Pepe Escobar, den Lichtmesz einmal als “Putin-Shill” bezeichnet hat, auf Deutsch: Lockvogel und “Anreißer” Putins, ist ein brasilianischer Investigativjournalist, der seit den 80er-Jahren als Auslandskorrespondent metapolitische Einschätzungen zum eurasischen Raum schreibt.
Außer bei der Asia Times (Online-Magazin mit Sitz in Honkong, ähnlich chinakritisch und liberalkonservativ wie die Epoch Times), erschienen seine gepfefferten Kommentare auf den Netzpräsenzen The Cradle (berichtet vornehmlich aus den Nahen Osten, in etwa das pro-russische Pendent zu Mena Watch, der US-neokonservativen Plattform des Middle East Forum) oder der Strategic Culture Foundation (eine für die englischsprachige Welt publizierende russische Denkfabrik, die von der US-Regierung im Stil des Kalten Krieges für einen verlängerten Arm Moskaus gehalten wird, vergleichbar mit der bekannteren Plattform South Front).
Escobars Kommentare zu Rußland und der Ukraine erschienen bis zu dessen Abschaltung regelmäßig auch auf dem alternativen Blog The Vineyard of the Saker.
In einem aktuellen Beitrag, der auf der Website der Strategic Culture Foundation auf Englisch nachzulesen ist, schreibt er, das Hauptproblem Rußlands sei in der Hauptsache weniger der Westen als ein verschachteltes innenpolitisches Großproblem.
Das ist insofern bemerkenswert, als Pepe Escobar zwar dezidiert pro-russisch ausgerichtet ist, aber eben kein plumper Propagandist. Gerade weil er zu Rußland hält, will er herausfinden, womit Rußland derzeit am meisten zu kämpfen hat. Wie bei einer Matrioschka – dieser russischen Puppe, in der immer noch mehr kleinere Püppchen stecken – kommen aus seiner Sicht mehrere ineinandersteckende “PsyOps” gegen den Westen zum Vorschein, aber auch genausoviele eigene Problemzonen.
Im NATO-Sprachgebrauch hat sich – folgt man der deutschsprachigen Wikipedia – die Bezeichnung “PsyOps” (psychological operations) durchgesetzt für die Hauptstrategie der psychologischen Kriegsführung (psychological warfare). Hiermit bezeichnet man alle Methoden und Maßnahmen zur Beeinflussung des Verhaltens der gegnerischen Streitkräfte und der Zivilbevölkerung. Meist wird durch gezielte Falschinformation Einfluß auf die strategischen Erwägungen des Gegners genommen. PsyOps sind regulärer Bestandteil der US-Verteidigungsstrategie.
Das Geheimnis einer perfekten PsyOp ist, daß sie niemand wirklich versteht. Eine perfekte PsyOp erfüllt zwei Aufgaben: Sie macht den Feind benommen und verwirrt und erreicht damit mehrere Ziele.
Escobar geht davon aus, daß Prigoschins im Westen als “Putsch” interpretierte Aktion Teil einer solchen PsyOp gewesen sein kann. Wie konnte man es zum Beispiel schaffen, der westlichen Öffentlichkeit ernsthaft weiszumachen, daß “General Amargeddon” Surowikin verhaftet wurde? Dieser “Putsch” wäre geradezu als die “Mutter der ‘maskirowska’ ” zu verstehen. Im Russischen bedeutet das Wort “maskirowska” schlicht “Tarnung”, die klangliche Assoziation mit “Matrioschka” ist hier sicherlich beabsichtigt.
In einem anderen Artikel hat er diese Ereignisse mit dem Film “Der längste Tag” verglichen. Der kürzlich aufgeführte “Längste Tag” könnte, wie er schreibt, eine überlebensgroße PsyOp gewesen sein – man weiß es nicht.
Wie findet man es heraus? Der Witz verdeckter Kriegsführung ist, daß man es als Beobachter eben nie direkt herausfinden kann und daher extrem gefährdet ist, seinen bestehenden Vorannahmen, Voreingenommenheiten und heimlichen Wünschen, wer den Krieg gewinnen möge, nachzugeben. Eine erste Methode ist allerdings unverfänglich: Man frage zuerst nach den direkten Profiteuren bzw. trage zusammen, auf welche Weise das Geschehene im Sinne der Macht gewesen sein könnte.
