Mit Rechten reden: Mishima und wir (2)

Dies ist der zweite Teil meines Beitrags über eine Debatte, die Yukio Mishima 1969 mit linksradikalen Studenten in Tokyo führte.

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

Eine eng­lisch unter­ti­tel­te Fas­sung kann man gra­tis hier sehen, eine wei­te­re, die den Anspruch hat, eine prä­zi­se­re Über­set­zung zu lie­fern, gegen Bezah­lung auf der Sub­stack-Sei­te von Masa­ki Jinzabu­ro, auf der sich auch etli­che rare Essays von Mishi­ma auf Eng­lisch finden.

Die­se bei­den Unter­ti­tel-Fas­sun­gen wei­chen teil­wei­se stark von­ein­an­der ab. Da mein Japa­nisch ein biß­chen ein­ge­ros­tet ist, und ich Jared Tay­lor nicht behel­li­gen will, kann ich nicht beur­tei­len, wel­che bes­ser ist. Masa­kis Ver­si­on ist detail­ier­ter, aber zuwei­len auch schlicht unver­ständ­lich. Die fol­gen­den Zita­te aus der Dis­kus­si­on habe ich mir aus bei­den Fas­sun­gen zusam­men­ge­bas­telt, mit dem Augen­merk auf größt­mög­li­che Verständlichkeit.

Wir waren ste­hen­ge­blie­ben, als Mishi­ma vor den “Zen­kyo­to” bekräf­tig­te, daß er ille­ga­le Gewalt­an­wen­dung befürworte.

Bereits im Vor­jahr hat­te er im Zuge einer ande­ren Uni­ver­si­täts-Debat­te für Kon­tro­ver­sen gesorgt, als er äußer­te, daß er kein Pro­blem damit hät­te, einen poli­ti­schen Oppo­nen­ten im Rah­men eines Duells Mann gegen Mann zu töten.

Mishi­ma fuhr fort, daß er eben dies mit den Stu­den­ten gemein habe: die Befür­wor­tung von Gewalt, um poli­ti­sche Zie­le zu errei­chen. Hat­ten sie aber auch gemein­sa­me Inter­es­sen? Zumin­dest ansatz­wei­se schien dies der Fall zu sein: So waren auch die (ins­ge­samt frei­lich recht hete­ro­ge­nen) Zen­kyo­to anti­ame­ri­ka­nisch-anti­ka­pi­ta­lis­tisch aus­ge­rich­tet und hat­ten links­na­tio­na­le Ten­den­zen. Mehr noch als vom Mar­xis­mus waren sie vom Exis­ten­zia­lis­mus beeinflußt.

Mishi­ma beton­te sei­ne anti-intel­lek­tua­lis­ti­sche Hal­tung, sei­ne Ver­ach­tung für die­je­ni­gen, die bloß gelehrt und sonst nichts seien:

Ihr und ich, wir sind auf dia­me­tra­len Enden des poli­ti­schen Den­kens gelan­det. Nun ver­hält es sich so, daß die Tat­sa­che, daß die Stär­ken der japa­ni­schen Intel­lek­tu­el­len bis­lang in ihrem Wis­sen und ihren Ideen lagen, und sie allein aus die­sem Grund Macht aus­ge­übt haben, in mir einen unbän­di­gen Haß aus­ge­löst hat. Um ein kon­kre­tes Bei­spiel zu geben: Es gibt vie­le wun­der­ba­re Pro­fes­so­ren, aber ich fand den Anblick der Gesich­ter die­ser Pro­fes­so­ren uner­träg­lich. Viel­leicht, weil ich selbst kein Wis­sen und kei­ne Ideen habe, aber dies war jeden­falls der Geruch, der an der gesam­ten Uni­ver­si­tät Tokyo vorherrschte.

Ich bin nicht mit allem ein­ver­stan­den, was die Zen­kyo­to getan haben, aber ich muß die Leis­tung aner­ken­nen, daß ihr einer bestimm­ten Art der intel­lek­tu­el­len Eitel­keit die Nase gebro­chen habt. [Geläch­ter, Klat­schen] Ist nun die­ser Anti-Intel­lek­tua­lis­mus etwas, das von den Gip­feln oder  den Nie­de­run­gen des Intel­lekts kommt? [Geläch­ter] Ich weiß es immer noch nicht. [Geläch­ter]

Nach die­ser Eröff­nungs­re­de ergrif­fen die Zen­kyo­to das Wort. Der ers­te Red­ner addres­sier­te den Gela­de­nen ver­se­hent­lich als “Mishi­ma-sen­s­ei” (statt “Mishi­ma-san”, “Meis­ter Mishi­ma”, statt nur “Herr Mishi­ma”),  was die Stu­den­ten wie auch ihn selbst laut auf­la­chen ließ. Der Stu­dent beteu­er­te, daß Mishi­ma ange­sichts man­cher Pro­fes­so­ren, die an der Uni her­um­lie­fen, die­se ehren­vol­le Anre­de durch­aus ver­dient hätte.

Eben die­ser Stu­dent taucht nun im Film als 72jähriger Inter­view­part­ner auf:

Ich hat­te unacht­sa­mer­wei­se das Wort “sen­s­ei” benutzt. Sehen Sie, er hat­te auf außer­or­dent­lich höf­li­che Wei­se gespro­chen. Er bedien­te sich kei­ner gro­ben Aus­drucks­wei­se. Und das hat­te mich überrascht.

Mishi­ma hat­te also auf Anhieb geschafft, sich Respekt zu ver­schaf­fen. Sein Charme, sei­ne Elo­quenz, sein Humor und sei­ne Höf­lich­keit hat­ten eine nicht uner­heb­li­che Wir­kung entfaltet.

Die fol­gen­de Dis­kus­si­on beweg­te sich nun auf einem außer­or­dent­lich hohen theo­re­ti­schen und abs­trakt-phi­lo­so­phi­schen Niveau. Die ers­te Fra­ge, ob die Exis­tenz ande­rer Men­schen in sei­nem gewalt­be­für­wor­ten­den Welt­bild über­haupt eine Rol­le spie­le, beant­wor­te­te Mishi­ma unter Beru­fung auf Sart­re (“den ich ver­ab­scheue”) mit einer aus­führ­li­chen Dar­le­gung der Zusam­men­hän­ge zwi­schen Ero­tik und Gewalt, wie er sie sehe.

