Es gibt Bier, ein Bücherregal, gerahmte Plakate, futuristisch, man bekennt Dienst-Stimmung in der Etappe und ist antiliberal.
Der Vortrag besteht aus neun Gedanken (nicht 7, nicht 10, nicht 12, keine dieser bedeutungsvollen Zahlen, sondern eine der hinweisenden, denn was gesagt werden kann und sich zu sagen überhaupt lohnt, ist unfertig). Es sind Gedanken zur Verachtung des Eigenen – Frank Lissons Buch ist ins Serbische übersetzt worden. Lisson begründet darin seine These, daß die Verachtung und Dekonstruktion, die Totalinfragestellung und das Abstreifen der europäischen Kultur aus derselben Wurzel wachse, die diese Kultur erst zur Weltkultur, zum weltprägenden Weltzugriff gemacht habe.
Ein paar deutsche Sätze, dann wird übersetzt, undsoweiter – nach etwa 45 Minuten sind wir fertig. Es folgen Fragen, unter anderem erkundigt sich einer, was der “Klub 451”, was also die junge Zentropa-Bewegung, Stützpunkt Belgrad, für Europa tun könne. Natürlich, drunter geht’s nicht: Europa. Was auch sonst?
Die Männer im Raum hatten eines nicht mitbekommen, nämlich das, was Heinrich von Kleist die “allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden” genannt und worüber er einen Aufsatz verfaßt hat. Diese allmähliche Verfertigung hatte während des Vortrags stattgefunden, sie hatte den Gedanken über Friedrich von Hardenbergs “Die Christenheit oder Europa” zu Benns “Europa, dieser Nasenpopel” gesponnen und war zuletzt bei einem ebenso verspielten wie ein wenig bösartigen “Wer Europa sagt, will betrügen” gelandet.
Der Rekurs auf Novalis wäre romantisch ausgefallen, der auf Benn hätte die Frage ätzend abgetan. Aber es ging um eine ernste Sache: um Ernüchterung.
Wenn jemand davon erzählt, was er mit Europa vorhabe, dann kommt es mir vor, als spreche er über die Menschheit oder über das Leben, das Universum und den ganzen Rest (um Douglas Adams zu zitieren) – über eine Bezugsgröße jedenfalls, die nicht in unserer Reichweite liegt. Europäische Politik ist nämlich angesichts des Zustands unserer je eigenen Länder (und vor allem Deutschlands) auf einer Leiter die oberste Sprosse, nach der man nicht greifen kann und an der man sich folglich nicht beweisen muß.
Dieser Umstand spielt seit jeher allen Baumeistern von Nicht-Orten in die Karten: Man muß bloß behaupten, muß nicht einmal wirklich wollen und vor allem muß man nie konkret werden.
Europa ist deshalb entweder das dezentrale Europa der Vaterländer, in dem jeder schaut, wo er bleibt und wie er seine Lage ausgeglichen kriegt.
In einem solchen Europa würden alle Grenzen und Abgrenzungen als Eigenart und Schutz wahrgenommen und wertgeschätzt. Sie hinderten nämlich zu keiner Zeit einen inneren Europäer daran, sein unpolitisches Aneignungsmaterial für eine elitäre Identität auf unserem Kontinent zu finden. Mehrsprachigkeit, gemeinsame Wurzeln, kulturelle Netze, fruchtbarer Austausch, historisches Gepäck auf dem Rücken, das jeden Schritt verlangsamt, Zergliederung und Vielgestaltigkeit – das alles verlangt nach lebenslanger Aneignung und einer Balance aus Heimatliebe und Empathie, die nicht jeder halten kann.
Oder: Europa ist die politische EU, also Anmaßung, Wasserkopf, Nomenklatura, Korruption, Moloch, ein ahistorisches Raumordnungskonzept, ein Zahlmeistergebilde, in dem der Zahlmeister erpreßbar sein und bleiben muß. Alles andere ist Gefasel oder Literatur.
Literarisch hat aus rechter Sicht (aus rechter Sicht?) Guillaume Faye so etwas skizziert: Ein Tag im Leben des Dimitri Leonidowitsch Oblomow beschreibt ein Europa, in dem den Regionen bestimmte Lebensformen, Zulieferungsaufträge, Veredelungsorte planwirtschaftlich zugewiesen sind – einen Vernutzungsraum also, in dem die Eliten in schnellen Zügen den Kontinent durchqueren, während andere Rüben hacken und Kartoffeln roden und damit zufrieden zu sein scheinen.
