In der 50. »Sammelstelle« verwies ich auf eine Spaltung in der Autorschaft des linken konkret-Magazins. Diese ist bis heute nicht überwunden worden.
Im Gegenteil: Die Fronten haben sich verhärtet, die Redaktion mußte sich personell neu erfinden, der inhaltliche Dissens ist, den Reaktionen im Heft wie im Netz zufolge, auch ein persönlicher geworden, und so etwas läßt sich schwieriger kitten als ideologische Detailfragen.
Die erste Ausgabe nach dem Auszug der transatlantischen Fraktion aus der konkret zeigt das Magazin – jedenfalls aus rechter Sicht – markant verbessert. Gewiß: Es geht hier nicht darum, daß aus dem einflußreichen und auflagenstarken linksradikalen Traditionsperiodikum ein sympathisches würde; man ätzt an so mancher Stelle weiter im bekannten Sound gegen Volk, Staat und Vaterland.
Aber: Jene durchaus begabten und lesenswerten Federn, die ihre beißende Kritik auch an den Herrschenden und eben nicht nur an rechten Ablenkgegnern erproben, kommen nun besser zur Geltung.
Frank Graf beispielsweise widmet sich in der Post-Spaltungs-Ausgabe (8/2022) der »Energierevolution« der Ampel. »Der grüne Sprung nach vorn« seziert die jüngsten Entwicklungen der grünen Regierungsmotoren.
Das geschieht nicht – wie bei den altbekannten, oftmals larmoyanten Grünen-Verdammungen liberalkonservativer Publikumsmagazine – über Moral und Empörung. Derartiges beherrschen die Grünen ohnehin besser als Tichy und Co. Sondern über eine Detailschau der grünen »Metamorphose«.
Graf beginnt mit einer Betrachtung der gewandelten grünen Lebensrealität:
Die heruntergekommene Wohngemeinschaft und die verrauchte Studentenkneipe, einst das natürliche Habitat der grünalternativen Bewegung, wurden getauscht gegen die geschmackvoll renovierte Altbaueigentumswohnung im verkehrsberuhigten Stadtviertel, in welchem sich die auf Achtsamkeit bedachte Gleichstellungsbeauftragte und der ökologisch gesonnene Oberstudienrat zum grünen Tour fixe im schicken Biorestaurant treffen,
was die Durchschnittsgrünen wohl recht treffend karikiert.
Man hat sich bestens eingerichtet, prägt Medienlandschaft und Gesellschaft, reüssiert über Moralpolitik und ideologische Überbau-Spielchen – und doziert dem gemeinen Volk, auf dem Gipfel des vermeintlichen gesellschaftlichen Fortschritts thronend, etwas vor.
In den Worten Grafs:
Die Grünen und ihre Parteigänger haben die Niederungen des alltäglichen Lebens hinter sich gelassen, die Maslowsche Bedürfnispyramide erklommen und sich zu einer postmaterialistischen Alimentationsbourgeoisie entwickelt, die meist vom Staat lebt und von der Pyramidenspitze aus das große Weltganze in den Blick nimmt.
Und der einstmals so konstitutive Pazifismus? Über Bord geworfen. Längst ist man nicht nur transatlantisch verortet und läßt sich zu Young Global Leader-Programmen und ähnlichem einladen; spätestens seit der Bombardierung Belgrads durch die Schröder-Fischer-Regierung affirmiert man bei den Grünen
die liberale, regelbasierte Weltordnung und die aus ihr resultierende ‘Responsibility to protect’ auch mit robusten Mitteln.
Außenpolitisch derartig auf Linie des gängigen Westextremismus gebracht, schert man lediglich bei klimapolitischen Fragestellungen aus, indem man die ohnehin schon hysterische Debatte anheizt und über alles stellt.
Graf erinnert an das grüne Wahlprogramm von 2021, das sich mit dem Kenntnisstand von 2022 und der Gewissheit kommender Versorgungskrisen wie ein Anlauf in den Wahnsinn lesen läßt. Zwar ist die Definition der »Klimakrise als wahre Menschheitskrise« nichts Unübliches mehr.
Aber die folgende grüne Programmpassage hätte man bereits letztes Jahr als groteske Drohung lesen müssen:
Wir wissen, wie man eine Industriegesellschaft sicher ins Zeitalter der Klimaneutralität führt. Wie man dafür den Kohleausstieg beschleunigt und Versorgungssicherheit gewährleistet, wie viel mehr Strom aus Wind und Sonne gewonnen werden kann und der Naturschutz gestärkt wird.