Der erste Gewinner ist zweifellos Weißrußland. Dank der unbezahlbaren Vermittlung des alten Mannes Luka verfügt Minsk nun über die erfahrenste Armee der Welt: die Wagner-Musiker, Meister des konventionellen (Libyen, Ukraine) und nichtkonventionellen Krieges (Syrien, Zentralafrikanische Republik).
Allein das löst bei der NATO bereits eine höllische Panik aus. An der Ostflanke steht die NATO plötzlich einer Super-Profi-Armee gegenüber, die sehr gut ausgerüstet und de facto unkontrollierbar ist und obendrein von einer Nation beherbergt wird, die jetzt mit Atomwaffen ausgerüstet ist. Gleichzeitig treibt Rußland die Abschreckung an seiner Westfront voran. “NATOstan” wird auf diese Weise dazu gebracht, Geldmittel in explodierende Militärbudgets zu investieren, über die es nicht verfügt.
Dieser Prozeß ist seit mindestens März 2018 ein zentraler Bestandteil der russischen Strategie. Und als Zusatzbonus stellt Rußland nun rund um die Uhr eine Bedrohung für die gesamte Nordfront der Ukraine dar. Nicht schlecht für eine „Meuterei“.
Auch wenn offizielle Erklärung des Kremls dafür, was am 24. Juni passiert ist, darauf hinausläuft, Prigoschin habe nur versucht, die Dinge aufzumischen und dadurch am Ende Moskau genützt, sei die Situation in Wirklichkeit wesentlich komplizierter, argumentiert Escobar. Eine wichtige Nebenhandlung sei, wie der “Tanz der Oligarchen” weitergehen werde. Unabhängige russische Medien erwarteten bereits am 24. Juni, daß einige “Verräter”, darunter Staatsfunktionäre, ihr One-Way-Ticket in den Westen kaufen würden.
Die Duma – gespeist von Bortnikows FSB (dem russischen Geheimdienst, Anmerkung CS) – arbeitet bereits an einer umfangreichen Liste. Das russische System – und auch die russische Öffentlichkeit – betrachten Menschen wie diese als äußerst toxisch, tatsächlich viel gefährlicher als die “Demshiza” (ein Begriff, der „Demokratie“ und „Schizophrenie“ vermischt und auf globalistische Neoliberale angewendet wird).
Die Sache mit den Verrätern ist in der Tat ein horrendes Problem, worauf der russische Politiktheoretiker Valerij Pyjakin (hier seine Analyse des 24. Juni) nicht müde wird hinzuweisen: der zivile und militärische Führungsstab ist mit Leuten aus der Jelzin-Ära durchsetzt, die letztlich “Westler” sind und zu allen möglichen Deals bereit (von Lieferungen bis Verhandlungen), die Rußland mürbe und schließlich vom Hegemon leicht zerstückelbar machen.
Hochinteressant ist meiner Ansicht nach Pyjakins Feststellung, daß es offenbar unmöglich war und ist, in Rußland eine klassische liberale Regime-change-Farbenrevolution aus der CIA-Kiste zu inszenieren – man muß ins patriotische Fach greifen. Denkbar, daß auch in der BRD eines Tages die jetzigen linksgrünen Politikerdarsteller dem medialen Volkszorn geopfert, abgeräumt und dann ein patriotisches roll back angekurbelt werden könnte … in wessen Interesse?
