Leistungsträgeroutfit. Gern strenge Retro-Brille. Die Männer dagegen betont jungenhaft, etwas infantil und äußerlich vergleichsweise amorph: hängende Hosen, Shirts und Scheitel. Improvisierte, etwas ungelenk vorgeführte Coolness.
Ein Pärchen setzt sich an den Nachbartisch, um einen Vortrag zu einem Informatik-Thema vorzubereiten. Sie Typ trainierter Volleyball-Kapitän, er mehr der Zuschauer. Also, wir fangen das mal so an, beginnt sie und bleibt durchweg die Spielführerin, regiert den Verlauf, behält die Initiative, skizziert eine Gliederung, strukturiert flinken Stifts um, referiert ihre Vorstellungen, bleibt beim solidarischen oder eher vereinnahmenden Wir, monologisiert und führt jedoch, wartet kaum sein Nicken ab, hat aber trotzdem den Eindruck, sie gestalte ein Gespräch.
Er akzeptiert, beschränkt sich auf nonverbale Zustimmung und unklare Interjektionen: Hm. – Sie zum Schluß: Na, das haben wir doch ganz flott in den Griff gekriegt. Mach’s gut! – Sie geht gestiefelten Schritts klangvoll davon, er folgt latschig.
Ein Klischee, aber ein symptomatisches. Seit etwa zwei Jahrzehnten wird thematisiert, daß Jungen in allen Leistungsindikatoren abfallen – absolut, in Relation zu den Mädchen sowieso. Männliche Schüler sind nach Pisa und Iglu vergleichsweise lese- und reflexionsschwach.
War früher die Mehrheit der Abiturienten männlich, so ist sie längst weiblich; hingegen sind die Abgänger der verbliebenen Haupt- und all der zusammengemodelten Resteschulen namens Regional‑, Sekundar‑, Mittel‑, Ober- und Regelschulen mehrheitlich Jungen. An einer Studie des Instituts für Sozialforschung Frankfurt zu „Konfliktgeschichten nicht beschulbarer Jugendlicher“ nahmen bis auf eine Ausnahme nur männliche Jugendliche teil. 85 Prozent der Diagnose ADHS betreffen Jungen; zwei Drittel der Sonderschüler und Schulabbrecher sind männlich, dafür sind die meisten Mediziner neuerdings weiblich.
Ursachen werden überall gesucht. Zunächst objektive: Der medienpräsente Neurobiologe Gerald Hüther meint, den Grund in den Erbanlagen zu erkennen. Bekanntlich verfügt das männliche Geschlecht statt über ein zweites X‑Chromosom über ein Y‑Chromosom. Ist das nur einmal vorhandene X‑Chromosom ganz oder in Teilen nicht optimal beschaffen, gibt es dafür keine Kompensation. Dies ist fatal, weil sich auf dem X‑Chromosom viel festgeschrieben findet, was für die intellektuelle Leistungsfähigkeit bedeutsam ist.
Außerdem werde das männliche Hirn schon in der achten Schwangerschaftswoche mit Testosteron geflutet, was zu einer erhöhten Empfindlichkeit der Jungen führe. Zwar mehr Antrieb, aber weniger Harmonie. Aufgrund ihrer höheren emotionalen Verletzlichkeit, so Hüther, bedürfen Jungen mehr noch als Mädchen einer stabilen Familie mit starken Bindekräften und Orientierungsvorbildern.
Die Psychologie spricht von „Triangulierung“, wenn sie das familiäre Dreieck Vater-Mutter-Kind meint. Eine Studie des hessischen Instituts für analytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie beklagt, daß nervösen Jungen die engagierten Väter fehlen, die in einem spielerischen ödipalen Kampf den Söhnen Grenzen setzen und behutsam zur Trennung von der Mutter, mithin zur männlichen Identifikation einladen.
Die meisten Jungen erleben in ihren ersten zehn Lebensjahren in den pädagogischen Institutionen aber kaum mehr männliche Bezugspersonen, sondern werden in Krippen, Kindergärten und Grundschulen oft ausschließlich von Frauen erzogen. Es fehlt ihnen so an positiver Spiegelung und Anerkennung männlicher Verhaltensmuster – genau das, was ebenso in der Familie wegfällt, wenn die Auseinandersetzungs- und Identifikationserfahrung wegen des fehlenden, allzu beschäftigten oder aus der Erziehung herausgehaltenen Vaters nicht möglich ist. Man denke an die hohe, ja wachsende Zahl alleinerziehender Mütter.
Neben dem Erlebnis der Begrenzung müssen Jungen die Regelung ihrer Affekte und Triebwünsche im Spiel und Dialog erlernen, am besten durch erwachsene männliche Gegenüber, vor allem den liebenden Vater, der das spezifisch männliche, mitunter motorisch-aggressive Handeln des Jungen einerseits zu akzeptieren und andererseits behutsam zu lenken vermag.