Nun, und wir wissen, daß das Wort »Versorgungssicherheit« aus grünem Munde orwelleske Züge trägt. Gemeint ist mithin das Gegenteil: das Ende aller Sicherheit.
Schon 2020, damals noch aus der Opposition heraus und lange vor Putins Intervention in der Ostukraine, verkündete Annalena Baerbock, daß Nord Stream 2 zu beerdigen sei:
Die Pipeline untergräbt die außenpolitische Souveränität, und sie konterkariert die europäischen Klima- und Energieziele,
ließ Baerbock, die im selben Jahr das Programm Young Global Leaders durch das World Economic Forum (WEF) durchlief, verlautbaren.
Außenpolitische Souveränität und grüner Transatlantismus – ein Kapitel mit großem Unterhaltungswert, hat doch zuletzt Robert Habeck im deutschen Fernsehen einräumen müssen, daß Nord Stream 2 nicht genehmigt sei. Von wem? Wer unterminiert deutsche Souveränität und Gestaltungshoheit der eigenen Außenpolitik? Ist es Moskau, Peking oder doch eher Washington?
Verschärft wird das Problem naturgemäß durch die neue Rolle, die man für Habeck auserkor. Als Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz nimmt dieser seit Ende 2021 zu allem Übel »die Schlüsselposition für die angekündigte Energierevolution« (Graf) ein.
Habeck und Co. gelang es, in der Ampel-Regierung im Juli den beschleunigten Ausbau erneuerbarer Energien zu konkretisieren: 80 Prozent des Stroms in der BRD soll bis 2030 durch Erneuerbare erzeugt werden.
Frank Graf weiß, daß dieses Ansinnen an zwei recht banalen Faktoren scheitern wird: an »der politischen und physikalischen Realität«. Sonne scheint nicht immer, Wind weht nicht konstant, und die Speicherkapazitäten für gewonnene Energie aus Sonnen- und Windkraft müßten hierzulande erst erfunden werden.
Weil die physikalische Realität ist, wie sie ist und weil man Nord Stream 2 nicht öffnen möchte, ist die Lage so, wie sie Frank Graf skizziert:
Der grüne Sprung nach vorn bedeutet unter diesen Bedingungen die nur allzu realistische Gefahr eines dauerhaften Wohlstandsverlustes beziehungsweise einer weiteren Vertiefung bereits vorhandener Armut.
Die Furcht aber vor Wohlstandsverlusten führt beim oftmals wohlstandsverwöhnten Bundesdeutschen zu Abstiegsangst und – womöglich – Aufbegehren. Immerhin geht es jetzt tatsächlich 80, 90 Prozent der Bundesbürger an den Geldbeutel. Diese Krise kann man weder ignorieren noch aussitzen; breite Mittelschichten – mit ihrer größten Gruppe in der Mitte: dem vielgestaltigen Kleinbürgertum – werden von ihr hart getroffen werden.
Bei Linken, die diesen Schichten aus bewährter Tradition mit Mißtrauen und Argwohn begegnen (tendierten viele Kleinbürger in Prozessen der Neusortierung des Feldes doch nach rechts), springt just dieser Reflex wieder an.
Tomasz Konicz, Krisenapostel der konkret, warnt denn auch in seinem Beitrag (»The walking Debt«) vor den Folgen in der BRD:
Die sozioökonomischen Folgen des jüngsten Krisenschubs werden aller Voraussicht nach nicht mehr von den Zentren auf die Peripherien abgewälzt werden können. Gerade in der bislang von der Krise weitgehend verschonten BRD, wo allein schon die Angst vor der Krise Nazi-Parteien zweistellige Wahlergebnisse verschafft, könnten die kommenden politischen Verwerfungen dramatisch ausfallen.
Konicz, der vermutlich noch nie AfD-Lebendkontakt besaß und auch deshalb die obligatorische Nazi-Keule für geboten hält, erhält argumentativ Schützenhilfe von den Rosa-Luxemburg-Stiftungs-Akteuren Markus Wissen und Ulrich Brand.
In der 207. Ausgabe der PROKLA, der marxistischen »Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft«, kommen sie zu einer ähnlichen, von Furcht gezeichneten Prognose:
Dabei dürften rechte Kräfte umso stärker reüssieren, je mehr die klimapolitischen Maßnahmen von grün-kapitalistischen Kräften als unausweichlich dargestellt werden und je mehr die Umsetzung der Maßnahmen zu sozialen Härten, etwa dem Verlust von Arbeitsplätzen, führt und die gesellschaftliche Ungleichheit verschärfen. Das wäre dann eine grüne TINA-Politik (There is no alternative),
und es wäre nicht das erste Mal, daß aus den Folgen des Anspruchs, »alternativlose« Politik zu treiben, eine politische Alternative (er)wächst.