Weiters führt Escobar aus, daß nicht nur die Puppe der Oligarchen, sondern auch die darin enthaltene Puppe der Militärs sowohl einen Teil der auf die NATO gemünzten PsyOp als auch ein massives eigenes Problem darstellt:
An der militärischen Front wird es noch komplizierter. Putin hat Verteidigungsminister Schoigu damit beauftragt, die Liste der Generäle zusammenzustellen, die nach dem “längsten Tag“ befördert werden sollen. Um es milde auszudrücken: Für viele Menschen unterschiedlichster Gesinnung ist Schoigu zu einem toxischen Element in der russischen Politik geworden. Wagner wird – umbenannt und unter neuer Leitung – weiterhin über Minsk die Interessen Rußlands vertreten, auch in Afrika. Der alte Luka hat, listig wie immer, bereits klar erklärt, daß es über Wagner keine Provokationen gegen die NATO geben wird. (…)
Ein klarer Gewinner des gesamten Prozesses ist die öffentliche Meinung Rußlands:
Das hat sie in Rostow deutlich gemacht. Alle unterstützten Putin, russische Soldaten, Wagner und Prigoschin – gleichzeitig. Das übergeordnete Ziel bestand darin, die russische Armee zu verbessern, um den Krieg zu gewinnen. So einfach ist das. Die Säuberung im Verteidigungsministerium wird hart sein. Unter dem Vorwand der Repression oder „Rebellion“ werden „Operettengeneräle“ (wie von Putin selbst definiert), die ihre Soldaten nicht richtig ausgebildet haben, die Mobilisierung nicht richtig organisiert haben oder im Kampf inkompetent waren, definitiv gestrichen.
Hier ist nicht klar, ob Pepe Escobar selber sich entweder solche “Säuberungen” wünscht oder aber in die Falle der nämlichen PsyOp, über die er berichtet, getappt ist. Wenn man diesen “Experten” beim ZDF liest, kann man zumindest auf die Idee kommen.
Das Problem ist, daß sie alle zu Gerasimows Kreis gehören. Um es diplomatisch auszudrücken: Er muß viele ernste Fragen beantworten. Und das ist es, was uns zu den Monster-fake-News „General Armageddon wurde verhaftet“ bringt, die von der gesamten NATOstan-Informationswelt freudig nachgeplappert werden. General Surowikin empfing Prigoschin zwar in Rostow – er war jedoch nie ein Komplize der „Rebellion“ (…) unabhängig davon, ob man das offizielle Narrativ teilt oder nicht. Das bedeutet, daß der russische Staat es kommen sah. (…)
Es besteht in Rußland kein Zweifel daran, daß die schwelenden Spannungen in russischen Militärkreisen vor dem “längsten Tag” im Nebel des Krieges manipuliert wurden, um den Feind zu desorientieren. Es funktionierte wie ein Zauber. (…)
Ein wichtiger Faktor ist, wie Surowikin von der öffentlichen Meinung im Vergleich zu den überlebenden „Operetten-Generälen“ beurteilt wird. (…)
Der umbenannte Wagner bleibt bestehen und bleibt auf mehreren Breitengraden auf dem Vormarsch. Kurzfristig scheint der Trend auf eine – komplizierte – Trockenlegung des russischen Militärsumpfes hinzudeuten. Der “längste Tag” scheint Russen aller Couleur dazu gebracht zu haben, herauszufinden, wer der wahre Feind ist – und wie man ihn besiegen kann, was auch immer nötig ist.
Der Historiker Andrej Fursow, auf den Pepe Escobar sich bezieht, geht davon aus, daß „in der Politik nichts zufällig geschieht.“ Wenn etwas passiert, war es bestimmt vorhersehbar.
Fursow (hier in einem YouTube-Interview mit einem recht impertinenten “westlichen” Journalisten) ist als Neo-Stalinist gewissermaßen ein Old-school-Verschwörungsanalytiker. Auf ihn gehen auch eine Reihe von Thesen zur inneren Destabilisierung Rußlands und zur Umschreibung der Geschichte der Sowjetunion nach 1991 zurück.
Escobars Position ist weder die von Fursow noch die von Pyjakin. Er ist politischer Journalist und beackert deshalb nur das Feld der manifesten (Geo-)Politik, wozu er selbst keine bolschewistische Geschichtstheorie benötigt.
Es ist allerdings wahrlich kein Fehler, diese Theorien kennenzulernen, erstens des analytischen Niveaus wegen, zweitens, um bestimmte vermeintliche Absonderlichkeiten der russischen Sicht besser einordnen zu können, zum Beispiel die Verwendung des Wortes “faschistisch” für den kollektiven Westen samt Ukraineregime oder die Rolle der “Befreiung” Deutschlands. Hier zieht sich ein Riß durchs rechte Lager: Wagenknecht-Elsässer-Chrupalla auf der einen Seite, JF-Klonovsky-Schnellroda auf der anderen Seite.
