Gemeint ist damit das erweiterte Umfeld des “Unsichtbaren Komitees”, aus dessen Humus offenbar auch das anonyme Konspirationistische Manifest, das ich letzte Woche besprochen habe. erwachsen ist.
Der Autor Laurent Vergniaud faßt diese linksradikale Geschmacksrichtung, deren “verlorene Illusionen” er analysiert, unter dem Schlagwort “Appellismus” zusammen, nach dem Text “Appel” (Aufruf) aus dem Jahr 2003, der als Vorläufer des Kommenden Aufstands gilt. Die Kernaussagen des Schriftguts dieses Umfelds – hauptsächlich die Texte des Autorenkollektivs Tiqqun und des Unsichtbaren Komitees – beschreibt er folgendermaßen:
Angesichts der Globalisierung des Kapitalismus und der Errichtung einer Universalregierung der ständigen Kontrolle, während Organisationen und Parteien zu bloßen Fassaden verkommen sind, die den Zirkus des politischen Spektakels fortsetzen, können nur noch Kampf und totale Zerstörung des Systems die Massen retten. Der Kapitalismus ist nicht nur eine soziale und wirtschaftliche Bedrohung, sondern auch eine metaphysische, die zu einer sinnentleerten Existenz führt. Die Flamme, die die Menschen vor der allgemeinen Apathie retten wird, liegt im revolutionären Elan.
Die orthodoxe marxistische Dialektik des Klassenkampfes weicht einer Spaltung der Menschheit in diejenigen, die sich für den Kampf entschieden haben, und diejenigen, die es vorziehen, sich einer Welt der Unterdrückung zu unterwerfen. Die Aufrufe zu einer rettenden Gewaltanwendung und zur Zerstörung jeglicher Ordnung sind systematisch. Tatsächlich könne die Gesellschaft des Spektakels nur besiegt werden, indem man sie dazu zwingt, ihre Maske fallen zu lassen, indem man die rohe und grausame Gewalt enthüllt, die sich hinter ihren Kunststücken verbirgt.
Nur unter diesen Bedingungen wird die apokalyptische Konfrontation möglich sein, die dem Kapitalismus ein Ende setzen wird. Schließlich wird die grundlegende Kritik an der Technik durch den Aufruf zur direkten Aktion konkretisiert. Der überaus lyrische Stil dieser Texte ist sehr zugänglich, im Gegensatz zu den langweiligen Beweisführungen des akademischen Marxismus, was zu ihrem Erfolg bei einem breiten Publikum beigetragen hat.
Auch Vergniaud macht einen gewissen rechten Einfluß geltend, der vor allem über den Tiqqun-Mentor Giorgio Agamben vermittelt zu sein scheint:
Die nebulöse Präsenz von Carl Schmitt und die viel deutlichere Präsenz von Heidegger sowie ein alter sorelianischer Hintergrund – der die Gewalt als aus sich selbst heraus gerechtfertigtes Werkzeug betrachtet, mit dem sich eine revolutionäre Avantgarde konstituieren kann – erklären zum Teil die Faszination, die viele rechte Kommentatoren für den “Appellismus” empfanden.
Vergniaud bezeichnet den “Appellismus” als “einzigartigen Trend, der vom Situationismus abstammt” und der etlichen revolutionär-technokritischen, “anarcho-kommunistischen” Rand- und Splittergruppen der Ultralinken (auch “Totos” genannt) seinen Stempel aufgedrückt hat, allerdings als Fraktionsprogramm, das weit entfernt davon sei, innerhalb der radikalen Linken allgemeine Zustimmung zu finden.
Wir reden hier konkret von französischen Varianten des “Schwarzen Blocks”, von Linksautonomen, Antifas und Hausbesetzern, insgesamt also eine Ecke, die hierzulande eher für ziellosen und infantilen Radau bekannt ist, wenn nicht gar als Schlägertrupp des herrschenden politischen Systems. Mit welchen “Aufständen” sich das Unsichtbare Komitee identifizierte, kann man in dem Nachfolgetext An unsere Freunde (2015) nachlesen. Das Neue Deutschland faßte es in einer Rezension so zusammen:
2007 hatten sie mit ihrer ersten Schrift die weltweiten Krisenproteste quasi vorhergesagt, nun geben sie einen Überblick über die sozialen Unruhen der folgenden Jahre – von den Athener Riots im Dezember 2008 über die Occupy-Aktionen im kalifornischen Oakland 2011, die Straßenkämpfe in Istanbul und die schwarzen Blöcke in São Paulo bis zu den militanten Auseinandersetzungen im italienischen Susatal gegen den Bau der TAV-Hochgeschwindigkeitsstrecke.