Ich muß an die­ser Stel­le abkür­zen und zu dem mei­ner Ansicht inter­es­san­tes­ten Schlag­ab­tausch der Debat­te sprin­gen. Ein jun­ger Schau­spie­ler und Avant­gar­de-Thea­ter­re­gis­seur namens Masa­hi­ko Aku­ta, der als gefürch­tets­ter Dis­ku­tant der Zen­kyo­to galt, nahm den Feh­de­hand­schuh auf. Auch er ist noch am Leben und wur­de für den Film interviewt.

Mit sei­ner klei­nen Toch­ter auf den Schul­tern, sei­nem löch­ri­gen, gro­ben Woll­pull­over, sei­ner karier­ten roten Hose und sei­nem kinn­lan­gen, wuchern­den Haar­schopf bil­de­te er habi­tu­ell und optisch einen schar­fen Kon­trast zu sei­nem Oppo­nen­ten. Sein Auf­tre­ten signa­li­sier­te ein Aus­sche­ren aus dem tra­di­tio­nel­len Män­ner­bild, das Mishi­ma so stark betonte.

An Schlag­fer­tig­keit und Selbst­be­wußt­sein war er Mishi­ma eben­bür­tig, und er hat­te mit ihm gemein­sam, daß er sich vor­ran­gig als Künst­ler ver­stand. Ähn­lich wie Mishi­ma strahlt er eine gera­de­zu mili­tan­te Ego­zen­trik aus.

Was nun pas­sier­te, wirkt bei­na­he sur­re­al. So reden also ein links­extre­mer und rechts­extre­mer Künst­ler im Japan des Jah­res 1969 miteinander:

Mishi­ma: Die­ser Tisch zum Bei­spiel ist ein lang­wei­li­ger, schmut­zi­ger, alter Schreib­tisch. Er wur­de an der Uni­ver­si­tät Tokyo von einem bestimm­ten Pro­fes­sor zu einem bestimm­ten Zweck auf­ge­stellt. Ihr alle seid imstan­de, sei­ne Funk­ti­on zu ver­än­dern. Ihr könnt eine Bar­ri­ka­de dar­aus machen. Das hät­te sich der Tisch nie­mals träu­men las­sen, aber plötz­lich ist er eine Bar­ri­ka­de. Damit wird die Funk­ti­on des Tisches ver­än­dert, aber sie hat kei­ner­lei Bezie­hung zu der ursprüng­lich in der Pro­duk­ti­on des Tisches beab­sich­tig­ten Funk­ti­on. Er wird nun zum Kampf benutzt. Das Objekt wird von sei­nen Pro­duk­ti­ons­ver­hält­nis­sen los­ge­löst, und ihr lebt nun alle in einer Ära, in der ihr euch der Objek­te zuerst durch sol­che Objek­te bewußt wer­det. War­um ist das so? Ist nicht auch eure eige­ne Exis­tenz los­ge­löst von den Pro­duk­ti­ons­ver­hält­nis­sen? Und ver­sucht ihr nicht alle, zur Natur als Arbeits­ge­gen­stand an der Basis der Pro­duk­ti­ons­ver­hält­nis­se zu gelan­gen? Ist die­se Bewe­gung nicht der kau­sa­le Impe­tus eurer Gewalt? (…)

Aku­ta: In der sin­gu­lä­ren Lebens­form namens Uni­ver­si­tät ist ein Tisch ein Tisch. Aber wenn die Uni­ver­si­tät zer­fällt, ist er kein Tisch mehr oder sonst­was ande­res. (…) Die Revo­lu­ti­on besteht wahr­schein­lich in der Umkehr von Bezie­hun­gen. Das bedeu­tet, daß auf die­se Wei­se zum ers­ten Mal ein Raum ent­ste­hen kann. Im Fal­le eines Schrift­stel­lers müs­sen sei­ne Wör­ter und der Tisch das­sel­be Gewicht haben, ansons­ten sind sie bloß eine Erzäh­lung oder ein Roman.

Mishi­ma: Exakt, exakt.

Aku­ta: Was bedeu­ten wür­de, daß Sie ver­lo­ren haben.

Mishi­ma: Aber ich habe noch nicht verloren!

Aku­ta: Mir erscheint es so.

Das war eine ziel­ge­naue Pro­vo­ka­ti­on Masa­hi­kos: Er nahm Mishi­mas wun­des­ten Punkt ins Visier und teil­te ihm mit, daß sei­ne Wor­te nur Wor­te sei­en und kei­ne Aus­wir­kung auf die Rea­li­tät haben würden.

Aku­ta: Als ich sag­te, Sie hät­ten ver­lo­ren, mein­te ich, daß wir die Form, die Sie gewählt haben, nicht als gewalt­sa­men Druck erle­ben. Wir betrach­ten die Form unse­rer Aktio­nen als Inhalt und ihren Inhalt als Form. Das ist zwar kei­ne Revo­lu­ti­on, aber es ist eine Expres­si­on. Der Raum selbst, der Raum, der das Poten­ti­al der Geschich­te selbst ist, kann mög­li­cher­wei­se dort erschei­nen. Dar­um scheint es mir für einen Schrift­stel­ler etwas pein­lich zu sein, an einen Ort wie die­sen zu kom­men und so zu reden. Sie wol­len ein Spiel in Dem­ago­gie ver­wan­deln. Aber ein Mensch, der nicht exis­tie­ren wür­de, wenn es Japan nicht gäbe…

Mishi­ma: Das bin ich! [Geläch­ter]

Aku­ta: In der Tat. Aber mei­ne Vor­fah­ren fin­den sich kei­nes­falls in Japan. Sie fin­den sich auch nicht irgend­wo anders.

Mishi­ma: Aha, soso.

Aku­ta: Nicht weil ich zufäl­lig ein Frem­der gewor­den wäre, aber weil mei­ne Umge­bung ein frem­des Land war. Was bedeu­tet, daß wir rei­bungs­los in das 21. Jahr­hun­dert fort­schrei­ten werden.