Basierend auf Gesprächen mit russischen Analysten und ihren Eindrücken von sehr schlauen Leuten, die in Rußland, der Ukraine und im Westen leben, ließen sich im wesentlichen vier Hauptgruppen identifizieren, die versuchen, ihre Vorstellung von Rußland durchzusetzen,
schreibt Escobar am Schluß seines Artikels:
- Die „Zurück-in-die-UdSSR“-Bande: Diese enthält natürlich einige ehemalige KGB- Mitarbeiter und viele ausgebildete Fachkräfte (Old-school-Profis, meist im Rentenalter). Aber hat diese Bande die Unterstützung der Bevölkerung? Ihr Projekt deutet auf eine Revolution hin – ein neues Jahr 1917 auf Steroiden. Aber wo bleibt Lenin?
- Die „Zurück-zum-Zaren“-Leute. Diese gehen davon aus, daß Rußland das „Dritte Rom“ ist und der orthodoxen Kirche eine herausragende Rolle zukommt. Dahinter stecken allerdings satte Gelder. Ein großes Fragezeichen ist, wie viel Unterstützung in der Bevölkerung, insbesondere im „tiefen“ Rußland, sie wirklich haben. Diese Gruppe hat übrigens nichts mit dem Vatikan zu tun – der ist längst an den “Great Reset” verkauft worden.
- Die Plünderer – die Rußland zugunsten des Hegemons ausgeraubt haben. Hier haben wir es mit der gemeinen “5. Kolonne” und allen möglichen „totalitären Neoliberalen“ zu tun, die die „Werte“ des kollektiven Westens verehren (und großteils schon “rübergemacht haben”, Anmerkung CS). Bei den übrigen wird bald der FSB an die Tür klopfen. Ihr Geld ist bereits blockiert.
- Die Eurasianisten. Dies ist das realisierbarste Projekt – in enger Zusammenarbeit mit China und mit dem Ziel einer multipolaren Welt. Für russische Oligarchen ist hier kein Platz. Dennoch ist der Grad der Zusammenarbeit mit China immer noch höchst umstritten. Die wirklich brennende Frage lautet: Wie läßt sich die Belt-and-Road-Initiative in der Praxis wirklich in die Greater Eurasia Partnership integrieren?
Dies ist nur eine Skizze – offen zur Diskussion. Die ersten drei Projekte funktionieren wohl kaum – aus einer Reihe von komplexen Gründen. Und das vierte hat in Rußland immer noch nicht genug Fahrt aufgenommen. Sicher ist, daß sie alle gegeneinander kämpfen. Möge die derzeitige Trockenlegung des militärischen Sumpfes auch dazu dienen, den politischen Himmel zu klären.
zeitschnur
Es ist verdienstvoll, den Blick einmal darauf zu richten, dass Russland in Gärungsprozessen ist, und dies natürlich erheblich anders und komplizierter als die dümmlichen deutschen Medien es darstellen, die alle paar Tage ihren Oligarchenkollegen Chordorkowski, das Super-Orakel, mal wieder irgendwelche Abgesänge plappern lassen. ("Putin", das Monster, verliert seit anderthalb Jahren bereits täglich den Krieg.)
Aber sagen wir es doch anders: Ist es nicht Russlands Glück, dass der Westen es nicht versteht?
Aber dieses Nicht-Verstehen hat eine Tragik für uns alle:
Ich habe den Eindruck, dass Russland auf eine noch zu klärende Weise das gesamte europäische Drama widerspiegelt, wir genau dies aber nicht verstehen. Es ist wie eine Art innereuropäische Identitätsspaltung. Ein Europa (vermutlich unter Anleitung europäischer Mafiagruppen überm Atlantik), das Russland abspaltet und nicht versteht, versteht sich selbst nicht mehr.
Ruhiges Beobachten und Interesse ist gefragt, Einfühlung und endlich eine Beendigung der vielen albernen Projektions-Spekulationen auf allen Seiten.