Es handelt sich um vergessenes Buch eines hierzulande völlig unbekannten Autors, auf den mich ein skandinavischer Freund hinwies.
Rütger Essén (1890–1972) war ein schwedischer Diplomat, Schriftsteller und Journalist sowie Mitglied von rechten, in den dreißiger und vierziger Jahren pro-deutschen Organisationen wie der “Schwedischen Nationalliga” (Sveriges Nationella Förbund). Nach dem Krieg war er in Schweden ein weithin respektierter Intellektueller, durchaus noch innerhalb des “Mainstreams”.
Es gibt meines Wissen drei Bücher, die von ihm auf Deutsch erschienen sind: Der zeitdiagnostische Reisebericht Zwischen der Ostsee und dem Stillen Ozean (1925), eine Biographie Sven Hedins (1959), und das mir vorliegende Fundstück Die russische Gleichung, geschrieben Ende 1940, aktualisiert im August 1941, zwei Monate nach Beginn des “Unternehmens Barbarossa”, auf Deutsch erschienen im Kriegsjahr 1943.
Es entstand also kurz vor dem großen deutsch-sowjetischen Krieg, der das Schicksal der Welt für die nächsten Jahrzehnte, bis auf den heutigen Tag, entscheiden sollte. Es handelt sich um einen geopolitischen und historischen Überblick über das Verhältnis Rußlands zu Europa, in dem sich eine Menge Betrachtungen wiederfinden, die heute erneut virulent geworden sind. Bei der Lektüre stieß ich auf etliche interessante und verblüffende Stellen, von denen ich einige zitieren will.
Essén hatte Rußland als Delegierter des schwedischen Roten Kreuzes (1916–17) und später als Diplomat in Sibirien (1922) aus eigener Anschauung kennengelernt, also etwa zur Zeit der russischen Revolution und des daran anschließenden Bürgerkriegs. Es handelt sich hierbei um ein entschieden “antibolschewistisches”, keineswegs jedoch um ein per se russenfeindliches Buch. Der Autor hegt eine deutliche Faszination für Rußland, und betrachtet es als natürliche Aufgabe der nordischen Völker, vor allem der Schweden, als Mittler zwischen Rußland und dem “Abendland” zu wirken.
Kurz gesagt sah Essén in Rußland einen Faktor, der nicht aus der Weltpolitik zu substrahieren sei, der nicht von der Landkarte verschwinden werde, und mit dem immer gerechnet werden müsse.
Das Buch stellt die Frage, unter welchen Voraussetzungen und mit welchen Möglichkeiten ein dauerhaftes friedliches Gleichgewicht zwischen Rußland und Europa hergestellt werden kann, eine “Lösung, die auf Generationen hinaus Frieden, Sicherheit und beiderseitige ungestörte Entwicklung gewähren kann.”
“Die russische Gleichung” läßt sich reduzieren, aber nicht lösen. So wie bei allem Lebendigen kommen dauernd neue Faktoren und neue Unbekannte hinzu, und die Zahl der Kombinationsmöglichkeiten ist Legion.
“Kombinationsmöglichkeiten”, die in der laufenden Eskalationsspirale zunehmend fatal reduziert wurden, bis nur mehr der Tunnelblick auf atomare Eskalationen übriggeblieben ist.
Nicht anders als die russischen Vordenker der Eurasien-Idee, deren bekanntester Vertreter heute Alexander Dugin ist, sah Essén Rußland als eigenständige Zivilisation, deren Nationalcharakter weder gänzlich europäisch, noch gänzlich asiatisch, sondern ein Drittes sei. Er schrieb:
Die erste Voraussetzung für ein leidliches und beiderseitig gewinnbringendes Verhältnis zwischen Rußland und den europäischen Völkern ist eine klare Einsicht bei diesen, daß Rußland “anders” ist, und daß im Wesen des russischen Volkes und der russischen Gesellschaft ein Unterschied zu Europa besteht. Darüber hinaus ist auch ein sympathisches Verständnis für die ganz besondere Eigenart dieser beiden erforderlich.
Diesen Unterschied hat nun auch Putin in seiner Rede zur Annexion der Ostukraine (hier und hier) betont: Rußland hat eine eigene Geschichte und eine eigene staatliche und kulturelle Tradition, die mit dem “Westen” und seinen Modellen, die Anspruch auf universelle Geltung erheben, unvereinbar sei. Deshalb sei für Rußland nur eine multipolare Weltordnung annehmbar.
