Jedenfalls: Sie ist irgendwie gefährlich. Welche Strategien verfolgt das Establishment, um das Umfragehoch der AfD zu bremsen?
Das Umfragehoch der AfD hält weiter an. Vor ca. einem Jahr konnte sich die Partei in einem bisweilen ungebremsten Aufstiegstrend aus der zuvor langen Durststrecke im 10–12% Korridor befreien. Inzwischen hat man sich bei nahezu allen Umfrageinstituten fest über dem früheren Rekordwert von 18% im September 2018 verankern können.
An einigen, vor allem symbolisch wichtigen Wahlen wie der Landratswahl in Sonneberg oder den Bürgermeisterwahlen in Raguhn-Jeßnitz und Schwerin konnte in diesem Sommer gezeigt werden, daß der Umfragetrend auf der Mikroebene offenbar auch in realen Wahlerfolgen meßbar ist.
Dennoch bleibt für jeden äußeren Beobachter der Zweifel, daß es sich bei der aktuellen Wachstumstendenz womöglich doch nur um eine demoskopische Blase handeln könnte. Liegt das feste und langfristig zu haltende Wählerpotential tatsächlich bereits bei +20%? Oder handelt es sich immer noch um ein rein situatives Momentum, und die Partei wird voraussichtlich wieder auf 13–16% eingedampft werden?
Ich habe in einem meiner letzten Beiträge bereits skizziert, daß das letztere Szenario nicht völlig ausgeschlossen werden darf. Es wird schon herausfordernd genug sein, zunächst überhaupt die strukturelle Basis für eine 20%-Partei aufzubauen. Allein in Brüssel und Berlin würde sich die Zahl der Mandatsträger bei einem solchen Bundesergebnis teilweise mehr als verdoppeln. Daran angeschlossen kommt der personelle Mehrbedarf an Wahlkreismitarbeitern, Referenten, Medienleuten und Organisatoren hinzu.
Vor allem aber braucht die Partei ein eigenständiges soziokulturelles Milieu, welches aus sich selbst heraus als politischer Magnet wirken kann, woraus schließlich auch robuste Stammwählerschaften erwachsen.
Die politischen und medialen Gegner der AfD befinden sich derzeit auf intensiver Ursachenforschung für das derzeitige Umfragehoch. Insbesondere in der Entwicklung von eventuellen Gegenstrategien des politmedialen Establishments haben sich einige zentrale Debattenstränge entwickelt, die auch von Seiten der AfD in die strategische Analyse mit einbezogen werden sollten.
Zusammengefaßt teilen sich diese auf zwei zentrale Bausteine, die wiederum eine weitere Subebene enthalten.
Auf der einen Seite steht die Ebene der repräsentativen Konkurrenzbildung. Das heißt, eine neue oder etablierte parteipolitische Alternative tritt in direkte repräsentative Konkurrenz zur AfD, besetzt deren Themenfelder und stößt in die eigenen Wählerräume vor. Hierdurch wird versucht, das existente Wählerpotential in neue Kanäle umzuleiten und in domestizierte Diskurskorridore einzubinden. Auf der anderen Seite geht es vor allem um die inhaltliche Eliminierung der entscheidenden Debattenstränge, an die die AfD andocken könnte und gleichzeitig um die Aufrechterhaltung der gesellschaftlich-metapolitischen Pariastellung.
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Strategie 1: CDU wird “wieder konservativer”
Dort, wo sich das sozialdemokratische Milieu parteipolitisch auf der linken Seite mit der Linkspartei und den Grünen neu ordnete, ist die AfD Ausdruck jenes rechten Elektorats, welches die von der CDU zurückgelassene konservative Repräsentationslücke geschlossen hatte. Die Merkel-Ära hatte die Union final in Richtung neuer Wählerschichten der linken Mitte geöffnet. Vor zwei Jahren fürchtete man mit dem Amtsantritt von Friedrich Merz und der neuen Oppositionsrolle der Union noch eine konservative Wiederbelebung. Merz versprach, daß er die AfD halbieren würde. Inzwischen hat sich die Partei binnen eines Jahres verdoppelt.
