“Die westliche Zivilisation war selbst in der Neuzeit noch nie so nah an einer direkten und offenen Verkörperung der Herrschaft des Antichrist.” Was ist mit dieser These des russischen Philosophen Alexander Dugin anzufangen?
Wenn ein Leser unter dem Interview mit Peter Feist anmerkt, dieser Krieg sei nur ein Ablenkungsmanöver, wir sollten vielmehr nach Davos schauen, dann dort wären der Ausgang des Krieges und das Danach schon beschlossene Sache, dann muß ich ihm deutlich widersprechen: Von diesem Krieg hängt ab, ob es die “Davokratie” (Renaud Camus) überhaupt noch geben wird.
Da der Wunsch nach einem Ende des Globalismus der größte Wunsch der politischen Rechten ist, ist diese sehr leicht damit zu ködern, daß eine Weltmacht existiert, und zwar realpolitisch existiert, die diesen Wunsch wahrmachen könnte. Martin Lichtmesz hat hier bereits vor einem Jahr ausführlich auseinandergenommen, wie Dugin diesen Wunsch “einfängt” und ihm sogar unterstellt, daß er uns “Rechtspopulisten” geschickt zu einer “fünften Kolonne Rußlands” machen will.
Das Problem, das ich dabei sehe, ist indes, daß Dugin nicht nur “russische Propaganda” auf höchstem Niveau betreibt oder die globalismuskritische “Q”- und “Coronakritik”-Welle reitet, sondern daß außer im Denkuniversum des russischen Thinktanks FKT (“Fonds konzeptueller Technologien”) meines Wissens keine Theorie formuliert wird, die imstande ist, diesen Krieg umfassend zu deuten.
Ohne umfassende Deutung sind wir dem Tagesgeschehen, das uns die Medienmacht bereitwillig vordeutet, hilflos ausgeliefert und fallen Tag für Tag auf neue Manöver gigantischer Psy-Ops herein. Dies sei vorangeschickt.
In seinem aktuellen Essay geht Alexander Geljewitsch Dugin davon aus, daß der Krieg bisher ausschließlich in “den üblichen Vorkriegsbegriffen und ‑konzepten” begriffen worden ist: als Widerstreit “nationaler Interessen, wirtschaftlicher Trends oder Energiepolitik, territorialer Streitigkeiten oder ethnischer Spannungen”.
Es geht ihm zufolge eben nicht um die Frage nach dem “völkerrechtswidrigen Angriffskrieg” oder dem “hybriden Krieg des Westens”, die Bündniszugehörigkeit der Ukraine, russisches Gas, “Entdollarisierung” und “Deindustrialisierung”, die “Selbstmordsanktionen” der EU, einen slawischen Bruderkrieg, Faschismus, grünen Militarismus oder die Gefahr des Atomkriegs.
Worum geht es dann? Dugin greift weit aus:
- Geopolitik, basierend auf der Betrachtung des tödlichen Duells zwischen der Zivilisation des Meeres und der Zivilisation des Landes, das die endgültige Verschärfung des großen Kontinentalkrieges kennzeichnet;
- Zivilisationsanalyse – den Kampf der Zivilisationen (die moderne westliche Zivilisation beansprucht Hegemonie gegen die aufkommenden nicht-westlichen alternativen Zivilisationen)
- Definition der zukünftigen Architektur der Weltordnung – der Widerspruch zwischen einer unipolaren und einer multipolaren Welt;
- den Höhepunkt der Weltgeschichte – die Endphase des westlichen Modells globaler Dominanz angesichts einer grundlegenden Krise;
- eine Makroanalyse der politischen Ökonomie, die auf der Manifestation des Zusammenbruchs des globalen Kapitalismus aufbaut;
- schließlich die religiöse Eschatologie, die die „letzten Tagen“ und die ihnen innewohnenden Konflikte, Zusammenstöße und Katastrophen beschreibt, sowie die Phänomenologie des Kommens des Antichrist.
- Alle anderen Faktoren – politische, nationale, Energie‑, Ressourcen‑, ethnische, rechtliche, diplomatische usw. – sind zwar wichtig, aber zweitrangig und untergeordnet. Zumindest erklären oder klären sie nichts Wesentliches.