Der Text selbst beginnt mit folgenden Beispielen:
Wer vor zehn Jahren einen Aufstand vorhersagte, setzte sich dem Hohngelächter der Runde aus; heute machen sich die lächerlich, die die Rückkehr zur Ordnung verkünden. Nichts sei unerschütterlicher, gesicherter, hieß es, als Ben Alis Tunesien, die geschäftige Türkei Erdoğans, das sozialdemokratische Schweden, das Syrien der Baath-Partei, das ruhiggestellte Quebec und das Brasilien der Strände, der bolsa família und der friedensstiftenden Polizeitruppen. Was dann folgte, haben wir gesehen. Die Stabilität ist dahin.
Das ist ein merkwürdiger “catch-all”-Ansatz, der eine Vielfalt von heterogenen Phänomenen unter einen gemeinsamem revolutionsromantischen Schirm packt, begleitet von der “eigenartigen Internationale” des Slogans “All Cops are Bastards (ACAB)”, egal ob in den “bröckelnden Mauern” von “Kairo oder Istanbul, Rom, Paris oder Rio”.
Hauptsache, es kracht, scheint die Devise, egal wo und warum. Auf den aktionistischen Krawall pflegt aber meistens der Katzenjammer und nicht die Morgenröte welcher “befreiten” Kommune auch immer zu folgen. Die immer wieder beschworene “Revolution” gleicht einem messianischen Parusieversprechen, dessen Erfüllung ständig in die Ferne rückt wie die Linie des Horizonts. Die Autoren waren 2015 zwar der Ansicht, daß “die Stabilität” der Weltordnung nachhaltig erschüttert sei, zeigen sich aber dennoch enttäuscht:
Die Aufstände sind gekommen, nicht die Revolution. (…) Wie groß auch immer die Unruhen unter dem Himmel sind, die Revolution scheint überall im Stadium des Aufruhrs zu ersticken. Im besten Fall besänftigt ein Regimewechsel einen Moment lang das Bedürfnis, die Welt zu verändern, bevor er sofort wieder in dieselbe Unzufriedenheit mündet. Im schlimmsten Fall dient die Revolution nur jenen als Trittbrett, die sie zwar im Mund führen, aber eigentlich nur abwürgen wollen. (…) Die Ohnmacht verbittert. An diesem Punkt müssen wir Revolutionäre unsere Niederlage eingestehen.
Das größte Problem bleibt die Organisationsfrage, die für überzeugte Anarchisten so etwas wie die Quadratur des Kreises bedeutet. Denn sobald der Versuch einer ernsthaften, effektiven Organisation unternommen wird, werden sich unweigerlich Hierarchien, Macht- und Verteilungskämpfe, Führungsstreitigkeiten, Interessenskonflikte, Kompromisse usw. herausbilden. Beschwörungen von “imaginären Parteien”, die sich “unsichtbar” verschwören und vernetzen, um den Kapitalismus zu stürzen, kommen über den literarischen Appeal nicht hinaus, solange nicht konkrete Schritte unternommen werden.
Diese Abneigung, sich jenseits von Krawallen konkret zu organisieren, mißfiel auch Florian Schmid, dem Rezensenten des Neuen Deutschland. Beliebige “Aufstände” aus einem “Bauchgefühl” heraus zu kooptieren, sei eine Sache, eine andere, daraus eine “herrschaftskritische Praxis für den Alltag jenseits der Riots abzuleiten, sich global zu vernetzen oder gar den Kapitalismus ernsthaft herauszufordern”.
Und er empfand Unbehagen, daß das Unsichtbare Komitee “ausgerechnet” den Euromaidan und “die Kunst” seiner Demonstranten abfeierte, “Barrikaden zu halten und in industriellem Maßstab Molotow-Cocktails herzustellen”:
Nun sollte man den französischen Linksradikalen nicht gleich Sympathie für jene neofaschistischen Gruppierungen aus Kiew unterstellen, die es vor allem waren, die auf dem Maidan in besagtem »industriellem Maßstab Molotow-Cocktails« herstellten. Aber hier wird deutlich, wie das Unsichtbare Komitee jede militante Regung der letzten Jahre ihrem Diskurs unterordnet. »Man muss es sich anschauen gehen. Man muss die Begegnung suchen. Und in der Komplexität der Bewegungen die gemeinsamen Freunde, die möglichen Bündnisse, die nötigen Konflikte erkennen.« Ob man das als Kokettieren mit einer Querfront-Idee verstehen soll, bleibt dahingestellt.
