Nichts gilt mehr. Menschengemäße Grundsätze erheben aber den Anspruch, äußeren Verwerfungen zu widerstehen. Wie schaut Erziehung in der Gegenwart und für die Zukunft aus? Ich habe die zehn Grundsätze überdacht – herausgekommen sind sowohl Revision als auch Aufrechterhalten. Und die Feststellung am Rande, daß “überdacht” auch bedeuten kann, daß es ein Dach über unseren Köpfen gibt. Teil 1 von drei Folgen lesen Sie hier, die ersten drei Grundsätze lauten: Führung, Distanz, Gemeinschaft.
1. Führung ist die selbstbewußte, kenntnisreiche und situationsgerechte Durchsetzung des angemessenen, richtigen Verhaltens. Sie ist liebevoll und achtet die Freiheit des Kindes.
Uns Eltern wurde die Führung unserer Kinder in zuvor ungeahntem Ausmaß aus der Hand genommen, ebenso wie den Lehrern die Führung ihrer Schüler. An ihre Stelle wurden erstens obrigkeitsstaatliche Alltagsmaßregelungen und zweitens die elektronischen Geräte gesetzt. Eine Freundin schrieb mir, das verordnete “Online-Sein” ihrer Kinder fände sie schlimmer als “Corona”. Der Souverän ist einer Kulturrevolution zum Opfer gefallen, und dies nicht urplötzlich und unerwartet. Davon künden große Teile meines Buches, daß die Richtung etwa seit den 60er/70er Jahren des 20. Jahrhunderts bereits eingeschlagen wurde: die Familien und den Lehrer als Führer des Kindes abzusetzen. Als Elternhaus sich seine Führungsstärke bewußt zurückzuholen war 2019 mein Rat. Er erging an Eltern, die von “Augenhöhe”-Pädagogik, Gleichberechtigungsideologie und Dauerdiskussionen mit ihrem Nachwuchs entmutigt waren. Der Gegner war also wesentlich stärker als heute ein ideologischer, es handelte sich um eine Frage des elterlichen Wollens, der bewußten Wiederaneignung halbverschütteter Fähigkeiten.
Wenn uns durch “Homeschooling” (ein Hohn für Eltern, die sich echten häuslichen Unterricht zutrauen) die Möglichkeit genommen ist, die Digitalisierung wenn schon nicht total zu vermeiden, so doch in Hinblick auf Zeit und Inhalte zu dosieren, ist ein Gutteil dessen, wo “Führung” noch vor zwei Jahren als Gegenprogramm zum Sog der Bildschirme möglich war, nun unwiderruflich gefallen. Ein Narr, wer glaubt, daß distance learning nur eine Pandemie-Notstandsmaßnahme sei. Das wird bleiben.
Wir müssen als Eltern diese Absetzung verkraften. Das Wort Verkraften beinhaltet schon, daß aus einem Verwandlungsprozeß Kraft hervorgeht. Verkraftet man etwas nicht, unterliegt man einer fremden Kraft. Die Kraft kann sich unter den gegebenen Umständen nicht dagegen richten, die Digitalisierung mit aller Kraft vermeiden zu wollen. Die oben erwähnte Freundin erzählte mir Anfang 2020, die Grundschulklasse ihres Sohnes werde gerade “spielerisch” an eine Online-Lernplattform herangeführt, sie habe die Teilnahme ihres Kindes abgelehnt.Inzwischen gibt es da nichts mehr “abzulehnen”. Elterliche Kriterien der Schulwahl sind gefallen, Lehrmethodendifferenzen detto. Selbst Waldorfschulen, deren Unterrichtskonzept genuin lehrerzentriert, bildschirmfrei und stark gemeinschaftsbezogen ist (die ganze Klasse vollführt regelrechte Choreographien im gewöhnlichen Unterrichtsalltag: Singen, Mitsprechen, Rezitieren, Bewegen, Tanzen, Nachahmen), mußten die Kröte schlucken und dankbar die vom Staat gratis zur Verfügung gestellten Laptops annehmen. Vereinzelte Lehrer halten noch mit “Projektemappen” dem totalen Onlineunterricht stand, was schon verrückt genug ist, denn die “Arbeitsblätterwirtschaft” anderer freier Schulen (wie Montessorischulen und Lernwerkstätten) galt im Waldorfbereich früher als verpönt.