Das ist mal eine Ansage! Hiermit läßt sich meiner Ansicht nach gedanklich weiterarbeiten. So kann man den Blick lösen vom täglichen Frontverlauf und der Parade immer neuer Waffengattungen, vom “Infokrieg” und von “der Energiekrise”, die in den Mainstream- und Alternativmedien inzwischen den Vollstatus des Bann-Narrativs innehat, den vorher “die Coronakrise” beanspruchen konnte. Es lohnt sich, längere Passagen zu übersetzen:
“1. Alle Geopolitik basiert auf der Betrachtung des ewigen Gegensatzes zwischen der Zivilisation des Meeres (Thalassokratie) und der Zivilisation des Landes (Tellurokratie). Ein anschaulicher Ausdruck dieser Anfänge in der Antike waren die Zusammenstöße zwischen dem landbasierten Sparta und dem hafenbasierten Athen, dem landbasierten Rom und dem maritimen Karthago. Die beiden Zivilisationen unterscheiden sich nicht nur strategisch und geographisch, sondern auch in ihrer Hauptausrichtung: Das Landreich basiert auf heiliger Tradition, Pflicht und hierarchischer Vertikalität, angeführt von einem heiligen Kaiser. Es ist eine Zivilisation des Geistes.
Seemächte sind Oligarchien, ein Handelssystem, das von materieller und technischer Entwicklung dominiert wird, sie sind im wesentlichen Piratenstaaten, ihre Werte und Traditionen sind kontingent und verändern sich ständig, wie das Meer selbst. Daher ihr innerer Fortschritt, insbesondere im materiellen Bereich, und umgekehrt die Beständigkeit ihrer Lebensweise und die Kontinuität der Zivilisation des Festlandes, des ewigen Rom.
Als die Politik globalisiert wurde und den gesamten Globus eroberte, wurden die beiden Zivilisationen schließlich räumlich verkörpert. Rußland und Eurasien wurden zum Kern der Landzivilisation, während der Pol der Meereszivilisation in der angelsächsischen Einflußzone verankert ist: vom britischen Empire über die Vereinigten Staaten bis zum NATO-Block. So sieht die Geopolitik die Geschichte der letzten Jahrhunderte. Das Russische Reich, die UdSSR und das moderne Rußland haben den Staffelstab der landgestützten Zivilisation geerbt.
Im geopolitischen Kontext ist Russland das ewige Rom, das Dritte Rom. Und der moderne Westen ist das klassische Karthago. (…) Neu in der Geopolitik ist, daß Rußland-Eurasien heute nicht als alleiniger Vertreter der Zivilisation auf der Erde auftreten kann. Daher das Konzept eines verteilten Kernlandes. Unter den neuen Bedingungen entwickeln sich nicht nur Rußand, sondern auch China, Indien, die islamische Welt, Afrika und Lateinamerika zu Polen der Zivilisation der Erde. Darüber hinaus könnten unter der Annahme des Zusammenbruchs der Meereszivilisation die westlichen „Großräume“ – Europa und Amerika selbst – zu entsprechenden „Kerngebieten“ werden. In den USA wird dies von Trump und den Republikanern, die es gezielt auf die roten und Binnenstaaten des Kontinents abgesehen haben, fast offen gewollt. In Europa tendieren Populisten und Befürworter des Konzepts der „Festung Europa“ intuitiv zu einem solchen Szenario.
2. Bis zu einem gewissen Grad wurden alle Gesellschaften von der modernen westlichen Zivilisation beeinflußt. Dazu gehört auch unser eigenes Land, in dem seit den 1990er Jahren ein westlicher liberaler Ansatz vorherrscht. Wir haben den Liberalismus und die Postmoderne als eine Art Betriebssystem übernommen und konnten sie in 23 Jahren unter Putins souveränem Kurs trotzdem nicht loswerden.
Aber heute hat der direkte geopolitische Konflikt mit der NATO und dem kollektiven Westen sogar diese zivile Konfrontation verschärft. Daher Putins Appell an traditionelle Werte, die Ablehnung von Liberalismus, Geschlechterpolitik usw. Obwohl unsere Gesellschaft und die herrschende Elite dies noch nicht vollständig verstanden haben, handelt es sich bei der Operation um eine direkte Konfrontation zwischen zwei Zivilisationen: dem liberalen, globalistischen, postmodernen Westen und der traditionellen Gesellschaft, vertreten durch Rußland und diejenigen, die zumindest eine gewisse Distanz zum Westen wahren.
