urteilte der Autor der folgenden Zeilen in den Netzfundstücken (114) »Putin, Otte, Wiechert« über die neue, bei Manuscriptum erschienene Putin-Biographie von Thomas Fasbender.
Ein Urteil, das Sezession-Literaturredakteurin Ellen Kositza in ihrem jüngsten Vorstellungsvideo teilt und Fasbenders einzigartigen Blick auf das im Entstehen begriffene imperiale Rußland des 21. Jahrhunderts herausstreicht:
Im Norden des ungeheuren Flächenkontinents, dessen Osten im Aufstieg begriffen ist, während der Westen im Abendlicht glänzt, ist Rußland vielleicht das neue Dazwischen.
Fasbenders kenntnisreiche Biographie über Wladimir W. Putin erhalten Sie natürlich wie immer direkt hier, bei Antaios, dem größten konservativen Versandbuchhandel.
In den Netzfundstücken (114) wurde außerdem auf eine ältere ARTE-Dokumentation hingewiesen, die den Wechsel der Macht von Boris Jelzin zu Putin nachzeichnet.
Seitdem ist freilich viel geschehen und der Putin von heute ein anderer als der damalige – Fasbender spricht von einem Putin 2.0, der ab dem Jahr 2012 einen schärferen Ton anschlägt und die bereits präsente Abwehrhaltung gegenüber dem Westen ausbaut.
Rußland hat sich unter Putin geopolitisch in Stellung gebracht und macht unverhohlen Ansprüche geltend: Georgien, die Krim sowie die Republiken im Osten der Ukraine. Außenpolitische Interessen verschmelzen mit dem alten Kampf um die Rus, die nun in der großangelegten militärischen Offensive in der Ukraine kulminieren.
Anders als in Georgien oder wie besonders auf der Krim geschehen, wird der militärische Einsatz nicht mehr bedeckmäntelt, sondern offen geführt. Der Maßstab der Operation läßt die Verschleierungstaktiken nicht zu, die bisher Anwendung fanden. Aus dieser Perspektive lesen sich die russischen Militärinterventionen seit Georgien wie der langsame Aufbau zum Krieg gegen die Ukraine.
Der französische Dokumentarfilmer Frédéric Tonolli hat diesen Aufbau, Die Rückkehr des russischen Bären, dokumentiert und sowohl Kritiker als auch Unterstützer des neuen Rußlands zu Wort kommenlassen:
Noch ein Zuschlag zum Krieg zwischen Rußland und der Ukraine; die Lageeinschätzung von Michael Lüders, Politikwissenschaftler und bekannt für seine Analysen zur Geopolitik im Nahen Osten:
Abgesehen vom Krieg im Osten Europas ist Corona weiterhin präsent bzw. kämpft Gesundheitsminister Karl Lauterbach händeringend darum, daß angesichts der existentielleren Nöte (steigende Energiekosten, Inflation etc.), die der Krieg in der Ukraine zur Folge hat, Corona nicht in Vergessenheit gerät. Schließlich stecken wir ja mitten in einer Pandemie!
Und Obacht ist weiterhin angebracht, denn während alle Augen auf Kiew gerichtet sind, bastelt man im Bundestag fleißig an der allgemeinen Impfpflicht. Derweil Österreich nach Einführung der Impfpflicht wieder davon abgerückt ist und im Großteil unserer europäischen Nachbarländer die Maßnahmen aufgehoben oder ihr Ende eingeläutet wurde, trottet man in Deutschland in die entgegengesetzte Richtung.
Der deutsche »Freedom Day« ist eine Mogelpackung, in dessen Kern ein Maßnahmenpaket mit dem Namen »Basisschutz« steckt. Doch das Volk trottet im großen und ganzen mit. Dabei läßt sich eine erstaunliche Kontinuität zwischen der Boosterbereitschaft und undifferenzierten Jubelarien auf die ukrainische Widerstandskraft feststellen. Es geht von einem hysterischen Wahnzustand in den nächsten.
