails. Die­ser Titel ist vor unse­ren Lesern selt­sam ver­bor­gen geblie­ben – aber wer zugriff, fand Zugang zu dem, was den eigen­wil­lig Autor auch als Gläu­bi­gen umtrieb: daß das, was wir an gefal­le­ner Wür­de und Insti­tu­ti­on vor allem dadurch bewah­ren kön­nen, daß wir es aus dem “Reich der unge­leb­ten Mög­lich­kei­ten” her­über­zie­hen in eine Geschich­te, einen Roman.

Was also wäre, wenn die Avi­gnon-Päps­te eine gehei­me Linie aus­ge­bil­det hät­ten, wahr­haf­tig und ohne Prunk, eine Bene­dikt-Linie bis in unse­re Tage? Der Gedan­ke, daß unter uns Gläu­bi­ge leben und wan­der­ten, die ein­an­der an Zei­chen hin­ter Efeu und über Türen erkenn­ten: Was für ein Trost!

Daß Antai­os der Ver­lag wer­den konn­te, der Ras­pails Werk in Deutsch­land maß­geb­lich pflegt, ist eine groß­ar­ti­ge Sache, und Ras­pail war immer sehr zufrie­den mit der Gestal­tung sei­ner deut­schen Bücher. Bald ist die Über­set­zung eines neu­en Titels abge­schlos­sen. Er wird nun pos­tum erscheinen.

– – –

Sie­ben Rei­ter ver­lie­ßen die Stadt. Roman, 248 Sei­ten. Über­setzt von Horst Föhl.

Die blaue Insel. Frank­reich 1940. Roman, 264 Sei­ten. Über­setzt von Kon­rad Her­mann Weiß

Der letz­te Fran­zo­se. kapla­ken 41, 96 Sei­ten. Über­setzt von Bene­dikt Kai­ser und Mar­tin Lichtmesz.

Das Heer­la­ger der Hei­li­gen. Roman, 416 Sei­ten. Über­setzt von Mar­tin Lichtmesz.

Der Ring des Fischers. Roman, 352 Sei­ten. Über­setzt von Joa­chim Volk­mann und Horst Föhl.

 

 

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

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Kommentare (15)

Maiordomus

14. Juni 2020 13:10

Verdienstvoll, dass Raspail nicht auf das "Heerlager der Heiligen" reduziert wird. Ein Buch, das ich im Rückblick auf die letzten 1000 Jahre der abendländischen Geschichte im Gegensatz zu respektierter Leserschaft nicht unbedingt nötig hatte. Die (natürlich unvollständige) Gesamtwürdigung bestätigt das als unentbehrlich einzuschätzende Engagement des Verfassers und Verlegers K. als Kulturvermittler. Gäbe es diesbezüglich eine Lücke, man müsste vom berühmt-berüchtigten gnostisch totalitären Frageverbot (E. Voegelin) sprechen: Von Nietzsches durchaus fragwürdigem "Entschluss zum Vergessen und Nichtwissenwollen", was meines Erachtens nicht dem "Willen zur Macht" als geistiger Freiheit, sondern dessen Gegenteil entsprechen würde. Schade, reicht  dieser Nachruf mutmasslich nicht mehr zur neuesten Nummer des von mir im Vergleich zum Blog hier stärker geschätzten gedruckten Heft.

Der_Juergen

14. Juni 2020 13:31

Es gereicht mir nicht zur Ehre, dass ich von Raspail nur "Le camp des saints" und die treffliche Übersetzung von Lichtmesz gelesen habe. Ich will diese Lücke nun zunächst teilweise schliessen und bestelle bei Antaios "Sieben Reiter verliessen die Stadt", parallel mit dem Original. Die Kenntnis u.a. der französischen Sprache ist eines der (vielleicht nicht allzu vielen) Dinge, die ich Kubitschek voraus habe. Die Posse mit der als Stellvertreterin entsandten Tochter hat mir ein Schmunzeln entlockt.

nom de guerre

14. Juni 2020 21:40

Nun, dann hatten Sie ja Glück, dass Raspail sich nie zu einem Gegenbesuch aufgemacht hat…