(Das Neue Deutschland ist übrigens seiner ukraine-kritischen Haltung treu geblieben und unterstützt etwa den Wagenknecht-Schwarzer-Aufruf, trotz der Querfront-Gefahr durch “gruselige Trittbrettfahrer”.)
Mir scheint diese Option des Komitees eher seine politische Naivität zu bezeugen, sowie seinen zumindest damaligen Mangel an “Verschwörungstheorie”. Die Geschichte der “Farbenrevolutionen” sollte eine Lehre sein, wie “Aufstände” von allen möglichen politischen Akteuren angeheizt, provoziert, gelenkt, unterwandert oder gar inszeniert werden können, um eigene blutige Süppchen zu kochen, meistens geopolitischer Natur.
Laurent Vergniaud nennt einige Beispiele von Bewegungen und Agenden, an denen sich “Appellisten” beteiligt haben, geleitet von der Idee einer “Konvergenz der Kämpfe” (convergences des luttes). Sie gehen kaum über das übliche linke Programm hinaus: Demonstrationen für migrantische Opfer von Abschiebung und Polizeigewalt (Leonarda Dibrani 2013, “Wahrheit und Gerechtigkeit für Adama Traoré”, 2016) oder gegen Bodenversiegelung durch Flughafenbau in einem kleinen Ort names Notre-Dames-des-Landes in der Nähe von Nantes (seit 2007).
Letztere Proteste sind mit der Besetzung der Hainburger Au (1984) oder des Hambacher Forstes vergleichbar, und gelten unter französischen Linken als Paradigma der Errichtung einer “zone à défendre” (ZAD), einer “zu verteidigenden Zone”, die von militanten Kommunen dauerhaft okkupiert wird. Vergniaud kommentiert:
Als Prototyp der neuen Gesellschaft, in der der Kampf das tägliche Leben strukturiert, wurde die ZAD in den Schriften des Komitees, insbesondere in An unsere Freunde, ausdrücklich als Modell der zukünftigen “unregierbaren” Gemeinschaft bezeichnet. Die ZAD ist der Ort, an dem das “Empire” nicht herrscht, an dem die Maske des Kapitalismus gefallen ist und der Staat keine andere Möglichkeit mehr hat, als eine militärische Belagerung mittels roher Gewalt durchzuführen. Die ZAD ist das Versprechen, daß sich die neue Gesellschaft auf die ganze Welt ausdehnen wird. Sie ist ebenso eine permanent zu konstruierende Utopie, wie der eiserne Arm, der sich der Repression widersetzt.
Appellisten unterstützten 2016 auch die Demonstrationen von “Nuit debout” (etwa: “Nachtwache”), einer Bewegung, die gegen von der Regierung Hollande beschlossene Arbeitsrechtsreformen zum Nachteil von Arbeitnehmern (Loi El Khomri) mobil machte, mit Paris als Zentrum der Proteste, die – wie so oft in Frankreich – zu Ausschreitungen und gewaltsamen Zusammenstößen mit der Polizei führten.
Als militanten Arm des Appellismus nennt Vergniaud die Gruppe Mouvement interlycées indépendants (MILI), die Schüler von links dominierten Lycées (Lycée autogéré de Paris, Bergson, Montaigne, Voltaire), Autonome und Antifanten vereinte, um Studenten- und Schülerdemonstrationen zu organisieren. Kurzfristig gelang es MILI, sich an die Spitze der Proteste gegen die Arbeitsrechtreform zu stellen, die Teilnehmer unterschiedlicher ideologischer und sozialer Herkunft vereinten (Vergniaud nennt “die Arbeiter-Linke und die Banlieue-Linke”), mit der Polizei als gemeinsamem Feindbild.
Es waren sowohl junge Aktivisten aus der traditionellen Toto-Antifa-Szene als auch Erstaktivisten, die aus den Schülermobilisierungen hervorgegangen waren, junge Pariser, die in den Innenstädten Partys feierten, als auch Vorstädter mit Migrationshintergrund, Diplomstudenten und prekarisierte Fahrradlieferanten.
