Er wurde vierundneunzig Jahre alt. Antaios pflegt sein Werk seit sieben Jahren, und ich will nun als Raspails Verleger einige Stationen notieren:
Ich las Raspail, bevor ich ihn als den kennenlernte, der er für unsere Sache als Autor ist. Sie waren die Ersten lautet der Titel eines vergriffenen Buches, das Raspail über seine Fahrt zu den Alakalouf, den ebenso unansehnlichen wie unvorstellbar abgehärteten Feuerlandindianern schrieb.
Diese Reise und der Bericht über einen Franzosen, der sich zum König von Patagonien ausrief, begründete jenes “Anderland”, zu dem sich hingezogen fühlt, wer etwas für Kämpfe auf verlorenen Posten übrig hat. Raspail trat dieses Erbe aus Traum, Lächerlichkeit und heiligem Ernst an, und ich habe von ihm vor drei Jahren endlich meine zweite Staatsbürgerschaft anerkannt bekommen …
Konrad Weiß hat für unsere Zeitschrift über dieses königliche Spiel des “Patagonismus” einen feinsinnigen und umfassenden Aufsatz geschrieben – man kann ihn hier lesen.
Jedenfalls fiel mir diese frühe Raspail-Laktüre erst wieder ein, als mich ein begeisterter Leser davon überzeugte, die von ihm nach Feierabend mit großer Sorgfalt und sprachlicher Kraft fertiggestellte Übersetzung des Romans Sieben Reiter verließen die Stadt zu veröffentlichen. Dieses Buch ist insofern typisch für Raspails Werk, als in ihm ein bestimmter Typ Mann in aussichtsloser Mission Haltung bewahrt bis zum bitteren, aber außerordentlich verblüffenden Ende.
Es geht darin um ein Fürstentum, dessen Bewohner (vor allem die jungen Leute) von einer unerklärlichen Raserei befallen worden sind und die Ordnung zerstört haben. Der Fürst schickt nun die letzten sieben Reiter seiner Garde ins Land. Sie sollen ergründen, was geschah und wie es geschehen konnte:
Wir werden suchen müssen, jenseits dessen, was wir kennen und dessen, was wir nicht kennen. Zuerst innerhalb unseres eigenen Landes und dann auch außerhalb der Grenzen. Was geschieht um uns herum? Was ist die Bedeutung von alledem? Es wäre dieser Stadt nicht würdig, das Ende untätig abzuwarten, ohne nach einem Ausweg zu suchen. Das ist der Befehl, den ich Ihnen gebe.
Die Sieben Reiter liegen mittlerweile in der 3. Auflage vor und haben zusammen mit Joachim Fernaus Hauptmann Pax die “edition nordost” innerhalb von Antaios begründet. In dieser Reihe veröffentlichen wir literarische Werke, die wir entweder künstlerisch illustrieren lassen oder mit Fotos bebildern. Im Falle der Sieben Reiter ging die russische Künstlerin Kristina Zieber ans Werk, und mir wurde berichtet, daß Raspail zunächst skeptisch, nach Begutachtung aber sehr zufrieden mit Ziebers kosakischem Stil war.
Ebenfalls in der “edition nordost” ist vor zwei Jahren Raspails Roman Die blaue Insel in deutscher Übersetzung erschienen. Darin sind die für Frankreich katastrophalen und demütigenden Wochen im Mai und Juni 1940 geschildert, in denen die deutsche Wehrmacht das französische Heer niederwarf. Raspail stellt seinen Landsleuten kein gutes Zeugnis aus, stellt mangelnde Haltung und Verfeinerungen von Ausrede und Verweigerung heraus – und findet in einem widerständigen, tapferen Knaben und Träumer wiederum die für ihn typische Haupt- und Hoffnungsfigur.
Der Sechzehnjährige mit dem Karabiner trifft auf den Panzer eines Leutnants v. Pickendorff, jenes von Raspail erschaffenen ostelbischen Adels, dessen Angehörige sich durch sein Werk ziehen. Der Leutnant aus der Blauen Insel muß ein Nachfahre des Obersten v. Pickendorff sein, der die Sieben Reiter anführte …
Für wen sind solche Bücher geschrieben? Jedenfalls für Männer, denn auch die Hauptfiguren, die Helden sind immer Männer – stets gebildet, stets vornehm, stets nicht Masse, stets vorbereitet für die paar Augenblicke oder Szenen, in denen sie ihren Text aufsagen und ihre Rolle spielen sollen. Manchmal stehen sie einander feindlich gegenüber, aber sie erkennen dabei eine tiefere Form der Verbundenheit: So sein kann man nie allein.
Es lag vor dieser Grundstimmung auf der Hand, die kleine Textsammlung aus Gesprächen und Aufsätzen, die in der reihe kaplaken erschienen ist, Der letzte Franzose zu nennen. Soviel Abbruch, soviel Desillusion, soviel Wahrnehmung von großartiger Verborgenheit wie in der Person Raspail und in seinen Stellungnahmen ist kaum ein zweites Mal möglich. Aus seinem Text über “Die Tyrannei des Duzens” leiteten jedenfalls Ellen Kositza und ich zunächst spielerisch, mittlerweile ernst und fremd das “Sie” füreinander ab.
Mit in Raspails kaplaken aufgenommen ist der umfangreiche Essay “Big Other”. Raspail stellte ihn einer Neuausgabe seines ohne Zweifel berühmtesten und berüchtigten Werks voran: Das Heerlager der Heiligen liegt seit 2015 in der vollständigen und autorisierten Übersetzung vor: Martin Lichtmesz hat sie besorgt und im Arbeitsprozeß festgestellt, daß die erste deutsche Ausgabe aus den früheren Achtzigern auf eine entlarvende Art und Weise unvollständig war: Was weggelassen wurde, damals, nahm dem Buch seine Differenziertheit und den kritischen Blick auf die Dekadenz und Daseinsverfehlung jenes liberalen Westens, der die Auflösung aller Dinge für Fortschritt hält.