Ein Datingratgeber der etwas anderen Art zeigt, welche seltsamen Blüten dieser Massenwahn treibt: Martyna Rieck geht für die Hamburger Ausführung des urbanen Lifestylemagazins Mit Vergnügen der Frage nach, ob »man ein*en Impfgegner*in daten« könne.
Der zeitgeistige Einsatz der Gendersternchen signalisiert bereits, wie die Antwort auf diese Frage ausfallen wird. »Wie geht Liebe nach Corona – vor allem, wenn der Impfstatus in der App angezeigt wird?« Der Alarm für abweichendes Verhalten und gefährliche Gedanken, die konträr zu denen der eigenen kosmopolitischen Peergroup der angesagten Hamburger Szeneviertel läuft, wird von Rieck feinjustiert:
Es ist ganz natürlich, dass man sich mit jemandem treffen möchte, der auf gesunde Weise mit Ängsten umgehen kann und zudem noch eine Meinung vertritt, die in der Wissenschaft verankert ist und nicht in Q‑Anon-Foren…
Und weiter geht es mit der coronakonformen Optimierung der Partnersuche:
Um nach einer Pandemie eine neue Beziehung einzugehen, ist es wichtig, konkrete Fragen darüber zu stellen, wie sich jemand während der Pandemie verhalten hat.
Hatten Sie beim Einkauf einmal keine Maske auf? Dann stehen Ihre Chancen, Frau Rieck in die Hamburger Szenebars auszuführen, eher schlecht. Wie man mit den Aufwartungen Ungeimpfter zu verfahren habe, macht Rieck anhand des Erfahrungsberichts einer Freundin deutlich:
Sie matchte [auf der Datingplattform Tinder] einen jungen Mann, freute sich darauf – nach Monaten ohne Dates, Küssen, Nähe und Bauchkribbeln – endlich wieder schick essen zu gehen, sich nett zu unterhalten und wer weiß was noch. Offen war sie. Ungeimpft war er. Das wusste sie aber leider nicht, hatte auch nicht gefragt. Bewusst wurde ihr dieses unpassende Match erst, als er meinte, er könne nicht ins Restaurant rein und fragte, ob sie nicht lieber spazieren gehen wollten. »Jetzt bin ich schon hier«, dachte sie, was nach zwei Stunden am windigen Hafen entlang laufen jedoch schnell in Frust umsprang. Mist, hätte sie mal mehr auf das nicht vorhandene Spritzensymbol auf Tinder geachtet, dann hätte sie sich ein Date erspart mit jemandem, mit dem es eh nie gepasst hätte. Tja, Impfgegner*innen sind nach Corona definitiv Teil der gleichen Dating-No-Go-Liste geworden, der Jahre zuvor schon AfD-Wähler*innen hinzugefügt wurden…
Ein Paradebeispiel dafür, wie sich der totalitäre Geist der »Mitte« im Alltagsleben niederschlägt. Den Untext gibt es in seiner Gesamtheit hier zu lesen.
Corona und nun der Krieg in der Ukraine entstellen die totalitäre Entwicklung im liberalen Westen zur Kenntlichkeit. Aber wie paßt das zusammen, Totalitarismus und liberale Demokratien? Sind das nicht Gegensätze und gibt es theoretische Erklärungsansätze für das Phänomen?
Der US-amerikanische Philosoph Sheldon S. Wolin bezeichnete diese Verbindung aus Elementen liberaler Demokratien und totalitärer Systeme als einen »invertierten« bzw. »umgekehrten Totalitarismus«. Wolin definierte mehrere Wesensmerkmale des »umgekehrten Totalitarismus«, von denen eines uns auf der politischen Rechten bekannt vorkommen sollte: die weiche Form seiner Sanktionen gegenüber konträren Meinungen zur vorgeblich »alternativlosen« Mehrheitsmeinung.