Die MILI, schreibt Vergniaud, “stand an der Spitze aller Blockaden und kämpfte bei Demonstrationen an vorderster Front gegen die Polizei. Sie hatte den Ruf, die gewalttätigste Gruppe zu sein, die den sensationshungrigen Jugendlichen der Community ein Ventil bieten konnte.” Der Presse und dem Staat galt sie bald als extremistischer Feind Nummer eins.
Sie wurde zum Motor einer vitalen aktionistischen Szene (mit der Facebook-Gruppe Blocus Paris-Banlieue als digitalem Zentrum), der allerdings rasch die Luft ausging, und die zunehmend dem unvermeidlichen Spaltungssyndrom verfiel:
Als politische Wundertüte verpuffte die MILI ebenso schnell, wie sie ins Rampenlicht getreten war: Ihre Hauptströmung, die sich zur “Unregierbaren Generation” erklärte, versuchte 2017, die Massen mit dem Thema der “revolutionären Wahlenthaltung” zu mobilisieren. Die Anti-LePen-Agenda, die sich bereits weit weniger gut verkaufte als im letzten Jahrhundert, ließ sich allerdings nur schlecht mit einer radikalen und vollständigen Infragestellung des kapitalistischen Systems und der repräsentativen Demokratie verbinden. (…) Dieses letzte Abenteuer hatte vor allem den Effekt, daß es die Aktivisten des MILI endgültig in die Arme der Antifa trieb, die besser organisiert war als die Appellisten, und somit diesem atypischen Unternehmen ein endgültiges Ende zu setzen.
Insgesamt hatte sich der Élan der “ZADisten” 2017 totgelaufen, zu einem großen Teil durch innere Zerrüttung: Es häuften sich Fälle von Drogenhandel, Vandalismus und internen Streitigkeiten. Nach altbekannten revolutionsdynamischen Mustern wurden nun auch die Appellisten links überholt. Sie wurden zunehmend als zwiespältige Mischung aus ineffektiven Ästheten und ultragewalttätigen Jugendlichen mit elitärer Attitüde betrachtet, die sich zunehmend mit den Autoritäten arrangiert hatten:
Schließlich nahm die antiappellistische Rhetorik die vertrauten Farben der Verwünschungen an, die man historisch gegen Sozialdemokraten, Reformisten und andere Menschewiki erhoben hat, die es vorziehen, sich mit der Macht zu arrangieren, um ihre Privilegien zu wahren und den revolutionären Schwung zu ersticken.
Das Ende der ZADisten-Bewegung kam bezeichnenderweise mit der Entscheidung der Macron-Regierung im Jahre 2018, das Flughafenprojekt in Notre-Dame-des-Landes aufzugeben. Damit war der Kampf als konstitutierendes Element sinnlos geworden, und einmal mehr hatte sich Ernst Jüngers Diagnose aus Eumeswil (1977) bestätigt, daß der Anarchist “abhängig” sei – “einmal von seinem unklaren Wollen, zweitens von der Macht”.
Vergniaud kommentiert:
Dieser politische Rückschlag ging mit einer beeindruckenden Räumungsaktion der Polizei einher, die den linken Widerstand problemlos wegfegte, wobei ein Teil der angesiedelten Gruppierungen ihren Verbleib auf dem Gelände durch weitreichende Zugeständnisse an die Macht aushandelte. Die ZAD war aus der politischen Geschichte verschwunden.
Somit ist auch vom Appellisten nicht viel übrig geblieben:
Der Begriff ist mittlerweile zu einer Karikatur, fast schon einer Beleidigung geworden, während die ideologische Hegemonie des Unsichtbaren Komitees dem Spott gewichen ist. Früher machte man sich über den Situationisten und seine lateinischen Graffiti lustig, heute über den Appellisten und seinen Fetisch der Revolte.
Ein letzter Aktivitätsschub kam laut Verginaud Ende 2018 im Fahrwasser der “Gelben Westen”, einer Protestbewegung, deren Bedeutung weit über das Tammtamm um französische George Floyds hinausgeht. Das Besondere der Gelbwesten war, daß sie ihren Ursprung in völlig anderen Milieus hatten, als in jenen, mit denen die Appellisten traditionell verbunden waren.
Dasselbe gilt für die massiven Proteste, die es auch in Frankreich gegen die Coronamaßnahmen gab, auch diese zum Teil gekennzeichnet von massiver Polizeigewalt (etwa im Juli und August 2021 und im Januar und Februar 2022). Hier ist in der Zwischenzeit offenbar einiges passiert, was zur “konspirationistischen” Abspaltung innerhalb der appellistischen Kreise geführt hat.