3. Die letzten fünf Jahrhunderte der westlichen Zivilisation sind die Geschichte des Kampfes der Moderne gegen die Tradition, des Menschen gegen Gott, des Atomismus gegen die Ganzheit. In gewisser Weise ist es eine Geschichte des Kampfes zwischen West und Ost, da der moderne Westen zur Verkörperung des „Fortschritts“ geworden ist, während der Rest der Welt, insbesondere der Osten, als Territorium der Tradition, des Heiligen, wahrgenommen wurde Lebensweise bewahrt. (…) Der moderne westliche liberale Globalismus, die atlantische Zivilisation selbst, ihre geopolitische und geostrategische Plattform in Form der NATO und letztendlich die unipolare Weltordnung selbst sind der Höhepunkt des historischen „Fortschritts“, wie er von der westlichen Zivilisation selbst entschlüsselt wird.
Genau diese Art von „Fortschritt“ wird durch die SMO in Frage gestellt. Wenn wir vor dem Höhepunkt der historischen Bewegung des Westens in Richtung dieses vor 500 Jahren skizzierten und nun fast erreichten Ziels stehen, dann wird unser Sieg in der SMO – nicht mehr und nicht weniger – eine dramatische Veränderung im gesamten Verlauf der Weltgeschichte bedeuten: Der Westen war auf dem Weg zu seinem Ziel, und im letzten Stadium behinderte Rußland diese historische Mission, verwandelte den vom Westen verstandenen Universalismus des „Fortschritts“ in ein lokales privates regionales Phänomen, beraubte den Westen seines Rechts, die Menschheit zu vertreten. Das ist es, worum es geht und was heute in den Schützengräben der SMO entschieden wird.
4. Wenn wir jedoch von der liberalen Fortschrittsideologie abstrahieren und uns der religiösen Weltanschauung zuwenden, ergibt sich ein völlig anderes Bild. Das Christentum wie auch andere Religionen betrachten die Weltgeschichte als einen Rückschritt, als eine Abkehr vom Paradies. Auch nach dem Kommen Christi und dem Triumph der Weltkirche muß eine Zeit des Abfalls, eine Zeit großen Leidens und das Kommen des Antichrist, des Sohnes des Verderbens, kommen.
Dies wird zwangsläufig geschehen, aber die Gläubigen sind aufgerufen, für ihre Wahrheit einzustehen, der Kirche und Gott treu zu bleiben und sich auch unter diesen äußerst schwierigen Bedingungen dem Antichrist zu widersetzen. (…)
Dadurch erhalten wir eine weitere Dimension der Operation. Der Präsident Rußlands, der Außenminister, der Sekretär des Sicherheitsrats, der Chef des SVR und andere hochrangige Beamte Rußlands, die doch wohl weit entfernt von jeglicher Mystik sind, sprechen zunehmend direkt darüber. (…) Diesmal handelt es sich nicht um eine Metapher. Die westliche Zivilisation war selbst in der Neuzeit noch nie so nah an einer direkten und offenen Verkörperung der Herrschaft des Antichrist. (…)
Die SMO ist der Beginn des eschatologischen Kampfes zwischen der heiligen Tradition und der modernen Welt, der gerade in der Form der liberalen Ideologie und der globalistischen Politik seinen finstersten, giftigsten und radikalsten Ausdruck erreicht hat. Aus diesem Grund sprechen wir zunehmend vom Amargeddon, der letzten entscheidenden Schlacht zwischen den Armeen Gottes und Satans.”
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Soweit Dugin. Dabei, diesen Krieg nicht länger nur als “Rußland gegen die Ukraine” oder, schon gewagter weil mainstreamwidriger, “NATO gegen Rußland” zu verstehen, sondern weit darüber hinauszugehen, hilft er uns.