Harsche Bestrafungen, wie sie für klassisch totalitäre Systeme üblich sind, werden gemieden, statt dessen treibt man diejenigen, die aufbegehren, in den sozialen Tod:
Unser totalisierendes System hat jedoch seine eigenen Methoden und Strategien entwickelt. Seine Genialität besteht darin, die totale Macht auszuüben, ohne den Anschein zu erwecken, Konzentrationslager zu errichten, ideologische Einheitlichkeit zu erzwingen oder abweichende Elemente gewaltsam zu unterdrücken, solange bis sie unwirksam sind.
Entscheidend für den umgekehrten Totalitarismus ist das Kannibalisieren der demokratischen Institutionen, indem er das System nicht von außen revolutionär beseitigt, sondern von innen heraus korrumpiert, währenddem die »entpolitisierte« Masse durch »monochromatische« Medien auf Linie gebracht wird:
Auf dem stark strukturierten Marktplatz der Ideen, der von Medienkonglomeraten verwaltet wird, herrschen jedoch die Verkäufer und die Käufer passen sich dem an, was dieselben Medien zum »Mainstream« erklärt haben. Die freie Zirkulation von Ideen ist durch ihre kontrollierte Zirkularität ersetzt worden.
Corona und jetzt der Krieg in der Ukraine zeigen, wie diese Einebnung auf eine medial-gestrickte Realität mustergültig funktioniert und mit den Sozialen Medien eine sich selbstverstärkende Stromlinienförmigkeit erfährt, die das Verfallen in einen Massenrausch begünstigen.
Gleichwohl betrachtete Wolin das postdemokratische Phänomen, ähnlich wie sein europäisches Pendant Colin Crouch, aus einer linken Perspektive und mit Fokus auf die Bush-Ära, weswegen er für die Vermählung neoliberaler Akteure mit progressistischen Kräften der Linken, die zum wesentlichen Träger der von ihm kritisierten Entwicklung wurden, blind blieb.
Aus dieser linken Grundhaltung entspringt ferner Wolins unangebrachtes Grundvertrauen in die demokratische Idee: Er übersieht die in der Demokratie immanente Tendenz, bei der konsequenten Anwendung ihrer Grundprinzipien in ebenjene Verfallsformen abzudriften, die Wolin für korrigierbar und »lediglich« für einen Ausdruck kapitalistischer Korrumpierung hält. Auf der Basis einer grundsätzlichen Demokratiekritik ist der »umgekehrte Totalitarismus« also kein einzigartiges Ereignis, keine tragische Fehlentwicklung, sondern die natürliche Niedergangsform demokratischer Systeme.
Ungeachtet dieser Kritik sind Wolins Analysen lesenswert, besonders im Hinblick auf die Instrumentalisierung der Masse in jüngster Zeit. Ähnlich sah das der Westend Verlag, der Wolins Democracy Incorporated. Managed Democracy and the Specter of Inverted Totalitarianism nun mit dem Titel Umgekehrter Totalitarismus. Faktische Machtverhälnisse und ihre zerstörerischen Auswirkungen auf unsere Demokratie ins Deutsche übersetzt und mit einem Vorwort von Rainer Mausfeld versehen hat, der im Jahr 2015 mit Warum schweigen die Lämmer? in eine ähnliche Kerbe wie Wolin schlug.
In einem kurzen Gespräch mit dem Verlag stellt Mausfeld Wolins Werk dem deutschen Leser vor:
Einen rechten Blick auf das Phänomen »Post-Demokratie« nimmt übrigens Karlheinz Weißmann im gleichnamigen kaplaken vor. Sowohl Wolins Umgekehrten Totalitarismus als auch Weißmanns Übersicht zu postdemokratischen Theorien erhalten Sie hier, bei Antaios.
RMH
"Sie matchte [auf der Datingplattform Tinder] einen jungen Mann, freute sich darauf – nach Monaten ohne Dates, Küssen, Nähe und Bauchkribbeln – endlich wieder schick essen zu gehen."
Ja, klar, auf Tinder - um schick essen zu gehen (Kopfklatsch) ...