Mit “Westen” meinte Putin vor allem das angloamerikanische Imperium, während Essén mit dem Begriff “Abendland” einen ehrwürdigeren, weiter gefaßten Begriff benutzt. An dieser Stelle werden die Begriffe notorisch unscharf. “Abendland” würde zwar die “Westmächte” (Großbritannien, Frankreich, teilweise auch den Anglo-Ableger USA) inkludieren, wäre aber nicht identisch mit dem, was Essén 1941 analog zu Putin 2022 den “Westmächteimperalismus” nannte. “Europa” begann für ihn “westlich der scharfen historischen Kulturgrenze der orthodoxen russischen Kirche”.
In der Geschichte Rußlands wechseln eher “europäische” und eher “asiatische” Perioden einander ab. Die “Europäisierung” Rußlands durch Peter den Großen habe eine Spannung und “innere Spaltung” in das Land eingeführt, die sich niemals aufgelöst hat. “Europa” wirkte als eine Art produktiver Fremdkörper, der immerhin die große russische Literatur des 19. Jahrhunderts gezeugt hat. Mit dem Kriegseintritt 1914 begann eine “Fieberkrise”, die schließlich zum Zusammenbruch des Zarenreichs und zur Vernichtung der “europäisierenden und europäisierten russischen Elemente” geführt habe.
So wurde – bis auf weiteres – die innere Zersplitterung im russischen Wesen gelöst, die das staatliche und öffentliche Dasein des Volkes zweihundert Jahre lang beherrscht hatte.
Essén betrachtete die Revolution von 1917 als harten Bruch mit dem “europäischen Staatssystem”, an dem es zweihundert Jahre lang teilgehabt hatte, und darüber hinaus als “russisch-asiatische Reaktion gegen alles europäische Wesen, gegen all das, wofür St. Petersburg, diese gehaßte Stadt, verantwortlich war”. Sehr ähnlich dachte Oswald Spengler, der in Jahre der Entscheidung schrieb, Rußland wäre durch den Bolschewismus zu einer “asiatischen, ‘mongolischen’ Großmacht” geworden.
Über Esséns Darstellung des “unveränderlichen Rußlands”, des russischen Nationalcharakters, mag man streiten oder sie auch mit der Schilderung des von Putin gern zitierten Iwan Iljin abgleichen, der die Akzente und Wertungen anders setzt, aber doch auch viele Übereinstimmungen mit Essén aufweist.
Letzterer betont jedenfalls den “wachträumerischen”, mystischen Aspekt der russischen Seele und die geringere Bedeutung des Rationalismus im russischen Denken, Elemente, die der russischen Kunst “in der Musik, im Theater, in der bildenden Kunst” zugute gekommen seien.
Er konstatiert beim Durchschnittsrussen eine “mangelnde individuelle Energie und das hervorstechende Fehlen eines persönlichen Verantwortungsgefühls”, was durch stärkeren staatlichen Zwang kompensiert werden muß. “Der Kollektivismus” sei dabei “keine sowjetische Erfindung. Er ist eine urrussische Wirklichkeit”.
Essén betrachtet die “Gewaltherrschaft” und die Neigung zum “Zwangsregiment” als unübersehbare Konstanten im russischen sozialen Leben:
Ein gutes Regime in Rußland ist patriarchalisch, ein schlechtes despotisch. Eine Demokratie ist undenkbar, ebenso eine wirkliche Aristokratie. Am meisten fremd ist dem russischen Wesen jedoch die liberale oder “naturrechtliche” Anschauung, die Vorstellung von einer natürlich berechtigten Freiheitssphäre des einzelnen, die die Gesellschaft und die Staatsgewalt respektieren sollen und müssen. Dieser Gedanke, der für das Abendland von einer solchen geistigen Bedeutung gewesen ist, hat in Rußland nie Fuß gefaßt.
Auch hier kann man sich gut vorstellen, daß ein dezidierter Feind des Liberalismus wie Alexander Dugin vorbehaltlos, wenn nicht gar enthusiastisch zustimmen würde. Die Diagnose scheint auch heute noch zu stimmen. Das Herrschaftssystem Putins hat mit “Demokratie” im westlichen Sinne in der Tat wenig zu tun, und oft habe ich gehört, wie es Russen mit dem Argument verteidigen, man müsse nur einen Blick auf die Karte werfen, um zu erkennen, daß man diesen riesigen Kontinentalsattel nicht regieren kann wie die Schweiz.
Essén fährt fort, daß die “Freiheitssphäre des einzelnen” in Rußland als “eine Erscheinung innerer, geistiger Art” verstanden werde.