Einst regelten Jungen ihr Verhalten in Gruppen ein. Viel Reibung, allerlei Proben, Herausforderungen, mitunter Raufereien. Nur: Verließ man früher das Elternhaus, waren gleich die anderen da; heute bleiben Kinder in vielen Regionen oft allein, weil es zu wenige andere gibt. Oder sie sitzen ganztags zu Hause vor den Screens.
Der Psychoanalytiker Frank Dammasch erläutert in der Online-Zeitschrift der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung:
Während das Mädchen sich in seiner Weiblichkeit positiv gespiegelt erleben kann, sowohl von der Mutter als auch von den Erzieherinnen im Kindergarten und von den Lehrerinnen in der Grundschule, fehlt dem Jungen eine solche Sicherheit und Vielfalt vermittelnde Spiegelung seiner Identität durch Männer und Frauen.
Die mangelnde positive Anerkennung männlicher Interaktionsmuster führe häufig zu einer Orientierung an schlichten phallischen Leitbildern.
Viele Jungen und Männer neigten dazu, ihre labile männliche Identität durch „eindimensionale, großartige, kämpferische Männlichkeitsbilder“ zu stabilisieren. Killerspiele würden fast ausschließlich von männlichen Jugendlichen konsumiert. Auch Amokschützen seien immer männlichen Geschlechts.
Das früher stilbildende und positiv anerkannte Männerbild des ‘lonesome rider’ läuft aber in der flexibilisierten, leistungsorientierten Pädagogik und der sich rasant wandelnden kommunikativen Dienstleistungsgesellschaft zunehmend ins Leere.
Der Psychologe begreift die Reaktionen der lauten störenden Jungen nicht zuletzt als Gegenwehr des Nichtidentischen, als Widerstand gegen die Beschleunigungs- und Bildungseuphorie, unter der sie leiden. Indem er vorzugsweise politische Ursachen für die jungenspezifischen Nöte annimmt, dürfte er richtigliegen.
Der in der linksalternativen Szene vor Zeiten zum Kultautor avancierte Klaus Theweleit hatte in seinen wirr-genialischen „Männerphantasien“ den „faschistischen Mann“ zu erklären versucht, indem er ihn in gewaltsamer Besessenheit gegen den weiblichen Körper begriff. Die Freikorps-Landser hätten gegen die weiblichen Anteile in sich selbst gekämpft, sie seien „nicht-zu-Ende-geborene“ Männer gewesen, die ihre frei fließenden Gefühle in Körperpanzer eingeschweißt hätten. Dabei habe ihnen die Phantasie von der entsexualisierten, reinen, anständigen und hohen Frau geholfen, die Mutter etwa oder die „weiße Krankenschwester“, während sie sich gegen die „proletarische Flut“, im Bild der kommunistischen Hure, zur Wehr setzten.
Überhaupt verbanden die Achtundsechziger ihre Kritik am Patriarchat mit einer psychologisierenden Erklärung des Faschismus. Von dort ist es nicht mehr weit bis zur Degradierung des Mannes zum „Gefühlskrüppel im Charakterpanzer“ (Cora Stephan) und zur feministischen Verkürzung auf Phallokraten, potentielle Vergewaltiger und Faschisten.
Der Essayist Lothar Baier warf Theweleit einen „Selbstbezichtigungsfuror“ vor und meinte, dieser habe den Titel „Frau honoris causa“ angestrebt. Jedenfalls waren mit seiner Argumentation nur noch feministisch geläuterte Softis als Vorbilder denkbar.
In der sich modern verstehenden Schule haben herkömmliche männliche Tugenden wie Körperkraft, Risikobereitschaft, Durchsetzungs- und Überlegenheitsstreben ihren einstigen Wert verloren. Statt dessen werden Teamfähigkeit, Empathie und Kommunikationsfähigkeiten favorisiert, also tendenziell weibliche Attribute. Lehrstellen in klassischen Männerberufen nahmen ab und wurden im Dienstleistungssektor ersetzt, der eher weiche Fähigkeiten, die vielfach beschworenen „Soft Skills“, verlangt.
Neben psychologischen Deutungen dürfte ein Blick in den Wandel der Alltagsgeschichte aufschlußreich sein. Die Generation der jetzt etwa Sechzigjährigen wuchs noch in Dörfern auf, in denen Bauernhöfe florierten, oder in industriell und handwerklich geprägten Städten. Wer mit schwerer Technik umgehen konnte oder geschickt werkelte, galt etwas.
Der heutige Computerfreak ersetzt diesen Typus nur unvollständig. Er ist zwar fast immer männlich, aber von anderem Schlag. Sein „Handwerk“ fasziniert, ist aber betroffen von einem „Auraverlust“, den die Digitalisierung mit sich bringt. Wer im Netz lebt, wird selbst virtuell und so dem Natürlichen entfremdet.