Literatur eben, dort muß das unbedingt bleiben. Denn wenn man mit Verfechtern einer europäischen Solidarität nebst zentraler Lenkung spricht, landet man bei demselben unlösbaren Quark, der in Großgebilden noch weit schlimmer als in kleineren zu Korruption, Mangel, Verkennung des Gewachsenen und Vergewaltigung der Völker führte. Bisher habe ich noch niemanden getroffen, der solche Pläne spinnt und sich selbst dabei nach der Rübenhacke greifen sieht.
Daß auch derzeit Völker vergewaltigt werden – ja, natürlich. Vermutlich ist dieses Wort aber zu hart, es rührt aus einer Zeit, in der die Methoden noch brutal und in ihrer Offenkundigkeit fast schon ehrlich waren. Wir sind ja schon viel weiter: Heute wird aufgelöst, nicht ratzfatz, sondern fast sanft. Es wird auf eine unfaßbar smarte Welt hin entkernt und verdünnt. (Das ist das, was ich im ersten Teil mit Blick auf Belgrad und der Übermacht der globalen Zivilisation meinte.)
Was also tun, für Europa, das war die Frage. Meine Antwort: Das beste, was man als junger Serbe für Europa tun könne, sei, unauflöslich zu sein. Sich nicht verdünnen zu lassen, das bedeute, so serbisch wie möglich zu leben, zu denken, zu glauben und zu lesen, sich zu verbarrikadieren, dafür zu arbeiten, daß das Land nicht in Blöcke gezwungen würde, und den Windschatten dafür zu nutzen, es unter anderem und vor allem uns Deutschen nicht nachzutun.
Wer gerne reise und sich Gruppen überall in Europa anschaue, der solle dies tun, aber er solle es nicht verbrämen (unübersetzbar!). Martin Sellner sei einer der wenigen politischen Aktivisten, dem es gelungen ist, aus einer spezifischen Bedrohungslage heraus europäische Zusammenarbeit zu organisieren und den nationalen Handlungsrahmen zu verlassen – siehe Defend Europe auf dem Mittelmeer und in den französischen Alpen. Aber das waren konkrete Momente in konkreten Lagen, nichts darüber hinaus, ebenso in sich abgeschlossen wie ein übersetztes Buch oder eine punktuelle politische Kooperation.
Es war also die alte Leier: Leben im Vorbehalt, ein in gewissem Sinne störrischer Lebensvollzug, den historischen Rucksack schultern, ahistorische Leichtigkeit ablehnen und möglicherweise vorhandene Vorlieben für Style, Unkonkretes, Verallgemeinerung nicht durch große Begriffe bemänteln.
Im europäisch aufgeladenen Jugendklub zu Belgrad kam diese Antwort nicht nur gut an, aber auch. So ist es immer mit dem kalten Guß: Man muß sich merken, wer ihn wirken läßt, und ihn zu verabreichen ist unsere Aufgabe.
Zumal: Es war danach nicht schwierig, die Kurve zu kriegen. Erstens kippte ich unter den wachsamen Augen der Barkeeper das rituelle Gebräu herunter, das mir eine ewigwährende Zutrittskarte in den “Klub 451” eintrug, und zweitens verwies ich auf die melancholisch-defensive Aura des Namens: Wer die Bradbury-Chiffre 451 wähle, habe den Kampf aufgegeben, sei unterwegs in den Wald und trage ein Buch mit sich, um es auswendig zu lernen. Dagegen sei mein nicht-europäischer, das Konkrete ins Auge fassende Verhaltensvorschlag geradezu ein Thema in C‑Dur.
So schieden wir. Tags darauf hielt ich noch einen Vortrag, in ganz anderem Rahmen, Thema waren die Gestalten Ernst Jüngers, die er in seinen Werken durchgespielt hat: unbekannter Soldat, Arbeiter, abenteuerliches Herz, Waldgänger, Anarch. Zwischendurch gute Gespräche mit dem Übersetzer, dem Verleger und vor allem dem Gastgeber, der den Figuren des Vortrags den Heiduck hinzufügte. Er wird darüber für uns schreiben und im September zur Geopolitik-Akademie nach Schnellroda kommen – zuallererst als Serbe.
Klärende Tage also.
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Kubitschek veröffentlichte zuletzt den Sammelband Hin und wieder zurück – hier einsehen und bestellen.
Umlautkombinat
> Frank Lissons Buch
Ist das hier schon einmal besprochen worden? Wenn nicht, waere es allein wegen der erwaehnten These sinnvoll. Als ich die las, fiel mir sofort Friedmans Vortrag und die dort vertretene US-Sicht auf Europa und Deutschland ein.
Eine der sofort auftretenden Fragen ist die der Selbstbehauptung eines heterogenen Gebildes wie im weiteren Verlauf des Artikels skizziert gegenueber Grossmaechten. Wie macht man das zur Staerke ohne zu expandieren (auch ineinander wie in der unguten EU-Form) und zu nivellieren?