Hier enden die Nahverkehrslinien, aber hier ist das Leben – ungeschminkt: Männer in etwas ausgeleiertem Feinripp auf Balkonen, einerseits Übergewicht als letzter Ausdruck von Präsenz, andererseits schwindendes Deutschland.
Die Plattenbauten hat die DDR hingestellt, sachlich-zweckmäßige Architektur in Vollzug ihres Wohnungsbauprogramms für „unserer jungen Familien“, damals als Ausdruck der „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“. Hier lebten junge Industriearbeiterfamilien. Zwischen den Neubauten spielten Hunderte Kinder, im Wind flatterte die Wäsche.
Industrie gibt es seit den Neunzigern nicht mehr. Stattdessen Kliniken, Altenheime, Physiotherapie, Sanitätshäuser, viel, viel Landesregierung und eine Verwaltung, die den Mangel regelt. Ja, es gibt noch Kinder zwischen bunt aufgepepptem Beton, aber sie dominieren längst nicht mehr das Bild.
Gegenläufigkeiten:
Wer zur Wendezeit in der zusammenfallenden Innenstadt lebte, hatte es, hieß es, nicht mal auf den Großen Dreesch, den Schweriner Plattenbaubezirk, geschafft. Heute ist es umgekehrt. Wir hier schaffen es nicht in die Innenstadt, in die schick renovierten Altbau-Wohnungen mit edler Ausstattung. Für die doppelte Miete. Wir passen auch nicht zum dortigen Life-Style.
In der Stadt die Touristen- und Shopping-Straßen, die Cafés, die hippen Lokale, das herzoglicher Bautätigkeit zu verdankende historische Flair, hier draußen aber Döner-Pizza-Salat, improvisierte Shisha-Schuppen, afrikanische Hühnerbräter, russische Läden. Alles zwischen DDR-Beton, dieser ehrlich festen Sache.
Einige „unserer jungen Familien“ sind noch auf dem Dreesch, mittlerweile alte Leute, restbeständig, siebzig, achtzig Jahre alt. Daß die früher mal laut „Renft“ gehört haben, kann man sich nicht mehr vorstellen. Sie sind einfach übriggeblieben, die Kinder oft im Westen, wo das Geld ist.
Wer konnte, kaufte sich ab den Neunzigern auf Kredit ein Eigenheim in einer dieser engen Bebauungszonen auf den Dörfern rundum, wo die Häuser so dicht stehen wie Camper auf Stellplätzen. Wer weg war, bewies, daß er’s im Leben geschafft hatte.
Viele Deutsche in der Platte leben von Transferleistungen, von Miet- und Lastenzuschüssen oder dem Mindestlohn der sogenannten Dienstleistungsgesellschaft. Ein immer größerer Teil aber wanderte zu – Orientalen, auffallend viele Russen bzw. Rußlanddeutsche, neuerdings Ukrainer, klar, Afrikaner sowieso, die meisten von ihnen staatlich alimentiert, zudem emsige Asiaten, die überall auf der Welt kraft Leistung durchkommen.
Die Läden und die Drehspießgastronomie mit den Monobloc-Stühlen haben Maghrebiner oder Levantiner inne, die Textil- und Nähbuden die Vietnamesen.
Wirklich bunt, die meisten jung, allesamt passabel in den Blocks eingerichtet. Der Dreesch hat drei Bau-Abschnitte, von I bis III, von vorn nach hinten, verstärkt sich linear die Internationalität. Dort, wo die DDR zu bauen aufhörte, im dritten Bauabschnitt, leben also die meisten Migranten; wo die ersten Plattenbauten standen, dominiert hingegen noch das Rentner-Beige. So dunkelt es von vorn nach hinten stetig durch.
Dazwischen die lichten Frei- und Abrißflächenflächen, neuerdings meist ungemäht, also ökologisch frei auswucherndes und botanisch artenreiches Kraut auf Magerrasen, Blauer Natternkopf, Wilde Möhre und Gemeine Wegwarte, durchweg vermüllt von Kunststoff-Verpackungen. Überall verbleichen die kunterbunten Symbole der Konsumgesellschaft, von Müller-Milch bis Ayran, von Knoppers bis Pizza-Verpackungen. Es kann überhaupt gelten: Was die Leute in die Westen zieht, der Konsum, verstärkt die Vermüllung von Natur und Kultur.
Die letzten Deutschen im Quartier werden tatsächlich nicht mehr wegkommen, wollen es offenbar gar nicht; viele der beweglicheren Exoten schon. Es gibt diesen ästhetischen Kontrast zwischen der aufrecht gehenden, ja schreitenden Muslima mit Kopftuch und dezent, aber schön geschminktem Sheherazade-Gesicht und der entformt wirkenden Deutsch-Tussi mit Kippe, deren Tattoos von vergeblichen Wünschen künden.