An die­ser Stel­le läßt der Film den heu­ti­gen, grei­sen Aku­ta zu Wort kom­men, der immer noch eine neu­ro­ti­sche, ner­vö­se Inten­si­tät ausstrahlt:

War­um soll man töten, um die Kul­tur zu ver­tei­di­gen? Inwie­fern sym­bo­li­siert der Kai­ser die Kul­tur? Wenn man die­se bei­den Fra­gen nicht beant­wor­ten kann, bleibt man ein Demagoge. (…)

Gedan­ken sind eine befrei­te Zone. Intel­lek­tu­el­le kul­ti­vie­ren schö­ne befrei­te Zonen. Und dar­um fühl­ten wir die Ver­ant­wor­tung, eine sol­che zu kul­ti­vie­ren, und dar­um luden wir Mishi­ma ein. Um eine befrei­te Zone zu schaf­fen, braucht man sowohl alte als auch neue Ideen.

Unter “befrei­ten Zonen” wur­den damals Zonen ver­stan­den, in denen die “revo­lu­tio­nä­ren Kräf­te die Kon­trol­le der Staats­ge­walt auf­ge­ho­ben haben und selbst herr­schen” (Kom­men­tar­text), wie etwa der besetz­te Yasu­da-Hör­saal an der Uni­ver­si­tät Tokyo.

Mishi­ma bohr­te nun nach: Was bleibt von die­sen “Räu­men”, die­sen “befrei­ten Zonen” in der Zeit übrig? Oder spie­le die­se kei­ne Rol­le, auch nicht in dem Sin­ne, daß eine befrei­te Zone der Tak­tik der Revo­lu­ti­on umso bes­ser dient, je län­ger sie andau­ert? Aku­ta ließ sich auf nichts Kon­kre­tes fest­na­geln, und ging zur Sophis­te­rei über:

Mishi­ma: Wol­len Sie sagen, daß es nicht so wich­tig sei, ob der Raum dau­er­haft ist oder nicht?

Aku­ta: Es gibt kei­ne Zeit, ist des­halb nicht schon das Kon­zept der Dau­er absurd?

Mishi­ma: Es macht also kei­nen essen­ti­el­len, dimen­sio­na­len Unter­schied, ob der Raum drei Minu­ten oder eine Woche oder zehn Tage Bestand hat?

Aku­ta: Der Ver­gleich an sich ist absurd. Wenn Sie mich auf­for­dern wür­den, ihre Wer­ke mit zehn­tau­send Jah­ren Zeit zu ver­glei­chen, wäre das nicht Unfug?

Mishi­ma: Aber mei­ne Wer­ke sind ein Abschnitt inner­halb einer Zeit­span­ne von zehn­tau­send Jah­ren. Ich zie­le nicht auf den Raum, son­dern auf die Zeit.

Das erin­nert an einen Spruch d’An­nun­zi­os, eines Autors, den Mishi­ma sehr schätz­te und als Vor­bild betrach­te­te: ” E che m’im­por­ta d’es­se­re vin­to nel­lo spa­zio se sono desti­na­to a vin­ce­re nel tem­po?”, “Was macht es schon aus, wenn ich im Raum besiegt wur­de, da ich doch dazu bestimmt bin, in der Zeit zu siegen?”

D’An­nun­zio äußer­te dies nach dem Schei­tern sei­ner Beset­zung von Fiume, wo er eine “befrei­te Zone” nach sei­nen eige­nen poli­ti­schen und ästhe­ti­schen Vor­stel­lun­gen erschaf­fen hat­te. Die ita­lie­ni­sche Mari­ne berei­te­te dem Aben­teu­er, das immer­hin fünf­zehn Mona­te lang ange­dau­ert hat­te, ein Ende  – nicht anders als spä­ter die japa­ni­sche Poli­zei der “befrei­ten Zone” der Zen­kyo­to im Yasu­da-Hör­saal. D’An­nun­zio mein­te, daß die “Legen­de”, der “Mythos” sei­nes Frei­staa­tes in der Zeit fort­le­ben wer­de, lan­ge, nach­dem die­ser selbst aus dem Raum der Adria­küs­te ver­schwun­den sei.

Am 25. Novem­ber 1970 soll­te Mishi­ma im Büro des Gene­rals Mas­hi­ta eine tem­po­rä­re “befrei­te Zone” erschaf­fen, die ihm als Büh­ne für ein Hap­pe­ning oder eine Per­for­mance dien­te, die ihn “unsterb­lich” machen soll­te. Der Raum des Büros wur­de gewalt­sam okku­piert und eini­ge sei­ner Gegen­stän­de zweck­ent­frem­det: Tische, Stüh­le und eine Topf­pal­me wur­den benutzt, um die Türen zu blockieren.

Um elf Uhr betra­ten Mishi­ma und vier sei­ner Schild­wäch­ter das Büro Mas­hi­tas; um 12:23 bestä­tig­ten Poli­zei­ärz­te sei­nen Tod durch Hara­ki­ri und Ent­haup­tung. Sei­ne “befrei­te Zone” hat­te nicht ein­mal ein­ein­halb Stun­den ange­dau­ert, aber lan­ge genug, um ihren von Mishi­ma vor­ge­se­he­nen his­to­ri­schen Sinn zu erfüllen.

All dies steckt schon in die­sem schein­bar rein theo­re­ti­schen Wort­wech­sel mit Masa­hi­ko Aku­ta drin­nen. Mishi­ma, der das Thea­ter lieb­te und erheb­li­che pro­fes­sio­nel­le Erfah­rung damit hat­te, begriff das Kon­zept der “befrei­ten Zone” und des ver­frem­de­ten Rau­mes, in dem sich eine unge­ahn­te “Frei­heit” offen­ba­ren kann, sehr gut. Aber im Gegen­satz zu dem Avant­gar­de-Schau­spie­ler Aku­ta, der bei vagen und absicht­lich ungreif­ba­ren Beschwö­run­gen von “Frei­heit” und “Poten­zi­al” blieb, hat­te er eine sehr kla­re Vor­stel­lung davon, wozu er sei­ne Frei­heit, das Objekt sei­nes Kör­pers und den besetz­ten Raum in der Ichi­ga­ya-Kaser­ne ver­wen­den wollte.