Führung besteht in freier Annahme des Führers durch den Geführten – gegenüber Geräten und Programmen ist diese Freiheit unmöglich. Dies zeigt sich besonders eindrucksvoll an der “tracking” genannten Maßnahme: das bei sich geführte Endgerät übernimmt die Führung und meldet, wenn man gerade andere Menschen “gefährdet”. Schüler müssen ihre Kamera laufen lassen, damit ihre “Anwesenheit” im Unterricht kontrollierbar ist. In der sogenannten “Freizeit”, die kaum mehr trennscharf vom “schulischen” Computergebrauch zu trennen ist, sind die Kinder im selben Malstrom: ohne lebendige Freunde und körperliche Tätigkeiten übernimmt das Gerät die Führung. Manch eine Familie hatte ihre Kinder zwischen Sport, Musik und Gruppenstunden eingespannt, um die Sucht einzudämmen – dieses äußere Gerüst trägt nicht mehr. Und das innere Gerüst ist noch nicht stabil genug ausgebildet beim Heranwachsenden.
Eltern und Lehrer sind lebendige Menschen, also können im wahren Wortsinne nur sie führen und die Kinder von ihnen geführt werden. Für uns Eltern gilt: In den rarer werdenden Momenten der Nähe kommt es auf die Kraft der Eltern an, das angemessenene, richtige Verhalten durchzusetzen. In dem Maße, wie Führung uns erschwert wird, wächst ihr punktueller Wirkungsgrad. Der Schwerpunkt verschiebt sich zum “situationsgerechten” und “angemessenen” Führenkönnen – unter Bildschirmbedingungen ist das Hierarchieproblem (Erwachsener – Kind) umständehalber dem dringlicheren Zeitproblem (Bildschirmzeit – Nähezeit) gewichen. Was wird dann aber aus der nötigen Distanz?
2. Distanz ist die Grundspannung der Erziehung. Gleichwertige Partner haben keine Entwicklungschance. Erziehung setzt Hierarchie voraus.
Mehr Distanz in Zeiten des distance learnings? Ist das nicht Hohn und Spott? Mitnichten. Distanz in einem guten Sinne ist eine vertikale Distanz, denn zwischen Höherem und Niederem, zwischen Erwachsenem und Heranwachsendem besteht ein notwendiges Gefälle. Aufschauen ist die geistige Bewegung, die daraus entstehen kann. Distanziert man die Kinder zwangsweise vertikal voneinander, neudeutsch social distancing genannt (“sozial” hat hier auch die Nebenbedeutung “prosozial” untergeschmuggelt bekommen), wird deutlich: auch untereinander pflegen Kinder normalerweise Hierarchiebeziehungen. Kinder schauen sich mimetisch von anderen Fertigkeiten ab, lernen vom Älteren oder Hilfsbereiteren oder auch (der sogenannte “heimliche Lehrplan”) vom Fieseren und Schlaueren. Dies entfällt.
Wir hatten bis vor zwei Jahren in gewisser Hinsicht das Problem zu großer Nähe, einer Dysbalance zugunsten der Kumpelelternschaft, Kuschelpädagogik und Gefühlssprache. Nun ist an dessen Stelle das Problem zu großer Distanz getreten, die allerdings keine gedeihliche Distanz ist (welche etwa in der devotionalen Haltung des Kindes und Jugendlichen gegenüber einem Erwachsenen, der Stärke und Weisheit ausstrahlt, vorliegt, und in der Rollendistanz zwischen Führer und Gefolge in Jugendgruppen oder beim sportlichen Training zum Ausdruck kommt).