Fast jeder, der uns kennt, kennt dieses Buch, dessen Handlung darin besteht, daß eine Million Inder auf klapprige Kähne steigen, das Kap der guten Hoffnung umfahren und an der französischen Mittelmeerküste anlanden. Raspail schrieb diesen Roman 1973. Der Jargon der Zivilgesellschaft von heute, die den ungebremsten Zustrom nach Europa in den Medien, Parlamenten, Kirchen und Schulen beklatscht und moralisch verkauft, ist unfaßbar hellsichtig vorweggenommen – aber nicht einmal karikiert.
Jedenfalls kam unsere neue, vollständige Ausgabe nur ein paar Monate vor Merkels Grenzöffnung in die Buchläden: Das Heerlager der Heiligen wurde als Buch zur Stunde wahrgenommen und ist nach Rolf Peter Sieferles kaplaken Finis Germania der bestverkaufte Titel von Antaios. Dieser Erfolg gipfelte in einer Theaterinszenierung, zu der Lichtmesz, Kositza und ich nach Recklinghausen fuhren (ich habe hier darüber berichtet).
Im Zusammenhang mit dem Heerlager muß nun noch ein verborgenes Spiel ans Licht, das ich trieb: Raspail schrieb mir seine Briefe natürlich auf Französisch, und weil ich kein Wort davon kann, übersetzte mir stets Benedikt Kaiser Raspails Zeilen ins Deutsche und meine Antworten ins Französische. Ich schrieb sie mit Füller auf gutes Papier und schickte sie nach Paris. Raspail lobte zwei, drei Mal meine vorzüglichen Sprachkenntnisse und lud mich eins Tages zu sich ein, weil er mir eine französische Erstausgabe des Heerlagers mit handschriftlichen Anmerkungen übergeben wollte.
Ich fuhr nicht, sondern sandte eine der Töchter, die, der Sprache mächtig, meine dringenden Hinderungsgründe vortrug und das Spiel fortsetzte. Ich bekam drei Tage später einen sehr vorwurfsvollen Brief, in dem Raspail mich fragte, wie ich dazu käme, eine Nachfahrin der v. Pickendorffs alleine durch Paris zu schicken, noch dazu mit einem so schweren Rucksack und ohne ein Zimmer in einem angemessenen Hotel. Er persönlich habe eines ausgesucht und die junge Dame mit dem Wagen dorthin gefahren.
Ich sandte ihm ein Original der Zeichnungen zu den Sieben Reitern und bat förmlich um Entschuldigung für die Hemdsärmeligkeit Ostelbiens – das Ganze natürlich handschriftlich und in meinem feinsten Französisch …
Was bleibt? Der Ring des Fischers, neben den Sieben Reitern mein liebstes Buch aus der Feder Raspails. Dieser Titel ist vor unseren Lesern seltsam verborgen geblieben – aber wer zugriff, fand Zugang zu dem, was den eigenwillig Autor auch als Gläubigen umtrieb: daß das, was wir an gefallener Würde und Institution vor allem dadurch bewahren können, daß wir es aus dem “Reich der ungelebten Möglichkeiten” herüberziehen in eine Geschichte, einen Roman.
Was also wäre, wenn die Avignon-Päpste eine geheime Linie ausgebildet hätten, wahrhaftig und ohne Prunk, eine Benedikt-Linie bis in unsere Tage? Der Gedanke, daß unter uns Gläubige leben und wanderten, die einander an Zeichen hinter Efeu und über Türen erkennten: Was für ein Trost!
Daß Antaios der Verlag werden konnte, der Raspails Werk in Deutschland maßgeblich pflegt, ist eine großartige Sache, und Raspail war immer sehr zufrieden mit der Gestaltung seiner deutschen Bücher. Bald ist die Übersetzung eines neuen Titels abgeschlossen. Er wird nun postum erscheinen.
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Sieben Reiter verließen die Stadt. Roman, 248 Seiten. Übersetzt von Horst Föhl.
Die blaue Insel. Frankreich 1940. Roman, 264 Seiten. Übersetzt von Konrad Hermann Weiß
Der letzte Franzose. kaplaken 41, 96 Seiten. Übersetzt von Benedikt Kaiser und Martin Lichtmesz.
Das Heerlager der Heiligen. Roman, 416 Seiten. Übersetzt von Martin Lichtmesz.
Der Ring des Fischers. Roman, 352 Seiten. Übersetzt von Joachim Volkmann und Horst Föhl.
Maiordomus
Verdienstvoll, dass Raspail nicht auf das "Heerlager der Heiligen" reduziert wird. Ein Buch, das ich im Rückblick auf die letzten 1000 Jahre der abendländischen Geschichte im Gegensatz zu respektierter Leserschaft nicht unbedingt nötig hatte. Die (natürlich unvollständige) Gesamtwürdigung bestätigt das als unentbehrlich einzuschätzende Engagement des Verfassers und Verlegers K. als Kulturvermittler. Gäbe es diesbezüglich eine Lücke, man müsste vom berühmt-berüchtigten gnostisch totalitären Frageverbot (E. Voegelin) sprechen: Von Nietzsches durchaus fragwürdigem "Entschluss zum Vergessen und Nichtwissenwollen", was meines Erachtens nicht dem "Willen zur Macht" als geistiger Freiheit, sondern dessen Gegenteil entsprechen würde. Schade, reicht dieser Nachruf mutmasslich nicht mehr zur neuesten Nummer des von mir im Vergleich zum Blog hier stärker geschätzten gedruckten Heft.