Das läßt sei­ne boh­ren­den Fra­gen an Aku­ta in einem ande­ren Licht erschei­nen: Es han­del­te sich nicht um ein bloß sport­li­ches intel­lek­tu­el­les Gefecht, son­dern man kann ver­mu­ten, daß es Mishi­ma dar­in wirk­lich “um etwas ging”, daß er in der Kon­fron­ta­ti­on ernst­haft etwas in Erfah­rung brin­gen woll­te, das auch ihn im Inners­ten beschäftigte.

Ich bin erst bei Minu­te 52 eines dop­pelt so lan­gen Films ange­langt, und muß nun abkür­zen. Dar­um sei noch ein Wort­wech­sel zwi­schen Aku­ta und Mishi­ma zitiert, der sich um die Fra­ge nach der natio­na­len, wir wür­den sagen: “eth­no­kul­tu­rel­len” Iden­ti­tät dreht.

Die­se sah Mishi­ma für Japan im wesent­li­chen im Kai­ser ( Ten­nō) sym­bo­li­siert, weni­ger im Men­schen Hiro­hi­to, der damals aktu­ell die­sen Titel trug, als in der tran­szen­den­ta­len Idee selbst, die er seit Beginn der sech­zi­ger Jah­re zuneh­mend als abso­lu­ten Maß­stab und kri­ti­sches Werk­zeug benutz­te, um die Rea­li­tät des sei­ner Ansicht nach mate­ria­lis­tisch dege­ne­rier­ten Nach­kriegs-Japans zu sezieren.

Ange­spro­chen auf den Kai­ser, ver­blüff­te er die Stu­den­ten mit einer uner­war­te­ten Ant­wort (Zeit­stem­pel im Film 1:10:28):

Ich sage das in vol­lem Ernst: Wenn die Män­ner der Ver­ein­ten Cam­pus-Komi­tees des gemein­sa­mem Kamp­fes die­ses eine Wort “Kai­ser” gesagt hät­ten, als sie sich im Yasu­da-Hör­saal ver­schanz­ten, hät­te ich mich ihnen freu­dig angeschlossen.

Hier­auf brach schal­len­des Geläch­ter aus.

Damit stan­den das Wort Ten­nō  und sei­ne Bedeu­tung (oder genau­er gesagt sei­ne Bedeu­tungs­aura) im Raum, und die Dis­ku­tan­ten muß­ten sich mit ihm aus­ein­an­der­set­zen, egal, wie sie nun zu die­ser Pro­vo­ka­ti­on stan­den. Mishi­mas Bot­schaft an die Stu­den­ten war, daß sie alles Recht hät­ten, die der­zei­ti­ge japa­ni­sche Gesell­schaft zu kri­ti­sie­ren – es müs­se aller­dings im Namen des Kai­sers geschehen.

Mishi­ma fuhr fort:

Ich mache kei­ne Scher­ze. Ich habe das immer schon gesagt: Die Prin­zi­pi­en der kai­ser­li­chen Sou­ve­rä­ni­tät und der direk­ten Demo­kra­tie sind prak­tisch iden­tisch. Es han­delt sich gewiß um ziem­lich vage poli­ti­sche Kon­zep­te, aber es gibt eine Sache, die sie mit­ein­an­der gemein haben. Ich wer­de euch sagen, was das ist: Der Traum, daß sich der Wil­le des Vol­kes direkt mit dem Wil­len des Staa­tes ver­bin­det, ohne Ver­mitt­lung durch eine zwi­schen ihnen ste­hen­de Macht­struk­tur. Und weil die­ser Traum nie­mals Rea­li­tät wur­de, sind alle Staats­strei­che vor dem Krieg gescheitert.

Der im Film zu Wort kom­men­de Sozio­lo­ge Eiji Ogu­ma ist der Ansicht, daß das ein­set­zen­de Geläch­ter nicht nur Hohn, son­dern auch Ver­blüf­fung und Irri­ta­ti­on  ausdrückte:

Die Stu­den­ten konn­ten dar­über nur lachen. War­um? Ich glau­be, sie waren über­rascht, daß es nicht wirk­lich ärger­lich war, und sie waren froh, daß die Span­nung einen Moment lang nach­ließ und sie etwas zu lachen hat­ten. Es kam so unver­mu­tet, daß sie nicht wuß­ten, wie sie dar­auf reagie­ren sollten.

Aku­ta hat­te bereits signa­li­siert, daß er sich inner­lich von Japan gelöst habe: “Mei­ne Vor­fah­ren fin­den sich kei­nes­falls in Japan.” Er sah natio­na­le Her­kunft, Geschich­te und Tra­di­ti­on als Beschrän­kun­gen, die es zu über­win­den galt, um das eige­ne Selbst zur Ent­fal­tung zu brin­gen. Mishi­ma hin­ge­gen sah dar­in den Rah­men, in dem er sein Schick­sal voll­enden wollte.

Als nun die Fra­ge nach dem Kai­ser auf­ge­wor­fen wur­de, reagier­te Aku­ta gereizt und über­grif­fig. Mishi­mas Reak­ti­on ist bemerkenswert:

Mishi­ma: Wenn ich vom “mensch­li­chen” Kai­ser spre­che, mei­ne ich den Kai­ser als Regen­ten, den Kai­ser als eine Form der Macht.

Aku­ta: Ok, ok, aber wor­auf wol­len Sie hinaus?

Mishi­ma: Ich möch­te die alte Idee wie­der­be­lebt sehen, daß der Kai­ser ein “leben­di­ger Gott” ist.

Aku­ta: Und weil Sie in die­ser Idee Schön­heit erbli­cken, wol­len Sie sich mit ihr vereinigen?

Mishi­ma: Ja, ja.

Aku­ta: Das ist doch nur eine Art Ona­nis­mus, mit dem Bild und mit sich sel­ber. Das bedeu­tet, daß Sie unfä­hig sind, auf Objek­te zu reagieren.

Mishi­ma: Nein, aber wis­sen Sie, die japa­ni­sche Kultur…

Aku­ta: Habe ich nicht recht? Heißt das nicht, daß Sie am Ende unfä­hig sein wer­den, über die Beschrän­kun­gen des Japa­nisch­seins hinauszugehen?