Es ist die Distanzkultur einer Erwachsenenwelt: Onlinekonferenzen, Chatrooms, eigene Hompages, digitale Zweitidentitäten und “Facebookfreunde” usw. gehörten früher ausschließlich den Erwachsenen, nur “coole” liberale Smartphone-mit-6-Schenker stülpten ihren “Kids” ihr eigenes Cyber-Leben über. Man beklagte nicht nur unter Konservativen sondern auch in der durchschnittlichen Lehrerschaft noch vor zwei Jahren, daß Kinder immer jünger mit dem Leben in der Zweitwelt anfingen.
Hier wird ein Kulturbruch deutlich: die Seinsdifferenz zwischen Erwachsenem und Kind wird in der unmittelbaren Gegenwart kulturell geschleift (frühere Epochen kannten ähnliche Einebnung der Rollen: das höfische Zeremoniell bezog die jungen und jüngsten Adligen genauso komplett in die Erwachsenenrollen ein, wie arme Arbeiter- und Bauernkinder nur eine sehr kurze geschützte Lebensspanne hatten, bevor sie mitarbeiten mußten).
Aus der falschen Distanz entsteht ein umso größeres Bedürfnis nach Nähe. Manche Eltern, besonders Mütter jüngerer Schüler, würden am liebsten die bildschirmfreien Augenblicke zum sofortigen Kuschelüberfall nutzen. Und die Kinder – auch ältere Jugendliche – regredieren entsprechend: ihre Lebensweise wird bettnah, fütterungsbedürftig und kleinkindhaft. Hier jetzt aus pädagogischem Prinzip mit Entzug, Aufforderung und Pflichten zu intervenieren ist in der Theorie richtig, in der Praxis immer weniger durchführbar. Die von der Schule aus der Distanz der “Teams”-Plattform-to-do-Liste geforderten Pflichten werden immer blutleerer und immer unverbindlicher. An ihnen wird überdeutlich, daß das, was ich unter “Ansprache” durch die Dinge in der Lebenswelt gefaßt habe, weitgehend verschwunden ist.
Distanz in einem guten Sinne bedeutet also im Augenblick und für die erwartbare Zukunft erst einmal nicht viel mehr, als sich als Erwachsener nicht “reinziehen” zu lassen in den regressiven Schlendrian, sondern den Zockern, Langschläfern und Meckerern ein Vorbild an Tagesorganisation, gepflegtem Äußeren und vor allem: aufgeräumter Stimmung und innerer Aufrichtung zu sein. Eine solche Distanz teilt sich nonverbal mit und zieht nach oben. Gewiß wirkt sie nicht wie ein Wundermittel, aber eine aufrechterhaltene und ‑erhaltende Spannung ist fast physisch spürbar.
3. Gemeinschaft lehrt Einschränkung, Eigenart, Hilfsbereitschaft, Durchsetzungsvermögen und Stabilität. Kinder müssen aufgehoben sein in einem größeren Ganzen.
Viele Kinder haben seit Monaten keine Gruppen mehr erlebt, und wenn, dann unter Hygieneauflagen, die Spielen, freies Sprechen, Verstecken, Toben und Unbeobachtetsein unmöglich machen. In der Schule auf dem Platz zwei Meter weit vom nächsten Kind mit Maske zu sitzen fällt eindeutig nicht unter Gemeinschaft.
Das Erzogenwerden durch die Gruppe ist eine anthropologische Konstante. Wenn sie Kindern systematisch über längere Zeit genommen wird, sind die Folgen absehbar. Das Thema “Tyrannenkinder” habe ich in meinem Erziehungsbuch erwähnt, es bekommt unter Isolationsbedingungen neue Spitzenqualität. Die Kernfamilie als Gemeinschaft wäre dann tragfähig, wenn sie erstens groß genug (also mehrere Kinder und zwei anwesende Eltern) wäre und zweitens Tätigkeiten bereithielte, die zur Mitarbeit verpflichten (in Garten, Stall, Baustelle, in die Nachbarschaft ausgreifend). Denn nur in einer Gemeinschaft, in der es überhaupt Aufgaben gibt (jenseits der leichten Bedienung der Haushaltsgerätschaften), sind Gemeinschaftstugenden überhaupt gefragt. Die in einer Dreizimmerwohnung zusammengesperrte Familie im “Lockdown” bringt das Gegenteil von (in der Propaganda gern herbeizitierter) “Achtsamkeit und neu entdeckter Gemeinschaft” hervor, nämlich psychologisch völlig verständliche zentrifugale Fluchtbewegungen – jeder endet vor seinem Gerät.
