In den letzten Wochen wurde auch hier im Netztagebuch der Sezession intensiv über die Entwicklungen und Chancen des bevorstehenden „heißen Herbst“ diskutiert. Neben dem kurzfristig zu gewinnenden Protestpotential und möglichen Wählermassen für die AfD rückt die Frage der Nachhaltigkeit, Beständigkeit und dauerhaften Unversöhnlichkeit mit dem Establishment immer stärker in den Vordergrund.
Anders, als manche Journalisten, Establishment-Politiker oder der Verfassungsschutz interpretieren, erlebe ich in Gesprächen mit rechten und patriotischen Kreisen keine revolutionären und umstürzlerischen Phantasien. Vielmehr eine Art offene Erwartungsanspannung, die aber mit der eigenen Ressourcenverfügbarkeit und der Realität herrschender Machtstrukturen deutlich pragmatischer bis desillusionierter umgeht.
Götz Kubitschek hat in seinem ersten Beitrag der aktuellen Textreihe zunächst vier Krisenwellen von der Finanzkrise 2008, über die Migrationskrise 2015, Corona 2020 bis zur jetzigen Inflation und Energieversorgungskrise skizziert. Der Staat vermochte es, durch die effizienten Instrumente der modernen Macht- und Herrschaftstechnik all diese Krisen abzufedern und einzudämmen.
Das Aufkommen einer rechtskonservativen Parteialternative zwischen diesen Krisenwellen erschien zwar als Hoffnungsschimmer und als Ausdruck einer politischen Immunreaktion der Bevölkerung, diese konnte aber durch eine zwar riskante, aber dennoch zunächst wirksame Ausgrenzungsstrategie im Kleinen gehalten und als auszuhaltender Systemfehler integriert werden.
All diese Krisen dürften zwar kleinere Vertrauensfrakturen ausgelöst haben, aber konnten durch die Garantien und Leistungsfunktionen des Sozialstaates, sowie dem ungebrochenen Wirtschaftswachstum kein grundsätzlich antagonistisches Milieu zum herrschenden Systemkonsens herausbilden.
Die Lücke eines rechten Milieus
Es ist die jahrzehntelange Lücke des deutschen rechtskonservativen Lagers, daß parallel zu seinen metapolitischen Vorfeldstrukturen und einer eigenen Partei kein größeres gesellschaftlich-soziales Milieu gewachsen ist, das sich durch einen gemeinsamen Wertekonsens oder eine gemeinsame sozioökonomische Lage auszeichnet.
In einem früheren Beitrag auf diesem Blog habe ich bereits beschrieben, wie solche Milieus bspw. innerhalb der bestehenden parteipolitischen Konfigurationen gewachsen sind, während rechte Alternativen immer nur Ausdruck von kurzweiligen Protestimpulsen waren, die sich meist als Absetzbewegungen aus dem zuvorderst unzufriedenen Teil des etablierten Parteispektrums darstellten. Nahezu alle Wahlerfolge von Parteien rechts der Union, von NPD über die Schill-Partei bis zu den Republikanern, äußerten sich als gesammelte Bruchstellen im Wählerspektrum der CDU/CSU.
Der Anteil überzeugter Anhänger blieb jedoch marginal. Dies hatte zur Folge, daß die politische Rechte in Deutschland bereits einen größeren Parteienfriedhof hinterlassen hat und die Haupttodesursache zumeist an der langfristigen Bindung der Protestwählerschaft über soziale Milieus und feste Communitys scheiterte.
Nun sammelt sich wieder der Protest und die Unzufriedenheit. Die skeptischen bis pessimistischen Zukunftserwartungen für dieses Land bohren sich in die allgemeine gesellschaftliche Stimmungslage und die Frage nach Dauer, Beständigkeit und Nachhaltigkeit des Vertrauensbruchs zur Politik der Altparteien gewinnt an Relevanz.
Die Krisen der letzten beiden Jahrzehnte konnten durch den prosperierenden Wirtschaftsstandort Deutschland größtenteils solide abgefedert werden. Trotz dessen, daß seit Jahren die Mittelschicht in diesem Land schrumpft und das Lohngefälle auseinanderklafft, waren bspw. die Migrationskrise 2015 oder auch Corona eher Krisenereignisse, in denen die Altparteien zuvorderst kulturelles Vertrauenskapital einbüßen mußten.