Irgendwas Entscheidendes fehlte zum Glück. Mag sein, die „ontologische Mitgift“ (Günther Anders) reichte nicht oder drückte nieder. Mag auch sein, es fehlte an Mumm und Orientierung. Dafür, den Anschluß zu verlieren, gibt es eine Menge Gründe. Hier fällt es auf, wenn man verliert, woanders nicht so sehr. Es gibt auch eine Art sozialer Entropie …
Übrig bleibt eine übellaunige Wehmut, die sich schlimmstenfalls von Enttäuschung zum Ich-arme-Sau-Syndrom auswächst: Selbstaufgabe, Lähmung, Ersatzbefriedigung, Suchtgefahr, mindestens Eßstörungen, die den Körper aussehen lassen, als wäre er in einen Kunstdarm gepreßtes Mortadella-Fleisch. Oder anders: Kummer führt nun mal dazu, sich einen Panzer anzufuttern.
Das mag ein Klischee sein, aber Klischees offenbaren viel: Das Fitneß-Gefälle zwischen fremdstämmiger und deutscher Jugend ist augenfällig. Auf den Bolzplätzen spielen die osmanischen und arabischen Jungs, in den Basketballkäfigen athletische dunkle und russische Jugend. Die weißen Jungs zocken eher an ihren Konsolen.
Afrikaner improvisieren sich durch, dealen mit dem einen oder anderen und offenbaren eine ganz eigene Gelassenheit. Sie passen irgendwie zur Klimaveränderung, die hier gerade das Kraut zwischen den Blocks zu einer Art Dornsavanne verbrennt.
Eine der letzten Straßen des Großen Dreesch, dort, wo die Endmoräne, auf der die Blocks stehen, zur Ebene der Lewitz abfällt, heißt noch von der DDR her Hegelstraße, der dort etablierte Araber-Imbiß also prompt „Hegel-Imbiß“. Das sagt viel, gerade weil Georg Wilhelm Friedrich Hegel dort niemandem etwas sagt.
Dennoch: Alles stimmig. Man ist hier eher arm, aber nicht elend, man gehört nicht zu den Gewinnern, meint aber, da könnte schon noch was kommen … – Lebt man hier, kann es so richtig bergab nicht mehr gehen, für jene mit Spannkraft aber durchaus mal bergauf.
Der größte Teil der deutschen Restpopulation jedoch scheint irreversibel abgestiegen, die anderen könnten hingegen aufsteigen. Sie haben nicht nur Biß, sondern verfügen noch über eine Kultur und pflegen auffallend bewußt ihre Identität. Diese ermöglicht ein Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl, das es so bei den Deutschen nicht (mehr) gibt. Sichtlich nicht. Woran denn wäre anzuknüpfen? Einen Bezug zum einst Eigenen ist nicht mehr lebendig. Was amputiert wurde, wächst nicht wieder nach. Selbst die Russen schlagen hier Wurzeln, den Deutschen faulen sie weg.
Kultur allerdings beginnt nicht mit dem Opernhausbesuch oder auch nur mit dem Abitur, sondern mit der Entwicklung einer Idee über die engeren Überlebenszwecke hinaus. Diese Idee vom eigenen Selbst fehlt mittlerweile. Dabei muß sie nicht akademisch sein. Es reichte, wenn man einfach gern an seiner Karre schraubte, einen eigenen Garten bearbeitete, einen Gottesdienst besuchte oder sich Laufschuhe und einen Expander besorgte. Interesse entwickeln, für etwas, das weiter trägt als der Augenblick, das mehr hergibt als Chipstüte und Bierkasten. Was immer hilft: Reduktion. Askesis heißt Übung. – Die Platte böte eine Möglichkeit der Gegenkultur zur woken Innenstadt. Was man hier sieht und erlebt, ist echt, nicht nur der Dreck.
Hier und da stellten sich „Hausgemeinschaften“ ganz gepflegt Bierbänke vor die Eingänge. Dort halten sie an den Abende urige Eintracht. Das ist viel: Gespräche, Zugewandtheit, Lachen und die Sorgen teilen. Wissen, daß die anderen auch durchkommen müssen. Wo die Leute nicht so viel haben, wo die Schwierigkeiten alle gleichermaßen treffen, da bildet sich ganz natürlicherweise Zusammenhalt. Mag sein, das war früher in Irland ähnlich. In der DDR lief’s jedenfalls so.
Dort half der Jugend ein Satz in die Gänge, den sie dauernd hörte: „Ihr werdet gebraucht!“ So fanden sich Wertschätzung und Anspruch verbunden. Nur wollte die monoethnische DDR noch eine Nation sein und erfolgreich in einer Systemauseinandersetzung bestehen. Was ihr mißlang. Auch diese Depression wirkt in meiner Generation nach: Wir kommen aus einer untergegangenen Republik.