Raspails Bücher sind für mich eine Entdeckung, für die ich dem Antaios-Verlag dankbar bin. Es mag sein, dass sie in erster Linie für Männer geschrieben sind, wobei in „Sire“ mit Marie, der Schwester des jungen Philippe Pharamond, und der schwarzen, königstreuen Rose immerhin zwei bedeutende Frauenrollen enthalten sind, man muss aber kein Mann sein, damit sich einem die eigentümliche, wie ich finde traumartige Atmosphäre erschließt. Am deutlichsten ist sie bei den Sieben Reitern, aber auch bei den anderen Romanen scheint mir die Handlung nie ganz von dieser Welt. Das schätze ich an diesem Autor und freue mich, wenn ein weiteres Werk von ihm auf Deutsch zugänglich wird.

notker balbulus

15. Juni 2020 00:25

Ich bin sehr betroffen von der Nachricht von Jean Raspails Tod. Gerade in letzter Zeit erst habe ich die beiden idealistischen Romane "Der Ring des Fischers" und "Sire" für mich entdeckt, davor "Die blaue Insel" mehrfach gelesen, von den "Sieben Reitern" und dem "Heerlager der Heiligen" ganz zu schweigen. Letzteres lese ich gerade parallel zu den Ereignissen in den USA und bei uns und die Lektüre trifft mich existenziell wie beim ersten Mal vor wenigen Jahren.

Raspail war ein geradezu hellsichtiger Autor. Mit ihm schließt sich eine der wenigen Türen endgültig, die im "Anschwellenden Bocksgesang" von Botho Strauß ebenso hellsichtig beschrieben wurden.

Die Welt ist gestern deutlich ärmer geworden. Wahrscheinlich aber merkt sie es noch nicht einmal. Auch das ist ein typisches Zeichen unserer Zeit.

Andreas Walter

15. Juni 2020 06:42

Ein interessanter, spannender (und gut gemachter) Werbefilm dazu, den Kubitschek uns hier aber leider vorenthält:

https://youtu.be/ReXfCYasfKA

Wer hat den Clip produziert, oder genauer gefragt, fertigstellt, das Storyboard dafür geschrieben, die Musik ausgesucht? Wirklich Klasse. Es gibt lediglich eine kurze Szene, nur ein Bild, was mich stört.

antwort kubitschek:
Martin Lichtmesz und ich haben vor sieben Jahren für die ersten nordost-Bücher drei Filmchen gemacht. Für die "Sieben Reiter" hat Martin alte Aufnahmen aus der Sowjetunion zusammengestellt, die Musik stammt aus meiner Lieblingssymphonie von Casella: es ist der Anfang der 2.

Gustav Grambauer

15. Juni 2020 09:05

Hatte die Sieben Reiter mit meinem im Hinterkopf immer noch spukenden Kontrast des Siebten Kreuzes der Seghers gelesen, seinerzeit das Erklärbär-Buch für das "Deutsche Wesen", somit Pflichtlektüre für alle in Deutschland stationierten GIs, geschrieben in der typischen affektiert-suggestiven, alles-kitschig-ausschmücken-müssenden Seghers-Schreibe (unter dem bizarren Zwang, so etwas wie eine proletarisch-revolutionäre Grandezza und "menschliche Wärme" zu simulieren). Bei den Sieben Reitern hatte ich rückblickend den Eindruck, es sei das Original (von der Besetzung des Themas her, vom Esprit her, vom kalten, trockenen Stil her sowieso) und die Weltranglistenliteratur der S. eine billige Kopie. Insofern war die Lektüre bei aller Tragik eine besondere Wohltat!

- G. G.

Maiordomus

15. Juni 2020 09:55

@Notker Balbulus. Von Ihrem Pseudonym habe ich erstmals in einem schönen illustrierten Kinderbuch, geschenkt von meiner Tante, einer legendären Hebamme, Erfahrung gewonnen. Das war 1953, für mich sonst nur noch als das Todesjahr Stalins in Erinnerung. Der Bauernhof, in dem Notker der Stammler geboren sein soll (sicher Vorgängerbau), ist bei Jonschwil (Kanton St. Gallen) als Geheimtipp immer noch aufzusuchen.