Schließlich wertet Vergniaud (boshaft?) das ebenso schick inszenierte wie inhaltlich zahnlose Polittheater “Akira 2022” (September 2021), in dem die Aktivisten mit Coronamasken auftraten (mitsamt optischen Anklängen an die rechte Kapelle Les Brigandes?), als bislang letzte Manifestation des “Appellismus”. Daraus folgt das vernichtende Urteil:
Verlassen von denjenigen, die ihre fanatischen jungen Soldaten waren, abgelehnt von einem Proletariat mit geringer Bildung, konfrontiert mit der Realität eines Zermürbungskrieges gegen die staatliche Repression, fällt der Post-Situationismus auf seine ursprüngliche Form zurück: eine ausgeklügelte Posse für gelangweilte Normalos.
Wie ist nun in diesem Zusammenhang das Konspirationistische Manifest zu werten, das der Grund ist, warum ich mich hier überhaupt mit diesem Milieu beschäftige? Auch Vergniaud geht davon aus, daß es einen “appellistischen” Hintergrund hat, erwähnt es aber nur beiläufig: Diese Schrift, die angeblich vom zentralen appellistischen Netzorgan lundimatin (“Montagmorgen”) desavouiert wurde (dafür konnte ich keinen Beleg finden), rufe “zu einer nebulösen Konvergenz der Anti-Impfpass-Kämpfe” auf (also zu einer Art Querdenker-Querfront), und bestätige vollends, “daß dieser Mikrokosmos die militante Arena zumindest vorerst verlassen hat.”
Ähnlich bewertet er ein von lundimatin im Oktober 2022 herausgegebenes Buch von Olivier Cheval mit dem Titel Lettres sur la peste (“Briefe über die Pest”) als “in einem sehr förmlichen Stil verfaßtes Pamphlet”, das Marx und Heidegger in einem Versuch vermengt, “die Ontologie zu entschlüsseln, die sich hinter der Krise des Gesundheitswesens verbirgt.”
Damit ist natürlich der ganze Komplex des Coronamaßnahmenregimes gemeint, das Cheval bereits ab September 2020 in der vierteiligen Artikelserie “Die Immunität, der Ausnahmezustand, der Tod.” (Untertitel: “Nachdenken über das, was uns passiert, mit Roberto Esposito, Giorgio Agamben, Michel Foucault und Vilém Flusser”) analysiert hatte.
Vergniaud betrachtet die Publikation von Chevals Text, diesen “Einstieg einer emblematischen Plattform des modernen Linksradikalismus in das Verlagswesen” als Rückzug der Appellisten ins Literarische und Essayistische. Man kratzt sich am Kopf und fragt sich, ob er das thematisch eng verwandte Konspirationistische Manifest, dessen Tonfall ungebrochen militant und aggressiv ist, überhaupt gelesen hat, oder ob ihm bewußt ist, welcher politische Sprengstoff in der Wendung gegen den Corona-Komplex steckt.
Ich denke, daß hier eine größere ideologische Hemmung vorliegt, die Bedeutung des Manifests innerhalb und außerhalb der linken Szene Frankreichs zu verstehen: Denn aus irgendeinem Grund hat éléments das Pandemie-Regime und seine weltpolitischen Folgen in den letzten drei Jahren fast vollständig ignoriert. Bis zum heutigen Tag operiert die Zeitschrift der ehemaligen Nouvelle Droite in einer Welt, die im Jahr 2019 stehengeblieben zu sein scheint. Das mindert natürlich erheblich ihre eigene Relevanz.
Mehr darüber im dritten und letzten Teil meiner Einordnung des Manifests.
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Das Konspirationistische Manifest kann man hier bestellen.
Und hier ist der Mitschnitt der Diskussion, die ich mit Anselm Lenz und Götz Kubitschek über das Manifest führte.
MARCEL
Allenthalben ist die Aporie der Postmoderne mit Händen zu greifen.
Oft stelle ich mir die Frage: Mag das einer der Gründe gewesen sein, weshalb die erste Garde der Neuen Rechten früh den Suizid wählte (Böhm-Ermolli, Leiner, Wilms, Sieferle, aber auch der Situationist Debord)?
Bleibt als wirksames Mittel nurmher sowas wie eine "Masada-Einstellung"?
Keine Ahnung, mit gefällt jedenfalls die Zuschreibung, die der Debord-Biograf Bourseiller seinem Held gibt: Résignation combative