Probleme wie die Ersetzungsmigration, die Gefahr des Finanzcrashs oder auch die Coronakrise äußerten sich als weltanschauliche Glaubenskonflikte mit bestimmten subjektiven Wahrnehmungshorizonten. Die ökonomische und konkret materielle Gefährdungslage blieb für den einzelnen jedoch moderat und abgefedert. Der Kulturkampf wird jetzt jedoch möglicherweise um eine weitere Ebene der materiellen Wohlstandsverteilung ergänzt.
Das postmaterielle Milieu
In den 80er-Jahren entwickelte sich mit dem postmateriellen Milieu der Grünen ein Gegengewicht zum bis dato dominierenden Milieu der materialistischen Wirtschaftswundergeneration. Schon wenige Jahre nach dem Aufkommen der Grünen wandelte sich deren Wählerschaft schnell in Richtung ihrer heutigen Stammbasis aus Akademikern, Beamten und überwiegend einkommensstarken Schichten, die schließlich auch Zugriff auf die staatlichen Positionen und Ressourcen bekamen.
Inzwischen ist bekannt, daß dieses Milieu zwar nicht die allgemeine Bevölkerungsmehrheit darstellt, aber zumindest an den entscheidenden meinungsbildenden Schlüsselstellen von Medien, Universitäten, Schulen, Lobbys- und Interessenverbänden und dem politischen Betrieb festgesetzt ist.
Über viele Jahre galt das Selbstbild des postmateriellen Milieus, als Korrektiv der Gesellschaft zu fungieren und die mahnende Stimme gegen den Raubbau der ökologischen Ressourcen zu sein. Schon mit der ersten Regierungsbeteiligung der Grünen im Jahr 1998 war die Transformation von der Parteiplattform für ökologische Vorfeldorganisationen in die Schichten der bürgerlich-engagierten Mittel- und Akademikerschicht abgeschlossen.
Showdown der Postmaterialisten
Über viele Jahre konnte man in der soziologischen Kartografie der Bundesrepublik eine ausgeglichene Balance zwischen einer zuweilen leicht schwächeren demographischen Minderheit der liberal-intellektuellen bis sozialökologischen Milieus und einer traditionellen bürgerlichen Mitte mit Statusverlustsorgen beobachten. Die letztere Gruppe war meist politisch apathisch, während erstere meinungsbildend auf den Mainstream einwirken konnte.
Trotz der inneren gesellschaftlichen Kulturkonflikte, die mit der Sarrazin-Debatte, der Migrationskrise und dem Erfolg der AfD aufkamen, konnte die Stabilitätssäule des ökonomischen Wachstums größere Erregungswellen solide eindämmen.
Der materielle Wohlstand war die Konsensklammer, er fungierte als informelle gesellschaftliche Übereinkunft zwischen den postmaterialistischen Milieus und der bürgerlichen Mittelschicht bis zu den Prekären, die der Staat im Zweifel durch eine umfangreiche Alimentierungspolitik ruhig stellen konnte. Ein Blick auf die subjektiv eingeschätzten wirtschaftlichen Erwartungen zeigt auf der Langzeitkurve der allgemeinen Einschätzungen zur Wirtschaftslage im Land stets starke Schwankungen.
Die Prognosen und Lageeinschätzungen der eigenen wirtschaftlichen Lebenssituation hingegen konnten sich stets konstant halten. Der Einzelne schätzte also die allgemeine wirtschaftliche Lage des Landes überwiegend pessimistischer ein als seine eigene.
Neue Milieus?
Dort, wo innerhalb von Gesellschaftssystemen neue Milieustrukturen entstehen, sind nach der sogenannten „Cleavage-Theorie“ stets tiefere gesellschaftliche Konflikte die Vorbedingung, die schließlich auch neue politische Repräsentationsangebote erschaffen. Diese Struktur kann einerseits entlang sozioökonomischer als aber auch kultureller Konflikte verlaufen.
Die Krisen und Konflikte des letzten Jahrzehnts waren eindeutig kulturell intendiert und begünstigten schließlich auch die Etablierung einer rechtspopulistischen Kraft in der deutschen Parteienlandschaft. Durch die demoskopische Studienlage wissen wir, daß sich die AfD-Wählerschaft zu durchschnittlich höheren Anteilen aus abstiegsbedrohten Mittelstandsschichten und prekären Milieus zusammensetzt.