Das abstrakte größere Ganze der “one world together at home” wird als hohle Phrase kenntlich in dem Moment, wo diese Phrase auf reale Kinder stößt. Kinder können von den kleinsten der pestalozzischen konzentrischen Kreise (dem Mutterschoß und, einen Kreis größer, der Familie, nahen Verwandtschaft und Freundeskreisen) nicht abstrahieren. Über “Abstandhalten” neudefinierter Zusammenhalt ist Kindern nur unter Aufbietung gröbster Indoktrination zu verklickern.
Die Gemeinschaftssehnsucht wird zum Erpressungsmittel in dem Moment, wo Schulkinder nur noch “getestet” in ihre Klassen zurückkehren dürfen (und in diesem Sommer an allen Freizeitveranstaltungen nur noch mit Test teilnehmen), oder – die Eltern haben selbstverständlich “die freie Wahl” – weiterhin im distance learning allein zuhause hocken bleiben. Will man als kritische Eltern da auf seinen Prinzipien bestehen? Hier geraten wir in die lichtmeszschen Gefilde des “Preises des Widerstands”. Denn als Erwachsene können wir vielleicht noch gezwungenermaßen auf alle Annehmlichkeiten des gemeinschaftlichen Lebens bewußt Verzicht leisten, weil der Preis zu hoch ist, aber für Kinder sind Gleichaltrige ein Elementarbedürfnis. Stabilität und Aufgehobensein stehen dann als eine Seite der in Wir erziehen erklärten “polaren Gegensätze” der anderen Seite gegenüber: Freiheit und Individualität.
In der lingua coronae imperii werden ausgerechnet die Grundbegriffe konservativer, kindgemäßer Erziehung einer neuerlichen “linguistischen Therapie” (Herbert Marcuse) unterzogen (die erste spielte sich in der Post-68-er-Ära ab: die linke Neufassung von Begriffen wie Freiheit, Demokratie, Mündigkeit etc.). Führung wird zu tracking, Distanz wird zu social distancing, Gemeinschaft zu #wirhaltenabstand. Den anderen Grundsätzen ergeht es kaum anders. Wir werden weitersehen.
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Caroline Sommerfelds Wir erziehen. Zehn Grundsätze (2. Auflage) kann (und sollte) man hier bestellen.
Franz Bettinger
Wer sich zeitlich leisten kann, selbst zu erziehen, hat in der gegenwärtigen Situation vielleicht sogar den Vorteil, seine Kinder von diesem (schon seit langem) Hirne waschenden, verdummenden Schul- und Mobbing-System fernzuhalten und zuhause zu unterrichten, weil die Schulpflicht wegfällt. Hätte ich Kinder, wäre das schon immer mein Bestreben gewesen. Die Schule ist doch per se schon ein Skandal.
Kommentar Sommerfeld: Die Schulpflicht fällt in der BRD keineswegs weg. Nur die Präsenzpflicht - sodaß eine Online-Unterrichts-Pflicht draus geworden ist. Genau das i s t ja die Misere. In Österreich ist es aufgrund der Bildungs- ohne Schulpflicht besser, aber auch da muß man das Kind ggf. vor Schuljahresbeginn zum häuslichen Unterricht abmelden (muß also rechtzeitig gewußt haben, wie Schule derzeit und in Zukunft abläuft) und die Schüler müssen (mit Test und Maske) Externistenprüfungen ablegen.