Die Beiträge hier zeigen, dass ich und andere sich diesen Autor über seine Verschlagwortung hinaus unbedingt noch tiefer vornehmen sollten; es bestätigt sich auch durchaus ein "geheimes Europa", auf das es in diesen Tagen wie selten zuvor ankommt, jedenfalls mehr denn je. Es muss nicht immer nur ein "geheimes Deutschland" (Stefan Goerge) sein.

Franz Bettinger

15. Juni 2020 11:03

Nachdem ich die Sieben Reiter mit Faszination gelesen hatte, folgte die Blaue Insel. Unverblümte Sprache auch hier. Die Funktionalität der Schönheit, ihr intrinsischer Wert. Alles das könnte man gut verfilmen, besonders die Ankunftsszene von Lily Palma, S. 136. Ist der Roman autobiographisch, wie das letzte Kapitel suggeriert? Ist Jean Raspail jener körperlich zu kurz gekommene und bedauerliche "Hase“? Und unter welchem Künstlernamen wurde die schöne Figur der Maité de Réfort später berühmt? Mit den Informationen auf Seite 246 müsste sie zu identifizieren sein, aber ich habe’s nicht geschafft. Vielleicht weiß einer aus dem Forum Bescheid, vielleicht der andere Anderländer, GK?

Nemo Obligatur

15. Juni 2020 12:42

@nom de guerre

Raspails Bücher sind für mich eine Entdeckung, für die ich dem Antaios-Verlag dankbar bin

Da kann ich mich nur anschließen. Vielleicht mit einer kleinen Ergänzung. Das Heerlager der Heiligen wird hier zwar aus gutem Grunde als Schlüsselwerk gehandelt. Persönlich haben mir aber die Sieben Reiter und der Ring des Fischers besser gefallen. Ich denke, vor allem die Sieben Reiter werden immer ihre Leser finden. Der Schluss ist geradezu genial.

Angesichts des hohen Alters von Raspail empfinde ich bei der Nachricht seines Ablebens auch weniger Trauer über seinen Tod als vielmehr Dankbarkeit dafür, dass er uns dies Werk hinterlassen hat. Wir werden ihn nicht vergessen.

 

 

Maiordomus

15. Juni 2020 13:11

Bin gespannt, wie weit und ob die Mainstream-Presse sich Raspails überhaupt annimmt. Mein Beitrag oben im 2. Abschnitt an @Notker Balbulus meinte natürlich Raspail, nicht den genialischen St. Galler Mönch aus dem Mittelalter. Ratsam bleibt, der herrschenden Null-Epoche die Literatur der letzten 1000 bis 3000 Jahren entgegenzusetzen. Für diese Thematik scheint Bosselmann ein geeigneter Mitarbeiter für SiN. Was er über Bildung kritisch ausführt, scheint mir nicht das Gegenteil von Wilhelm Röpkes fast  55 Jahre zurückliegendem Aufsatz "Bildung und Wissenschaft in der Kulturkrise" zu sein, wiewohl damals das Gymnasium noch einen anderen Charakter hatte als heute. Freilich hat etwa Arnold Stadler in seinem Roman "Mein Hund, meine Sau, mein Leben" (Suhrkamp-Taschenbuch 2575) gezeigt, dass und warum es schon damals nicht stimmte: als nämlich verklemmte Veteranen aus der "Nazi"-Zeit allmählich durch 68er abgelöst wurden. Vom Regen in die Traufe!

Ein gebuertiger Hesse

15. Juni 2020 15:49

Großer alter Mann. Laßt uns mit gebührender Innigkeit unsere Dankbarkeit und Wünsche für sein Seelenleben ausschicken, er soll wissen, was er auf Erden in uns ausgesät hat.

Ertappte mich gestern, als ich die Trauernachricht las, bei dem blöden Gedanken: "Jetzt hat er das Elend hinter sich." Was reflexhafter, aufs bloße Heute bezogener Quatsch ist. Denn dort, wo so schöne und tiefe Bücher wie die seinen geschrieben werden konnten - und also können - darf das Elend in unseren Geistern nie tonangebend sein. Uns obliegt besseres als das, Raspail hat es vorgemacht.