Deshalb werden in Rußland rein seelische Eigenschafte wie Güte, Mitleid, Resignation, die christliche Liebe, Opferwillen für die menschliche Gemeinschaft und dergleichen die mildernden Faktoren ergänzen müssen, die man in Europa nach dem Mittelalter schrittweise durch “soziale” Einrichtungen und “humane” Rechtsregeln zu verwirklichen gesucht hat. Deswegen glaubt auch jeder wahre Altrusse, daß das Abendland antichristlich ist, und daß nur das russische Volk wahrhaft christlich ist.
Das Sowjetsystem hat hierin nicht viel geändert.
Aus diesem Grund sieht Essén im russischen Zarentum den “bisher am weitesten geführten Versuch”, das “staatliche Moment” mit einem “ideellen religiösen Moment im Zeichen der christlichen brüderlichen Liebe zu verkoppeln”.
Es ist unübersehbar, daß Putin teilweise versucht, an derlei Elemente anzuknüpfen. Man nehme etwa diese Sätze seiner jüngsten Rede, (obwohl auch er nicht daran vorbei kann, die “Freiheit” als Wert zu nennen – womit wohl weniger die individuelle, als die nationale gemeint ist):
Wir brauchen heute eine konsolidierte Gesellschaft, und diese Konsolidierung kann nur auf Souveränität, Freiheit, Schöpfung und Gerechtigkeit beruhen. Unsere Werte sind Menschlichkeit, Barmherzigkeit und Mitgefühl.
Dem russischen Hang zum “Zwangsregiment”, so Essén weiter, stehe der komplementäre Hang zur “Anarchie” gegenüber, verbunden mit dem Drang nach “Berauschung, Selbstbetäubung und das Selbstvergessen verschiedener Art”, was der russische Mensch aber gleichzeitig auch als “Erbsünde” wahrnehme, die der Gnade und der Vergebung bedarf. Dieser anarchische Wesenzug habe vor allem während der Revolutionszeit zu furchtbaren Exzessen geführt, die nach etwa drei Jahren in einem gewaltigen “Katzenjammer” endeten.
Die “bolschewistische Revolution von 1917” war
… eine Sprengung aller Bande und die Niederreißung aller Schranken, die allerorten in einem Gemeinwesen erfolgt, wenn die letztlich durch Zwangsmittel aufrechterhaltene äußere Ordnung außer Funktion tritt. Dies geschieht wie gesagt in derartigen Fällen überall, aber in Rußland wird es zehnmal so schlimm wie anderswo, weil psychische Hemmungen fehlen, und wie die “swoboda” (“Freiheit”) des Durchschnittsrussen bedeutet, alles zu tun, was einem einfällt, sich also göttlich auszufaulenzen, zu schlafen und zu essen und Frauen zu vergewaltigen, sich in Lastern und Verbrechen zu sielen, in einem ständigen Rausch zu leben und auch das geringste Überbleibsel von inneren und äußeren Hemmungen loszuwerden – sich überhaupt auf echt russische Weise “auszuleben”.
Denken wir Deutsche und Österreicher bei diesen Zeilen nicht an die Massenvergewaltigungen durch russische Soldaten im Jahr 1945?
Über die Bürgerkriege bemerkte Essén:
Der Heldentaten gab es wenig, der Grausamkeiten und Massaker umso mehr. Der Kampf wälzte sich wie eine müde und von sich selbst angeekelte Blutorgie vorwärts.
Auch die russische Neigung zu einem “blinden Ausdehnungsdrang”, aus der sich die “russische geopolitische Dynamik” ergebe, sieht Essén in einem “mangelnden inneren Halt” begründet.
Der Großteil der Russischen Gleichung ist eine detailierte Darstellung der russischen Geschichte, insbesondere der Innen- und Außenpolitik der Sowjetunion bis zum Ribbentrop-Molotow-Pakt von 1939 und dem finnisch-russischen Krieg von 1939/40.
Auffallend für ein Buch, das mitten im Zweiten Weltkrieg im Dritten Reich erschienen ist, ist der sachliche, “realpolitische” Tonfall, ohne jegliche Dämonisierung und Moralisierung, wie man sie aus anderem antibolschewistischem Schriftgut dieser bis zum Siedepunkt erhitzten Zeit kennt.