Ganztagschulen, politisch als Rettungsorte gepriesen, wären früheren Jungen ein Horror gewesen, weil sie nach mittäglichem Schulschluß ihre Erlebnisse suchten, vielfach unter sich, nicht angeleitet, nicht immerfort belehrt und auf Gefahren verwiesen, sich selbst ausprobierend und Erfahrungen sammelnd. Heute werden sie TÜV-sicher verschnallt auf der Rückbank von Mittelklassewagen groß und sehen die ihnen fremde Natur durch eine Scheibe Sicherheitsglas. Eltern chauffieren sie zu einer Reihe kalenderfüllender Pflicht- und Förderveranstaltungen, an denen sie zwar teilnehmen, die sie aber kaum gestalten können.
Glücklich diejenigen, die noch an einen Sportklub angeschlossen sind oder einfach nur Fußball spielen. Immerhin hat der Bolzplatz ganze Generationen verläßlich erzogen.
Mit Katapulten und gar noch Luftgewehren zu schießen alarmierte nicht nur die Ängste einer sich stets rückversichernden Gesellschaft, sondern widerspräche dem pazifistischen Zeitgeist. Die vormilitärische Ausbildung, die meine DDR-Generation durchlief, gilt zwar heute als ideologische Zwangsvereinnahmung, ermöglichte neben physischem Training aber Bewährungssituationen und stärkte das gemeinsame Durchhaltevermögen in frustrierenden Situationen.
Nachdem wir vierzehn geworden waren, begann das Ablegen der Fahrerlaubnis für Moped, wenig später Motorrad, Traktor und LKW. Jeder jugendliche Junge konnte alles fahren; alle schraubten an ihren Maschinen herum. Die Knaben am Klavier waren in der krassen Minderheit, wurden immerhin skeptisch bewundert.
Der Schliff in der Gefechtsausbildung ödete uns zwar an, die Ausbilder verhielten sich mitten im DDR-Sozialismus in Geste wie Wort noch so rüde und diskriminierend wie im Dritten Reich, aber wenn wir uns umsahen, steckten noch Dutzend andere von uns im selben Schlamassel. Niemand wollte so den Kalten Krieg idyllisieren, aber offenbar neurotisierte der Kollektivismus als sozialistische Form des Männerbündischen weniger als die heutige permanente Unterforderung im Körperlichen und die Orientierung auf einst als weiblich identifizierte Verhaltensmuster.
Jungen suchen Erlebnis und Bewährung. Die Abschaffung der Wehrpflicht beendete eine traditionelle Form männlicher Erziehung. Eingestanden, man wurde dabei in den Senkel gestellt und angeschnauzt, man wurde nicht selten verdammt ungerecht behandelt; aber man lernte das eben auszuhalten und knickte später auch im Zivilleben nicht so schnell ein.
Mag wohl sein, daß die einstige Hoffnung auf Zukunft, in den Nachkriegsjahrzehnten durch den wirtschaftlichen Aufschwung bedingt, eine männliche Lebensart ausbildete, die sich von der des entpolitisierten schnellen Erfolgs unterschied, also von der modernen kalten Cleverneß des bloßen und teils unverdienten Vorteilsnehmers in den Zeiten von „New Economy“.
Mittlerweile stehen infolge extremer politischer Kampagnen nicht nur weibliche und männliche Prägungsmuster in Frage, so problematisch manche von ihnen auch gewesen sein mögen, sondern überhaupt die geschlechtliche, mithin grundsätzliche Identität. Ganz abgesehen davon, daß „weißer Mann“ zu einem veritablen Schimpfwort der woken Bewegung avancierte.
In der Zukunft scheint es kälter und enger zu werden. Jungen, die in der Schule klarkommen, wollen nach wie vor weniger Schlosser, Konstrukteure oder Ingenieure werden, sondern BWLer, Banker und Web-Designer. Sie gehen noch im „Gender-Mainstreaming“ auf. Mag aber sein, daß der anstehende Mangel neuerlich Tugenden als notwendig erscheinen läßt, die einst als primär männlich identifiziert wurden.
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Hier sei ein Literaturhinweis gestattet. Antaios hat Jack Donovans Männer-Trilogie ins Deutsche übersetzen lassen, sie ist vollständig hier einseh- und lieferbar, natürlich auch in Einzelbänden.
Martin Heinrich
Es gibt für Jungen keine Initiationsriten mehr, die die Jungen gezielt vom Rockzipfel der Mutter entfernen und ihn zum eigenständigen Mann machen. Das war ansatzweise der Militärdienst, ist aber mit einem echten Initiationsritus, der immer auch spirituell ist, nicht zu vergleichen. Aber es hilft nicht, alten Zeiten hinterher zu trauern. Lehnen wir uns zurück und lassen die Gruppen "das Kind schaukeln", die seit Jahren besonders verhätschelt werden: Frauen und Migranten. Mögen sie beweisen, dass sie es in der kommenden Krise besser können als die weissen, alten Männer. Ich freue mich darauf.