Die Wahlmotive verliefen jedoch nicht innerhalb einer ökonomischen, sondern wesentlich stärker in einer kulturellen Dimension. Ein Stimmungspanorama aus Enttäuschung, gesellschaftlicher Zurückweisung („alte weiße Männer“) und Nicht-Anerkennung eigener früherer Lebensleistungen (Ostdeutschland-Debatte) war das psychopolitische und mentale Programm, das die AfD absorbieren und in Wählerstimmen umwandeln konnte.
Hinzu kam stets eine empfindlichere Sensorik für wirtschaftliche Abstiegsszenarien. Obwohl die AfD-Wählerschaft selbst sich in ihrer eigenen individuellen wirtschaftlichen Situation bedrohter fühlte als andere Wählerspektren, blickte die Mehrheit der Parteianhänger optimistisch auf die eigene Lage.
Das Phänomen der AfD und des gesamten europäischen Rechtspopulismus war also weniger eines der konkreten und existenziellen sozialen Prekarisierung als vielmehr eine pessimistische Zukunftswette darauf, ob der materielle Wohlstand angesichts der immer engeren Taktung der politischen Krisen und dem wachsenden Vertrauensverlust in das Establishment zu halten sein wird.
Die in den 70er-Jahren entwickelte Theorie vom „stillen Wertewandel“ nach Ronald Inglehart erlebt durch den aufkommenden Rechtspopulismus in Westeuropa ihre ersten Widerlegungen. Solange soziale und politische Systeme die Grundbedürfnisse nach Sicherheit, Ordnung und materieller Stabilität abdecken können, verlagern sich die Gesellschaftskonflikte in die kulturelle Sphäre und können somit grundsätzliche und tiefere identitäre Spannungs- und Polarisierungslinien sublimieren.
Nun erleben wir möglicherweise jedoch einen Rückschlag gegen das postmaterielle Milieu.
Mit dem heutigen Stand wissen wir, daß die kommende wirtschaftliche Rezession unvermeidbar geworden ist. Die ohnehin schon latent abstiegsbedrohte Mittelschicht spürt die finanziellen Einschränkungen bereits im Lebensalltag. Die Entlastungspakete der Bundesregierung sind bisweilen nichts weiter als parteipolitische Symbol- und Klientelpolitik.
Die Krise ist jedoch nicht erst durch den Russland-Ukraine Krieg gewachsen, sondern die Konsequenz einer desaströsen Politik, in dem die linken postmateriellen Milieus zum Showdown übergegangen sind. Deindustrialisierung, die ökologische Transformation, Digitalisierung und die neue Arbeitswelt sind die Zukunftsprojekte, die notfalls auch zum Preis von Wohlstandsverlust und allgemeiner Verarmung in Kauf genommen werden.
„Wenn wir jetzt etwas #Wohlstandsverlust hinnehmen, können wir damit auch zeigen, dass wir solidarisch sind mit der #Ukraine“, so die Moderatorin und Autorin Petra #Gerster über die Situation in Deutschland im kommenden Winter. #Maischberger @DasErste pic.twitter.com/O4PCAAOVgA
— Maischberger (@maischberger) September 6, 2022
Nichts beschreibt die neue Konfliktlinie plastischer als die wochenlangen Straßenblockaden linker Ökoaktivisten, die wütenden Autofahrern auf ihrem Weg zur Arbeit gegenüberstanden. Auf der einen Seite wirtschaftlich versorgte Berufsaktivisten und Alt-68er-Rentner und auf der anderen Seite jene Menschen, die Tag für Tag das ihnen zugesicherte Wohlstands- und Aufstiegsversprechen durch Arbeit für sich selbst und ihre Familien einlösen wollen.
Die neue Konfliktlinie wird also auch den Verteidigungskampf um die materielle Besitzstandswahrung der Mittelschicht gegen das vollversorgte und ökonomisch weitgehend abgesicherte Milieu der Postmaterialisten abbilden.
Die Dimension des gegenwärtigen Kulturkampfes wurde um eine weitere Krisenvariable der Ökonomie erweitert und könnte somit den Abwehrreflex und das materielle Bewahrungsbedürfnis der Mittelschicht erhöhen und somit zugleich einen Politisierungsschub hervorbringen, der die gesellschaftlichen Frontstellungen konkreter, substanzieller und sichtbarer macht.