Mishi­ma: Klar. Aber das muß ich ja gar nicht. Ich bin Japa­ner, ich bin als Japa­ner gebo­ren, ich wer­de als Japa­ner ster­ben, und damit habe ich habe kein Pro­blem. Ich per­sön­lich habe nicht den Wunsch, die­sen Beschrän­kun­gen zu ent­kom­men. Dar­um mag ich aus Ihrer Per­spek­ti­ve bemit­lei­dens­wert erscheinen.

Aku­ta: In der Tat!

Mishi­ma: Jedoch, inso­fern ich Japa­ner bin…

Zwi­schen­ruf: Das ist eine Fantasie!

Mishi­ma: … ver­spü­re ich kei­ner­lei Bedürf­nis, irgend­et­was ande­res als ein Japa­ner zu sein.

Aku­ta: Japan, hm… wo exis­tie­ren denn Japa­ner als Dinge?

Mishi­ma: Gehen Sie doch mal ins Aus­land, und prü­fen Sie, ob Sie sich wirk­lich nicht als Japa­ner füh­len, wenn Sie Eng­lisch spre­chen und die Spra­che mehr oder weni­ger gut beherr­schen ler­nen. Und wenn Sie dann eine Stra­ße ent­lang­ge­hen und ihr Spie­gel­bild in einem Schau­fens­ter sehen, und jeman­den erbli­cken, der einen lan­gen Ober­kör­per [impli­zit wohl: kur­ze Bei­ne] und einen nicht all­zu hohen Nasen­kamm hat, dann wer­den Sie sich fra­gen: “Da läuft ein Japa­ner her­um. Wer ist das?” Na, ver­dammt noch­mal Sie sel­ber natür­lich. Egal, was Sie den­ken, genau das wer­den Sie im Aus­land erleben.

Aku­ta: Das ist unmög­lich, es sei denn, man ist ein Ding und kein Mensch.

Mishi­ma: Und wie sieht es aus mit der Flucht vor der Nationalität?

Aku­ta: Kei­ne Flucht, es gibt gar kei­ne Nationalität.

Mishi­ma: Sie haben also kei­ne Natio­na­li­tät. Das ist in Ord­nung. Ich respek­tie­re Sie als frei­en Men­schen. Aber ich habe nun mal eine Natio­na­li­tät und ich bin Japa­ner. Ich glau­be, daß das mein Schick­sal ist.

Aku­ta: Das heißt, Sie kapi­tu­lie­ren vor etwas, das eine Art Rela­ti­on ist.

Mishi­ma: Ja, ja, ja.

Aku­ta: Fol­ge­rich­tig kapi­tu­lie­ren Sie vor der Geschichte?

Mishi­ma: Kapi­tu­lie­ren… ich möch­te vor der Geschich­te kapitulieren!

Aku­ta: Viel­mehr vor der Tat­sa­che, daß Sie existieren!

Mishi­ma: Das macht mir Freu­de! [Geläch­ter]

Schon damals, im Japan des Jah­res 1969, der Gegensatz-“Klassiker”: Für den Lin­ken ist Natio­na­li­tät ein “Kon­strukt”, von dem er sich zu eman­zi­pie­ren trach­tet, für den Rech­ten ist es der schick­sals­haft gege­be­ne Rah­men sei­ner Selbst­ver­wirk­li­chung (ein abge­dro­sche­nes Wort, das aber hier ganz gut paßt.)

Im Rück­blick auf die Debat­te äußert der 73jährige Aku­ta, sein und Mishi­mas Feind sei das “zwei­deu­ti­ge und obs­zö­ne” Japan gewe­sen. Mei­ne bei­den Unter­ti­tel­va­ri­an­ten sagen: “the ambi­guous and obs­ce­ne Japan” bzw. “the inde­fi­ni­te obs­ce­ne Japan”. Wie könn­te man das über­set­zen? Ein bour­geoi­ses Wischi-Waschi-Japan, ohne kla­re ideo­lo­gi­sche Ziel­set­zung oder Iden­ti­tät, per­ver­tiert und vul­gär? Ich bin mir nicht sicher, wie es gemeint ist.

Aku­ta fährt fort:

Mishi­ma sym­pa­thi­sier­te mit unse­ren Idea­len, auch wenn wir Dif­fe­ren­zen hat­ten. Gegen­sei­ti­ge Ges­ten des Respekts sind auch eine Art von Gespräch. Wenn man jeman­den wirk­lich ver­ach­tet, kann man mit ihm kein Gespräch füh­ren. Ich den­ke, das war damals das Ende des Zeit­al­ters, in dem Wor­te eine Macht hat­ten als Mitt­ler zwi­schen den Menschen.

Als der Inter­view­er anmerkt, daß die Stu­den­ten­be­we­gung gemein­hin als geschei­tert betrach­tet wer­de, ant­wor­tet Akuta:

Wen küm­mert das, wie ihr das in eurem Land seht? Das ist nicht in mei­nem Land pas­siert. Ich bin der leben­de Beweis. Ich exis­tie­re in mei­nem Land. Ich exis­tie­re nicht in eurem Land. Ich bin hier, ich atme. Ich bin es, der spricht. Ich ahme nie­man­den nach. Sehen Sie?

Ich muß hier einen Schluß­strich machen, obwohl ich nicht ein­mal ein Drit­tel des Reich­tums die­ses Films aus­ge­schöpft habe, der um Nüch­tern­heit und Objek­ti­vi­tät bemüht ist, und alle Betei­lig­ten mit glei­chem Respekt behandelt.

Die spe­zi­fi­sche Debat­te zwi­schen Links und Rechts, die sein Gegen­stand ist, war trotz der auf­ge­heiz­ten Stim­mung im Land aus ver­schie­de­nen Grün­den mög­lich: weil Mishi­ma und die Zen­kyo­to zumin­dest ein Min­dest­maß an Über­schnei­dun­gen hat­ten, weil sie von bei­den Sei­ten in ehr­li­cher Absicht geführt wur­de, und nicht mit dem Ziel, den ande­ren zur Sau machen oder der Lächer­lich­keit preis­zu­ge­ben, und nicht zuletzt, weil Mishi­ma eben Mishi­ma war.

Im ers­ten Teil des Bei­trags schrieb ich:

Die Grün­dung der Tate­no­kai kos­te­te ihn [Mishi­ma] kei­nen Ver­lags­ver­trag, kei­nen Repu­ta­ti­ons­ver­lust und er wur­de auch nicht von irgend­ei­nem “Ver­fas­sungs­schutz” “beob­ach­tet”.