 

nom de guerre

15. Juni 2020 17:33

@ Nemo Obligatur

„Das Heerlager der Heiligen wird hier zwar aus gutem Grunde als Schlüsselwerk gehandelt. Persönlich haben mir aber die Sieben Reiter und der Ring des Fischers besser gefallen.“

Ja, das geht mir auch so. Das Heerlager der Heiligen hat definitiv seinen Wert, die Hellsichtigkeit des Autors ist geradezu frappierend, aber es ist eben auch sehr böse und eklig. Vermutlich hätte ich, wenn das Heerlager mein erstes Buch von Raspail gewesen wäre, die anderen nicht gelesen. Stattdessen bin ich mit den Sieben Reitern eingestiegen, die ich, wie auch den Sire, sehr mag, Der Ring des Fischers hat mich aber am stärksten berührt. Ich bin ein bisschen verwundert, dass er, wenn ich Herrn Kubitschek richtig verstehe, eher wenige Leser gefunden hat.

Stefanie

15. Juni 2020 21:19

@nome de guerre und nemo obligatur

Mir ging es ähnlich: das erste Buch von Raspail, das ich las, waren die Sieben Reiter und die Atmosphäre darin hat mich sofort gebannt. Vielleicht eine Vorliebe für Dystopien?  Vielleicht auch daß Gefühl des Neuaufbruchs, nachdem eine Gessellschaft nun endlich komplett vom Wahnsinn dahingerafft wurde mit dem Zauber des Neubeginns, der z.T. durchscheint, dann das ernüchternde Ende... Anschließend den  Ring des Fischers: wieder kam darin dieser Zauber vor: die geheime Welt, die sich hinter dem Profanen verbirgt. Zum Heerlager der Heiligen kann ich mich nicht äußern, denn obwohl es mEn, das erste Buch war, das ich bei Antaois bestellt habe, harrt es immer noch im Regal darauf, gelesen zu werden. Ich kenne die Inhaltsangabe und habe ein paar mal versucht hineinzulesen, aber irgendwie konnte ich mich nie überwinden mich darauf einzulassen. -Vielleicht weil das Geschehen zu nah ist, zu sehr dem Wahn von 2015 ähnlich - das Gefühl, daß ich nicht bereit bin die literarische Kondensation dieser Erscheinung auszuhalten und durchdenken zu können. Ähnlich ging es mir bei Milan Kunderas "Unerträgliche Leichtigkeits des Seins" - daß stand auch 10 Jahre oder länger herum, lag ein paar mal in der Hand, aber erst später - und dann mit Gewinn gelesen. Jetzt bin ich fast froh darum, daß das "Heerlager" noch darauf wartet entdeckt zu werden - es ist dann wie eine Brücke zu einem Hellsichtigen, der leider nicht mehr in dieser Welt weilt, dessen Geist aber doch noch einen Zugang offen hält.

sokrates399

15. Juni 2020 22:27

Vor etwa einem Jahr schrieb ich folgendes über Heerlager S. 295:

 

Düster der Brand zur Linken verzehrt:

Menschheit zerstückelndes Fortschrittsfeuer,

Blut im Kessel verjüngender Flut,

Tilgt selbst im Feiern grausig aus, ob

Nürnberg, ob Peking: haßvoll die Henker,

Wenn auf dem Richtweg lachen die Opfer.

 

Fröhlich tanzen zur Rechten die Flammen,

Strahlend in Vielfalt, flackerndes Irrlicht

Schemend im dunklen, verbrannten Wald

Pyramiden von Schädeln, die der

Kult der Gleichheit zurückließ zur Linken.

 

Ausgebrannt werden alle Grenzen,

Nichts die Welt des gebärenden Weltgotts:

Tanze, auch wenn du ziellos, erloschen,

Letzte Kopie deines Urzeitichs,

Strandgut alles Vergangnen, Du

Flamme des Rechten, vive le Roi!

RMH

16. Juni 2020 07:05

"Vermutlich hätte ich, wenn das Heerlager mein erstes Buch von Raspail gewesen wäre, die anderen nicht gelesen."

Genau so erging es mir. Heerlager der Heiligen war ganz nett einmal gelesen zu haben, aber es hat bei mir keine Lust auf eine erneute Lektüre oder weitere Bücher des Autors ausgelöst. Ein guter Lektor hätte zudem sicher in Abstimmung mit dem Autor das "Heerlager" in passender Weise etwas gekürzt. Von daher danke für den Hinweis, Raspail steht dann doch wieder auf der Lektüreliste.

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