Daß diese Alternative, die im Krisenwinter von zunehmend mehr Deutschen gesucht werden dürfte, nicht »links« beheimatet sein wird, vermutet Tomasz Konicz in der konkret und ahnen Markus Wissen und Ulrich Brand in der PROKLA.
Da kann Sahra Wagenknecht noch viele Dutzend Auftritte in Talkshows hinlegen und vielbeachtete Videos drehen – ihr fehlen sowohl Bündnispartner als auch eine Basis.
Wenn sie im Cicero-Gespräch (7/2022) mit Mathias Brodkorb (Kubitschek schrieb unlängst zu ihm an dieser Stelle) auf eine deutsche Mehrheit abzielt, die »weniger Ungleichheit und mehr Zusammenhalt« fordert, hat sie zweifellos recht.
Nur: Wie soll gemeinschaftlicher Zusammenhalt von links funktionieren, wo die absolute Mehrheitslinke mindestens d’accord damit geht, daß alle organischen und identitätsstiftenden Gemeinschaften (von Familie bis zum Volk) als reaktionäre Konstrukte überwunden werden?
Ebenfalls recht hat Wagenknecht mit der Aussage, daß erfolgreiche linke Parteien immer »linkskonservativ« gewesen seien:
Sie waren links in ihrer Wirtschafts- und Sozialpolitik und konservativ in ihrer kulturellen Ausrichtung,
was man in Frankreichs Nouvelle Droite seit Jahrzehnten als »Gauche du travail et droite des valeurs« zu fassen versucht und was in der Bundesrepublik Deutschland angesichts der volksverneinenden Mehrheitslinken niemals (!) tragfähig sein wird.
Ein drittes Mal recht behält Wagenknecht im Brodkorb-Gespräch, wenn sie darauf verweist, daß diese ihre Haltung »jenseits der akademischen Kreise« die meisten Menschen anspreche:
Ein Konservatismus, der Werte und Traditionen verteidigt, ist ausgesprochen wertvoll und wichtig. Das ist der Kitt, der Gesellschaften zusammenhält. Und ohne Zusammenhalt gibt es auch keine Bereitschaft zum sozialen Ausgleich.
Darüber müßte endlich auch jenseits einer volksorientierten sozialen Rechten und jenseits der Wagenknecht-Bubble – noch besser, gleichwohl irreal, wäre: zwischen ihnen – eine Debatte geführt werden.
Mein Vorschlag, artikuliert u.a. in der 97. Sezession und in einem Buch, lautet,
diese Auseinandersetzungen unter dem Leitbegriff »Solidarischer Patriotismus« zu führen. Er enthält die wichtigsten Pole […]: Solidarität als »Einbezogenheit in ein soziales Geschehen«, für das man als Teil der Gemeinschaft Verantwortung trägt, im Sinne einer »Verpflichtung fürs Ganze« (Heinz Bude); Patriotismus »als gemeinwohlorientierte Haltung und Handlung«, als Bekenntnis zum Eigenen, das man verteidigen möchte.
Wie ernst ist es also Sahra Wagenknecht mit ihrem »Linkskonservatismus«? Die kommende Konvergenz der Krisen wird es – in die eine oder die andere Richtung – zeigen.
RMH
"was die Durchschnittsgrünen wohl recht treffend karikiert."
Karikatur evtl. aber nicht treffend. Ich weiß nicht, wie alt dieser Frank Graf ist, aber nur mit den Müsli-WG-Strickpulli-Grünen der 80er Jahre, die ich noch aus lebhafter eigener Anschauung heraus in Erinnerung habe, würden die Grünen niemals über 5% der Stimmen schaffen, wenn denn die Müslis von damals (unabhängig davon, ob und welche Metamorphose sie durchgemacht haben mögen) überhaupt noch konsequent Grüne wählen (da sind viele abgewandert - auch nach Rechts). Der Erfolg der Grünen war schon damals, dass sie deutlich über dieses Milieu hinaus rekrutieren konnten und es von Anfang an auch Konfirmanden und Schlipsträger unter den Grünen gab. Heute ist "Grün" - und da sind die Beschreibungen dann wieder treffender - das juste milieu, meist vom Staat bezahlt und in Staatsämtern und vom Charakter eben die, die überall und in jeder Staatsordnung mitmachen, mal mit mehr oder weniger Begeisterung, aber immer vorne. Eben die Enkel und Urenkel der Nazis und Teile der Kinder der SED.