Nicht nur das: Er hat­te in der Debat­te mit den links­extre­men Stu­den­ten, die ganz Japan in Auf­ruhr und Bür­ger­kriegs­stim­mung ver­setz­ten, ohne mit der Wim­per zu zucken bekannt, daß er poli­ti­sche Gewalt für legi­tim hält und daß er auch ger­ne ein­mal im Duell einen Men­schen töten würde.

Auch das tat sei­nem Ruf und sei­nem lite­ra­ri­schen Erfolg kei­nen Abbruch. Er konn­te wei­ter­hin ohne Pro­ble­me mit sei­ner rechts­ra­di­ka­len Pri­vat­trup­pe auf den Anla­gen der Jiei­tai para­mi­li­tä­ri­sche Übun­gen durch­füh­ren. Ein­ein­halb Jah­re nach der Uni-Debatt­te spa­zier­te er mit einem scharf­ge­schlif­fe­nen anti­ken Samu­rai­schwert und einem Tan­tō-Dolch unkon­trol­liert in das Haupt­quar­tier des japa­ni­schen Ver­tei­di­gungs­mi­nis­te­ri­ums, nahm einen Gene­ral als Gei­sel, rief zu einem Mili­tär­putsch auf und rich­te­te anschlie­ßend ein Blut­bad an, wobei das Blut haupt­säch­lich sein eige­nes war.

Auch wenn gera­de eben der zehn­te Todes­tag von Domi­ni­que Ven­ner war, sol­len die­se Betrach­tun­gen kein Auf­ruf zum Hara­ki­ri oder ähn­li­chem sein. Ich wer­de aller­dings nie­man­den dar­an hin­dern, aus ihnen ein gewis­ses Bedau­ern her­aus­zu­le­sen, in was für ver­gleichs­wei­se geis­tig faden und vor allem fei­gen Zei­ten wir heu­te leben.

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

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Kommentare (19)

Volksdeutscher

24. Mai 2023 18:48

"Der Traum, daß sich der Wille des Volkes direkt mit dem Willen des Staates verbindet, ohne Vermittlung durch eine zwischen ihnen stehende Machtstruktur."
Das ist auch mein Traum!

RMH

24. Mai 2023 22:45

Mishima und Venner kann man nicht auf eine Stufe stellen. Mishimas finales Kunstwerk befindet sich im Einklang mit der japanischen Traditionslinie, die er emporhob, deren Ehre er Respekt entgegenbrachte und der er treu war. Venners Selbstmord befindet sich hingegen in einer modernistischen, politisch dekadenten Abwärtslinie und ist - wenn auch vermutlich ungewollt - am Ende die Manifestation einer Verachtung der großen, abendländischen Tradition seines Landes (= im Ergebnis respektlos. Wenn auch, wie geschrieben, vermutlich ungewollt. Aber manchmal erzeugt das, was man will, in der Ausführung das Gegenteil). Und so befindet sich Mishima bei seinen Ahnen und Venner in der Hölle.

Ein Fremder aus Elea

24. Mai 2023 23:39

"Ich bin mir nicht sicher, wie es gemeint ist."

Die Bedeutung ist "fremdbestimmt und ausweichend".

"Obszön" wird als terminus technicus mit Bezug auf Sartres "gefesselte Frau" verwendet, welche für Japan steht.

Habe ich auch erst nicht verstanden, also als Mishima zuerst davon anfing, später, das heißt an dieser Stelle, aber schon.

Ordoliberal

25. Mai 2023 00:21

Der "Wille des Volkes"? Das ist doch nichts anderes als der unerklärbare, nur erfühlbare, zutiefst romantische und totalitäre "volonté générale" Rousseaus. Was diese Diskussion zwischen Mishima und Mukuta in erster Linie beweist ist, dass Linke und Rechte politische Romantiker sind. Der romantische Traum der Linken ist ein Leben in Schmerz- und Verantwortunglosigkeit, der der Rechten ein Leben in schmerzhafter Pflichterfüllung. Hedonist vs. Stoiker. Der Stoiker blickt in die Vergangenheit, um dort die Pflichten finden, ohne die er nicht leben kann, der Hedonist in die Zukunft, um dort die Erlösung von der Verantwortung zu finden, vor der er sich drücken will. Beide können sich kein Leben vorstellen, dessen Sinn nicht verbindlich von der Gemeinschaft gestiftet wird. Eine weitere Gemeinsamkeit, die ins Auge fällt, ist die sexuelle Devianz: Der Linke tendiert zur Selbstkastration, der Rechte zur Hypermännlichkeit. Homosexualität hat in der Romantik schon immer eine wichtige Rolle gespielt. Schließlich ist sie ein Aufstand gegen das Normale.

deutscheridentitaerer

25. Mai 2023 10:01

@RMHDas Gegenteil ist der Fall. Mishima hat aus den Traditionen seiner Ahnen ein narzistisches Schauspiel gemacht. Venner hat im Ernst für ein tatsächliches Ideal den vollen Einsatz gebracht.

RMH

25. Mai 2023 10:51

@deutschidentitaerer,
dann lesen Sie sich bitte einmal ein, wie das mit den Seppuko bei Mishima nach allen Zeugenberichten abgelaufen ist (von wegen "Schauspiel"). Venner hat am Ende eine ordinäre, kleine Kirchenschändung veranstaltet und damit das, was er zum Ausdruck bringen wollte, selber angreifbar gemacht. 

ML: Ich würde nicht Venner gegen Mishima ausspielen oder umgekehrt, ich finde beide ehrbar.

tearjerker

25. Mai 2023 11:07

@Volksdeutscher: Und ihr Traum ist Wirklichkeit, denn der Wille des Volkes richtet sich auf das Erlangen Ihrer materiellen und seelischen Ressourcen, während der Staat bereit ist dem Volk den direkten Griff zu ermöglichen. Es ist zwar nicht Ihr Volk, das dann zugreift, aber der träumende Hippie-Anarcho sieht das vermutlich grosszügig.

Gimli

25. Mai 2023 12:57

@ordoliberal
Interessante Typisierung. Und unerwartet sachlich und auch selbstkritisch.