Die milieuspezifische Identität dieser neuen Mittelschicht kennzeichnet sich immer noch durch einen affektiven Widerstandsimpuls. Diese Mittelschicht kann den Gegner jedoch klarer benennen und identifizieren und daraus ein Selbstverständnis ableiten, welches sich gleichermaßen aus kulturellen Konflikten wie aus einer materiellen Verteidigungsposition heraus speist, womit eine gemeinsame soziale und politische Identität stabilisiert werden kann.
Dies muss nicht bedeuten, daß die Verfestigung eines neuen Materialisten-Milieus automatisch auf das Wählerkonto der AfD geht. Dennoch wird die soziale Struktur der Bundesrepublik neu geordnet und zwei antagonistische Pole stehen sich gegenüber, mit einer Seite, die den kulturellen und ökonomischen Umbau weiter versucht voranzutreiben und einer Seite, die den Preis dafür zahlt und politische Abwehrkräfte entwickeln wird.
Die Machtversicherung des postmateriellen Milieus war stets die Passivität der materialistischen Mittelschicht. Diese informelle gesellschaftliche Übereinkunft, kulturelle Transformation mit wirtschaftlichem Wohlstand zu besichern , ist hinfällig geworden.
Die Postmaterialisten haben in ihrem „Klassenkampf von Oben“ eine zweite Frontstellung eröffnet, die zunächst die Frustration und den Zorn der Gegenseite erhöhen wird, aber gleichzeitig auch die Chance einer tieferen politischen Identitätsbildung sein kann. Die entscheidende Frage der nächsten Jahre wird also sein, wie bspw. auch Akteure mit der Formung dieser neuen Milieustruktur umgehen werden und inwiefern sie Vertrauenskapital gegenüber einer immer stärker politisierten Mittelschicht aufbauen können.
Ihre Aufgabe besteht darin, visionäre Ideen und politische Zielsysteme vorzudenken und zu gestalten, die dem materiellen Wohlstandsbedürfnis Rechnung tragen, ohne dabei in eine allzu romantisierende BRD-der-60er-bis-80er-Jahre-Nostalgie zu verfallen. Maßgeblich wird ein Gegenentwurf sein, der die Wut und den Protest in langfristige politische Strukturen und soziale Lebenswelten eingliedert und eine alternative systemische Zielvorstellung für das rechtskonservative Lager präzisiert.
Für den heißen Herbst bedeutet dies zunächst, keine Aufstände, Revolten oder andere Tag‑X Szenarien zu erwarten, sondern stattdessen auf nachhaltigen Strukturaufbau, Community-Organizing in der Fläche und die Kampagnenfitness für das rechte Lager zu setzen. Denn die Herausbildung eines sozialen Milieus ist kein plötzlicher Akt. Er vollzieht sich im Rahmen vorgezeichneter Entwicklungen, die politische Akteure jetzt richtig einordnen und analysieren sollten.
quarz
"Der Anteil überzeugter Anhänger blieb jedoch marginal."
Diese schlichte Wahrheit verdient mehr Beachtung. Quer durch alle psychologischen Modelle (von der Psychoanalyse bis zur Gehirnforschung) wurde immer wieder die Einsicht zutage gefördert, dass die menschliche Psyche Probleme mit der Verarbeitung von Negationen hat und dass diese Probleme einer stabilen Willensbildung im Wege stehen.
Auf die hier besprochene Situation bezogen können wir daraus lernen, dass bloßer Protest („So nicht!“) keine hinreichende Basis für eine Leit-Motiv ist, das durch den dornenreichen Weg zu einer Kurskorrektur zu tragen vermag. Das haben die Grünen nämlich gut hinbekommen. Mag sein, dass ihre Idee an der Realität scheitert oder überhaupt zu widersprüchlich konzipiert ist, um bereits apriorischen Einwänden standzuhalten. Aber jedenfalls hat sie hinreichend Schmalz, um als vage Vision in den Köpfen von Leuten verankert zu werden, die dem Stern dann hartnäckig folgen. Nicht nur durch die Institutionen, sondern auch ins Privatissimum.
Das fehlt weitgehend in der rechten Bewegung, die sich und eine überschaubare Schar von Anhängern zwar immer wieder kurzfristig um diese oder jene „muss weg!“-Aktion versammeln, dann aber letztere nicht halten kann, sondern beklagen muss, dass sie wieder im Frust versinken anstatt bei der politischen Stange zu bleiben. Die Leute brauchen ein Bild im Kopf, das sie stets daran erinnert, woFÜR sie kämpfen. Ein „Nein!“ ist kein Bild.