Seine Theorie ist einseitig, sogar extrem einseitig. Die “hinreichend allgemeine Theorie der “Steuerung” des FKT ist ebenfalls einseitig. Dugin kommt aus der russischen Orthodoxie (der evangelikale Dugin-Biograph James Heiser weist auch auf den okkultistischen Juschinskij-Kreis hin, dem Dugin angehörte und auf seine marxistischen Studien), der FKT kommt aus dem russischen Bolschewismus und der Kybernetik. Beide Wurzeln sind uns als Deutschen wesensfremd, und wenn dann auch noch geistige Kräfte aufgerufen werden, die dem Russentum helfen, sich zu erheben, kann uns schwindeln.
Da wir aber keine eigene politische Theorie haben, geschweige denn einen politischen Mythos (außer dem sterbenden Scheinmythos der “westlichen Werte” und der “Demokratie”), können wir uns ganz nüchtern an Dugins Bestandsaufnahme halten. Von seinem Mythos vom russischen ” katéchōn” werden wir als Deutsche nicht gefesselt, er berührt keine seelische Saite. Das kann von Vorteil sein. Wir können dann nämlich mit Dugin als Theoretiker auf das Niveau klettern, die Dinge geopolitisch, zivilisationsanalytisch, weltgeschichtlich, makroökonomisch und, ja, auch eschatologisch zu beobachten.
Führt letztere Beobachtungsebene nicht in die Irre und “triggert” just die Emotionen, die Lichtmesz an Dugin so abstoßen?
In unserem Briefwechselbuch hat Martin Barkhoff mir geschrieben:
In den Zeiten, die das Christentum ernstnahmen, war die persönliche Vorbereitung auf den Auftritt des Ersatzchristus immer von Wichtigkeit. Es tritt eben der große Widersacher nicht nur in der eigenen Seele auf, und man muß da mit ihm fertigwerden, nein, er wird auch als Geschichtsmacht auftreten.
Barkhoff deutet den “Aufhalter”, den ” katéchōn” als den Geist, die Wesenheit des Deutschtums – jetzt, da klar wird, wer abtreten muß von der Weltbühne, erscheint ihm das immer deutlicher im grammatischen Perfekt, daß die Deutschen es gewesen sind. Es muß der Antichrist kommen, nichts hält ihn mehr auf, auch nicht Rußland, er wird in die Geschichte eintreten.
Aber – und hier wird Dugins Eschatologie theologisch problematisch und wendet sich ins Machtpolitische, dient sich also womöglich ebenjenen Widersacherkräften an, denen er eigentlich entgegentreten will – “Ihr wisset weder Tag noch Stunde, in welcher des Menschen Sohn kommen wird” (Mt 25, 13).
Eschatologisches Denken muß aushalten, weder Tag noch Stunde zu wissen, also auch die jeweilige Jetztzeit trotz aller sich dem Begehrungsvermögen noch so stark aufdrängenden Anzeichen niemals mit der Verheißung der Endzeit kurzzuschließen. “So lasset uns nun nicht schlafen wie die andern, sondern lasset uns wachen und nüchtern sein.” (1. Thess 5, 6)
RMH
Es stellt sich die Frage, warum beschäftigt man sich aktuell damit?
1. Es dürfte zumindest in einem Punkt halbwegs Einigkeit herrschen, dass im Februar letzten Jahres kein großer Glaubenskrieg, kein Krieg um Sein oder Nichtsein einer Kultur angefangen wurde, sondern in der Tat eine massiv militärisch durchgeführte Polizeiaktion, bei der man hoffte, eine gesehene Gefahr für die eigene Sicherheit zu beseitigen und wieder klare Verhältnisse zu schaffen. Polizei auch deshalb, weil man die Ukraine als eigenes Land gar nicht ernst nahm, sondern als eigenes Gebiet sah. Man hoffte, in wenigen Tagen ist alles vorbei, vergleichbar mit Georgien, und man installiert seine eigenen Statthalter.
Kommentar Sommerfeld: Ja, so sieht's auf der alleruntersten Deutungsebene aus, eben einer von denen, die Dugin für überholt erklärt. "Man" beschäftigt sich damit hier und jetzt, weil es um die Hintergründe, das Große, Langangelegte, Zukunftsweisende geht. Mir jedenfalls.