ML: Das ist ja keine "Selbstkritik", er ist doch "Liberaler".

Wenngleich ich nicht sehe, wo Linke keine Verantwortung übernehmen wollten. Oder meinen Sie das im Sinne von "tradierte Lasten weitertragen"? Ich sehe Kretschmann, Habeck, Trittin etc als werteorientierte Verantwortungsträger, die sich echt Arbeit aufhals(t)en und im Stress stehen/standen. Und Umweltschutz ist auch genuin konservativ. Die Gründergrünen entstammen ja auch meist konservativen Elternhäusern. Dass Umweltschutz nicht mehr allein national geleistet werden kann und massiv Abkehr vom "Nachkriegssausundbraus" von jedem und jeder Einzelnen fordert, ist meines Erachtens nicht mehr mit links rechts Etiketten beschreibbar.  Fasst aber Menschen an, die sich nur in wohlgesetzter Ordnung wohlfühlen. Da ich selber diese Ordnung eher nicht brauche bzw. immer angestaubt finde und also nichts Ewig-Festes schaffe (noch dran glaube) und mir immer Arbeit mache/ vorhergehende Werke selber einreiße, würden Sie mich daher als Autokastrat bezeichnen? Greift zu kurz. Ich lebe bürgerlicher als manch anderer (Haus Grund Hunde Hühner Großfamilie) und finde bei Gerhard-Baum-gelb, grün und Schmidt-Brandt-Scholz-rot passende Persönlichkeiten, denen ich vertraue. Wenn die alle für Sie links sind, hat der Verfassungsschutz vllt recht :-)

t.gygax

25. Mai 2023 14:17

@gimli
"Habeck als wertkonservativer Verantwortungsträger".
Dies rief beim Lesen bei mir geradezu ungezähmte Heiterkeit hervor...Wenn es Satire ist, dann war es  gekonnt, ist das aber ernstgemeint, dann wird es ein treffendes Psychogramm der Figur, die sich einen schönen Namen von Tolkien geborgt hat, empfehle "gimli", er sollte das gewaltige Epos mal wieder lesen.Macht Freude und schadet nicht.

ML: Und nun wieder zurück zum Thema, bitte.

Volksdeutscher

25. Mai 2023 17:23

"Unter “befreiten Zonen” wurden damals Zonen verstanden, in denen die “revolutionären Kräfte die Kontrolle der Staatsgewalt aufgehoben haben und selbst herrschen”...."
Dieser Gedanke ist, wenn ich mich nicht irre, auch heute noch unter den Linken lebendig und im Gebrauch. Sie nennen sich deshalb "autonome Linke" und dementsprechend benehmen sie sich in den Stadtteilen, wo sie leben (oder eher hausen).

Volksdeutscher

26. Mai 2023 00:17

@deutschidentitaerer - "Mishima hat aus den Traditionen seiner Ahnen ein narzistisches Schauspiel gemacht."
Nein, er hat kein narzistisches Schauspiel im negativen Sinne daraus gemacht, wie Sie das meinen. Einer meiner ehemaligen (und einzig sympathischen) linken Professoren hatte das Phänomen vor einer linken Zuhörerschaft sinngemäß so dargestellt: "Stellen Sie sich einen Schminkschrank mit drei Spiegeln vor. Wenn ich den linken und rechten Spiegelflügel im 60 Grad Winkel nach innen klappe, sehe ich mein Spiegelbild in der Unendlichkeit in einem Punkt zusammenlaufen, und ich erkenne: Ich bin alle - alle sind ich. So wirkt Nationalismus." Was er nicht sagte, war, daß die Linke diesen ästhetisch-narzistischen Nationalismus nicht kennt. Er ermöglich jedoch sowohl dem Einzelnen, Kraft aus der Gemeinschaft, als auch der Gemeinschaft, Kraft aus dem Einzelnen zu schöpfen. Womöglich ist dies der Grund dafür, warum soviel Energie darauf verwendet wird, der Selbstfindung der Deutschen Steine in den Weg zu legen: Wenn alle einer sind und einer alle ist, sind wir ein Felsen und kein Geröll mehr. Gleich dem politischen Traum Mishimas bedarf es dann zwischen dem Einzelnen und seiner Gemeinschaft keiner vermittelnden Instanz mehr.

Ordoliberal

26. Mai 2023 00:23

ML: Das ist ja keine "Selbstkritik", er ist doch "Liberaler".
Ich weiß nicht, womit ich dieses ad hominem verdient habe, Herr Lichtmesz: Liberaler in Anführungszeichen. Sie wissen so gut wie ich, dass das Spektrum der Liberalen sehr breit ist. Ein amerikanischer Neocon und ein deutscher Ordoliberaler haben nicht viel gemeinsam. Wie ja auch ein FDP-Politiker und ein klassischer Liberaler nicht viel gemeinsam haben.
Die Kritik der Libertären an der Oligarchie des globalen Großkapitals ist schärfer, durchdachter und treffender als die der Linken und auch Rechten. Dasselbe gilt für den Klimawahn, den Schwächekult, die Geldfälscherei und den Gesundheitstotalitarismus. Ich weiß, dass eine bestimmte Sorte von Libertären Staatsgrenzen für eine Fiktion hält. Ich gehöre nicht dazu. Ich glaube, dass sich ein gewachsenes Volk einen Staat gibt und nicht ein zusammengewürfelter Club von Handeltreibenden. Sonst würde ich wohl kaum hier mitdiskutieren.
Wenn man theoretisch so wenig über die hoch arbeitsteilige Industriewirtschaft, in der wir ja leben müssen und die ja notwendigerweise auch global sein muss, zu sagen hat wie die Rechten und sich deshalb aus dem Gebetbuch der Linken bedienen muss, sollte man den Schulterschluss mit den Libertären nicht einfach nur ablehnen, weil sie nichts mit Hegel, Schmitt und Heidegger anfangen können. 

Nitschewo

26. Mai 2023 02:47

@gimli - Was für ein Geschwafel, kann es sein, dass Sie sich in der Website geirrt haben?

FraAimerich

28. Mai 2023 08:56

@Ordoliberal: "Die Kritik der Libertären an der Oligarchie des globalen Großkapitals ist schärfer, durchdachter und treffender als die der Linken und auch Rechten."
 