Vor diesen Hintergründen scheinen allzu viele „Bio-Deutschen“ nicht nur marginalisiert, sondern verloren: Alkohol und selbstgestopfte Zigaretten bauen nun mal nicht auf, und wer seine Haltung einbüßte, der ist in Gefahr, dazu seine Selbstachtung zu verlieren. Uns fehlt es vor allem an einem: Jugend! Nur aus ihr könnte eine Gegenkraft erwachsen. Jung sind die Migranten, fast alle. Sie scheinen darwinistisch besser plaziert.
Ist das ein rassistischer Satz? Wenn ja, dann in einem umgekehrten, einem ungewohnten Sinn: Deutschland, was immer das überhaupt noch sei, mag hier verloren haben und das Feld räumen. Die Zugewanderten nehmen die einstigen Gastgeber kaum mehr wahr. Man geht so aneinander vorbei, weder als Gegner noch als Freunde.
Hier und da noch Reservate mit FC-Hansa-Rostock-Fahnen. Etwas Regionalfußball als letzter gemeinsamer Bezug und Kultus. Dazu Plaste-Pils von „Penny“. Lichtblick: Am Keplerplatz, wo früher ab und an Randale war, rauft man sich zusammen und sorgt ganz praktisch für gemeinsames Auskommen. Kultur beginnt damit, daß Klos aufgestellt werden und jeder seinen Müll wegbringt. So einfach.
Die Bücher aus den Wohnzimmern sind längst in die umfunktionierten Telefonzellen geräumt, die ganze DDR-Bibliotheken enthalten. Man trägt Literatur nicht mal mehr ins Antiquariat; sie wird umsonst verteilt – an immer weniger Leser. Oder fliegt gleich in die blaue Tonne.
Ich finde es wichtig, den Migranten offenen Blicks zu begegnen. Ich grüße zuerst, unaufdringlich herzlich und gegen diese Hemmung, gegen das scheue Wegsehen an. Mich interessieren Gesichter und Geschichten. Gelingt mir eine Unterhaltung, so habe ich bisher stets Zugewandtheit, Herzlichkeit, Offenheit erfahren.
Geduckt sind eher meine Landsleute und eben nicht die Russen, Ukrainer, Kurden, Araber, Afghanen und Afrikaner. Würde ich fragen, was ich mich nicht zu fragen traue, nämlich: Seht Ihr Euch als die neuen Deutschen?, so würden sie, nehme ich an, ganz natürlich und lächelnd bejahen. Mag auch sein, sie haben damit recht – einfach in Ergebnis historischer und demografischer Zwangsläufigkeiten.
Die linksgrün-neoliberal angeordnete Buntheit und Diversität bedarf hier keiner Propaganda oder Projekte, denn sie besteht aus sich heraus ganz alltäglich. Es wird keinen Zwist wie in französischen Banlieues geben. Vielmehr läuft eine Evolution ruhig fort, die den Weißen alsbald wegmendelt. Tragisch? Die neue Buntheit spricht sogar eine Variante des Deutschen.
Es läuft anders als in den West-Großstädten seit Ankunft der Anatolier, Italiener, Griechen, Portugiesen. Die machten in Enklaven so ihr Ding und wuchsen dann in die Viertel hinein. Ab 2015 jedoch sind mindestens die Ost-Plattenbaubezirke weitgehend friedlich vom globalen Süden übernommen. Hier und da wird wohl in zwanzig Jahren noch ein alter weißer Mann am Rollator seiner letzten Wege gehen, mit seinem Hund als letztem Kumpel …
Nein, es ist nicht trostlos. Der Dreesch ist kein Ghetto; die Wohnungsfirmen und ‑gesellschaften haben investiert. Man kann hier gut und sogar mit bescheidenem Komfort leben. Man kann seine Würde bewahren und den Kopf oben behalten. Wenn man denn will.
Daß die Betonfassaden bunt gestrichen wurden, u. a. mit riesigen Insekten- und Singvogelbildern, wirkt nicht lächerlich; es paßt. Denn hier ist aufstrebendes Leben. Was wäre hier ohne Migranten? Vermutlich trauriger Leerstand. Es blieben dann die Trockenrasen: Blauer Natternkopf, Wilde Möhre, Gemeine Wegwarte …
Woher denn und mit welcher Idee sollte das spezifisch Deutsche hier noch etwas beitragen können? Es gibt immer noch diese sogenannten einfachen Familien, die sich, also vor allem ihre Kinder durchbringen und die ihre Grundzuversicht in ein gutes Geschick nicht verlieren, die ehrlich sind und mehr gelernt haben als das, was die große Politik zu wissen meint.
Sixtus
Ein ein schöner Text, so zwischen Resignation und Hoffnung. Danke!