Nichtsdestotrotz war Essén davon überzeugt, daß Rußland durch seine Bolschewisierung zur Gefahr für Europa geworden sei, gefährlicher als in den Jahrhunderten zuvor:
Europa war für die Bolschewisten eine Beute, eine Beute für die Weltrevolution und damit eine Beute für die russische Macht, eine gewaltige Plünderungs- und Zerstörungsaufgabe, die dem auserwählten Volk in die Hand gegeben war. Laut dem “Mythus” des Bolschewismus ist Rußland nämlich ein Werkzeug der Weltrevolution. Aber in Wirklichkeit wurde statt dessen die Weltrevolution zu einem Werkzeug der russischen Politik gemacht. In 30er Jahren setzte allmählich die Abnutzung dieses Werkzeuges ein, aber vorher war es fürwahr bis zum äußersten ausgenutzt worden.
Das “Selbstgefühl” des Landes wurde “asiatisch”, oder genauer gesagt “eurasisch”, “um einen heutzutage in Rußland geschätzten Ausdruck zu benutzen”. Die “russische Epoche, die mit der bolschewistischen Revolution” begann, “ist mit einer der Erdberührungen des mythischen Riesen vergleichbar, der dadurch neue Kräfte bekam”. Ein Kraftzuwachs, der allerdings nur vorübergehend sei.
An dieser Stelle äußert sich Essén etwas widersprüchlich. Während er sich stellenweise überzeugt gibt, daß diese antäisch-bolschewistisch-asiatische “Epoche” mit dem “Riesenkampf gegen das Deutsche Reich” enden wird, ist der Grundtenor seiner Schlußbetrachtungen viel dramatischer.
Mit dem “Ausgang des Waffenganges im Osten”, der keineswegs gewiß ist, werde das Schicksal Europas ein für alle Mal entschieden werden. In diesem Kampf steht buchstäblich alles auf dem Spiel. In ihm verbünden sich schließlich Rußland und der Angloimperialismus gegen Europa:
Für den europäischen Kontinent würde der russisch-englisch-amerikanische Krieg das Chaos und einen Verfall auf lange Zeit hinaus im Gefolge haben. Wir würden das “kosakische Europa” zu sehen bekommen, von dem Napoleon seiner Zeit sprach, aber in einer Form, von der er sich keine Vorstellung machen konnte. Wahrscheinlich würde das überhaupt das Ende der europäischen Kulturperiode in der Weltgeschichte bedeuten.
Im Falle eines deutschen Sieges und einer Zerschlagung der Sowjetherrschaft, hätte aber auch Rußland die Chance einer großen nationalen Zukunft, insofern es auf jeglichen Expansionsdrang nach Westen verzichtet und eine eigene Form des Nationalismus entwickelt.
Die russische Geschichte ist blutig, grausam und menschlichen Leides voll, aber auch durch Opferwillen, Resignation und menschliches Mitleid geprägt. Der prägende Eindruck ist ein Zug von Unausgereiftheit. Rußlands g r o ß e Geschichte liegt noch in der Zukunft.
Im nächsten Teil mehr dazu, wie dies nach Essén möglich sein sollte, und welche Rolle er dabei der Ukraine zugedacht hatte.
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RMH
Vielen Dank, bislang spannend, ich halte mich konkreten Kommentaren dieses Mal zurück, bzw. warte auf Teil 3. Nur eine Anmerkung eher allgemeiner Art:
Wenn in einem Krieg der erste Schwung verloren geht, man in die Verlängerung muss und die Sache neu nach vorne getrieben wird, dann schlägt die große Stunde der Ideologen, Mythologen und all derer, die als Abklatsch sich heute evtl. auch "Coach" nennen würden. In der Roten- und später Sowjetarmee in den Einheiten dann der Politruks. Und die haben ihre Ideologie bekanntermaßen gerne auch mal mit dem Genossen Mauser in den eigenen Reihen durchgesetzt. Man darf die Frage stellen, ob der Wechsel vom zunächst geplanten, kurzen Polizeieinsatz mit schnellem Abschlagen des "Kopfes" hin zum Weltanschauungskrieg (das Wort darf meiner Meinung nach verwendet werden) nicht auf eine Gefahr hindeutet, die über alles Weltanschauliche hinaus geht. Am Ende sterben viele - und die nachfolgende Generation fragt sich, für was eigentlich? Deutschland leidet bis heute darunter, dass ein Krieg ideologisch aufgeladen wurde und bis zum bitteren Ende durchgezogen wurde. Das sich Politiker und Ideologen in eine konkrete Kriegsführung eingemischt haben (ohne konkret mitgekämpft zu haben) - gibt es dazu eigentlich auch Beispiele, wo das am Ende den Erfolg gebracht hat? Verlor mit den Krieg dann nicht nur das Land, sondern auch die Ideologie und letztere damit für immer?