Das empfinde ich als reichlich kecke Aussage. "Durchdachter" mag noch angehen, schließlich kümmert sich die Rechte um ökonomische Zusammenhänge am liebsten/meist gar nicht und bei der realexistierenden Restlinken geht es von Haus aus eher schlicht zu. Aber "treffender" würde ich auf jeden Fall zurückweisen.
Die Unterscheidung zwischen "gutem" und "schlechtem" (Oligarchen-/Monopol-/Finanz-) Kapital scheint mir letztlich (Grundprinzip kapitalistischer Akkumulationsweise vorausgesetzt) gerade nicht zuende gedacht oder reine Augenwischerei. (Ebenso wie der frühere, verführerische aber unzureichende Versuch, zwischen "raffendem" und "schaffendem" Kapital zu unterscheiden.)
Letztlich stellen schon die wenigen grundlegenden Einwände Mishimas gegen den Kapitalismus als solchen eine "schärfere" Kritik dar, als sie irgendein überzeugter Anhänger der "sozialen Marktwirtschaft" (aus teils sehr nachvollziehbaren Gründen) leisten könnte und wollte. 
Zugegeben, ein letztlich müßiger Streit - wir werden dieses Biest ja eh nicht mehr los, bevor es sich totgefressen hat.
 
 

Ordoliberal

29. Mai 2023 03:21

@FraAimerich
Was ist denn "der Kapitalismus als solcher"? Der Liberalismus kennt den Begriff "Kapitalismus" gar nicht. Er kennt nur die Privatwirtschaft und grenzt sie von der Gemeinwirtschaft ab. Alle "antikapitalistischen" Bewegungen stellen das private Eigentum unter Gemeinwohlvorbehalt, wobei jede eine andere vage und widersprüchliche Definition von Gemeinwohl hat. Vage und widersprüchlich muss diese Definition sein, denn das Ziel aller antikapitalistischen Bewegungen ist die Ballung der wirtschaftlichen Macht beim Staat.
Natürlich wünschen sich auch Multis, Banken und Investmentfonds eine Ballung von Macht zu ihren Gunsten. Ihr Mittel ist der unlautere Wettbewerb. Der liberale Staat unterbindet den unlauteren Wettbewerb, der real existierende Staat befördert ihn zu seinen Gunsten durch belohnende und bestrafende Steuersätze, Subventionen, bevorzugende Gesetzgebung, bevorzugende Staatsaufträge, bevorzugende Monopolvergaben und Zinsmanipulation. So entsteht eine Symbiose zwischen Großkapital, NGOs und Bürokratie, die den Bürgern als Gemeinwohl fördernd verkauft wird, die aber nichts weiter ist als eine korrupte Oligarchie, die nur durch eine strikte Trennung von Staat und Wirtschaft entmachtet werden kann. Also durch Rückkehr zur Marktwirtschaft.

FraAimerich

29. Mai 2023 15:28

@Ordoliberal: "Der Liberalismus kennt den Begriff Kapitalismus gar nicht."
Das ist ja das Grotesk-Traurige, daß der Liberalismus die Grundprinzipien und Folgen der von ihm bevorzugten Produktionsweise offenbar weder zu erkennen noch zu benennen in der Lage ist. Mishima hatte dieses Problem nicht.

Nath

29. Mai 2023 18:34

@ordoliberal "...denn das Ziel aller antikapitalistischen Bewegungen ist die Ballung der wirtschaftlichen Macht beim Staat."
Dies trifft keineswegs zu, sofern sich Ihr Diktum auf a l l e  antikapitalistischen Bewegungen beziehen soll." Richtig ist, dass bei Marx der Sozialismus den Charakter einer historisch notwendigen Z w i s c h e n s t u f e besitzt, in welcher der Staat in der Tat noch für eine begrenzte Zeitperiode weiterexistieren muss. Jener ist jedoch dazu bestimmt, in der klassenlosen kommunistischen Gesellschaft vollständig zu verschwinden. 
So verhält es sich wie gesagt bei Marx und den seinerzeit zum Materialismus "konvertierten" Linkshegelianern. Der libertäre oder nichtautoritäre Sozialismus, (Godwin, Proudhon, Bakunin, Kropotkin u.a.) hingegen hat dieses Modell von Anfang an abgelehnt. Sehr früh schon erkannte man die Gefahr, dass jeglicher Staat - auch der "sozialistische" - die Tendenz hat, sich zu perpetuieren, anstatt sich selbst aufzuheben. Bei den anarchistischen Sozialisten wird daher der Begriff der "Verstaatlichung" von Produktionsmitteln gemieden und an seine Stelle der des gesellschaftlichen Eigentums gesetzt. 

Ordoliberal

29. Mai 2023 22:43

@FraAimerich: "Das ist ja das Grotesk-Traurige, daß der Liberalismus die Grundprinzipien und Folgen der von ihm bevorzugten Produktionsweise offenbar weder zu erkennen noch zu benennen in der Lage ist.
@Nath: "Bei den anarchistischen Sozialisten wird daher der Begriff der "Verstaatlichung" von Produktionsmitteln gemieden und an seine Stelle der des gesellschaftlichen Eigentums gesetzt."
Mögen diese zwei Psalmen aus dem linken Gebetbuch meine Behauptung belegen, dass die neue Rechte nichts anderes ist als der patriotische kleine Bruder der alten Linken. Also praktisch eine SPD mit Pickelhaube.
Dann darf man sich aber auch nicht wundern, wenn einen der brave deutsche Schuldmichel mit den verrückten Cousins aus schrecklichen Zeiten verwechselt: den Sozialisten mit Stahlhelm.

FraAimerich

31. Mai 2023 03:16

@Ordoliberal
 
Sie geben doch gerade wieder den religiösen Eiferer, wollen dogmatisch festlegen, was man Kapitalismus nennen darf und was nicht - und werden unleidlich, wenn man nicht spontan bereit ist, mit Ihnen ins "Hohelied des Marktes" einzustimmen.
Im übrigen wüßte ich gerne, weshalb man Ihren Lehrsätzen mehr Gewicht beimessen sollte als z.B. den von @Nath sachlich zusammengefaßten Auffassungen der Gegenseite oder gar der begründeten Abneigung Mishimas.