Die Union konnte sich seit der Bundestagswahl 2021 zwar wieder an die Spitze setzen, stagniert jedoch immer noch zwischen 26–28%. Trotz der seit der Bundestagswahl 2021 gestiegenen Werte für die Union hat sich im rechtskonservativ eingestellten Wählermilieu nur wenig in Richtung der CDU verschoben.
Die frühere Einbindungsstärke von rechten Wählerschaften durch die Christdemokratie in der alten Bundesrepublik erschöpft sich zunehmend. Das liegt unter anderem auch an der Schließung und Verdichtung des AfD-Elektorats.
Die sogenannten „Rückholmissionen“ der etablierten Parteien gelingen kaum noch. 77% der AfD-Anhänger geben an, daß sie sich den politischen Grundpositionen der Partei „nahe“ bis „sehr nahe“ fühlen. Das ist zwar im Vergleich zu allen anderen Parteien der niedrigste Wert, aber er macht dennoch deutlich, daß es sich keineswegs mehr nur um ein reines Protestphänomen handelt. Bis zu 87% der AfD-Wähler der letzten Bundestagswahl 2021 geben in den Umfragen an, daß sie auch jetzt immer noch bereit wären, für die AfD zu votieren.
Schon frühere Studien haben gezeigt, daß die Wahrscheinlichkeit, die vormals gewählte Partei wiederzuwählen unter den AfD- und Grünen-Anhängern am größten ist. Aus der Protestwählerhypothese sollte sich keineswegs der Fehlschluß ergeben, daß diese Wähler immer noch ungebunden und volatil seien. Die Protest- und Unzufriedenheitsmotive mögen immer noch bestimmende Faktoren sein, die aber in der Verstetigung und der Konvergenz der Krisen zu einer festen Einstellungskonstante wird.
Selbst die Berlin-Wahl im Februar dieses Jahres hat gezeigt, daß sogar dort, wo die CDU einen Oppositionsbonus ausspielen kann, die Zuwächse aus dem AfD-Lager marginal bleiben und für die AfD selbst die Verluste an die Nichtwähler mehr als dreimal so hoch sind wie die Abgänge an die CDU. Die großen Austauschdynamiken zwischen AfD- und CDU Wählerschaften lassen sich vielleicht noch bis zur vorletzten Bundestagswahl 2017 am stärksten beobachten. In den neueren Umfragen und Studien ist dieser Austausch nicht mehr erkennbar.
Die konservative Aufbruchserwartung hing personell recht eng an der Person Friedrich Merz, in den manche CDUler einen Sehnsuchtsort ihrer alten Union der Vor-Merkel-Ära projizierten. Doch auch Merz muß nun einsehen, daß der deutsche Konservatismus in seiner christdemokratischen Ausprägung den Kulturkampf längst verloren hat. Ein paar habituelle und personelle Stellschrauben im Auftreten und einer neuen Parteiführung reichen am Ende nicht aus, um eine attraktive Gegenvision zur woken Linken zu formulieren.
Die elektorale Größe der Union wird lediglich über die demographische Übermacht der Generation 60+ aufgeblasen. Es gibt aber kein weltanschaulich-ideologisches Zentrum, das sich innerhalb der CDU gegen den herrschenden Mainstream stellen könnte. Sie hat kein angriffslustiges visionäres Konzept, das die rechtskonservativ eingestellte Wählerschaft wieder unter einem gemeinsamen soziokulturellen und ideologischen Dach versammeln könnte. Ihre früheren konservativen Kernmilieus sind zerfallen. Innerparteiliche Lobbys wie die Werte Union und Co sind kaltgestellt und dienen nur noch als polittherapeutische Selbsthilfegruppen.
Friedrich Merz wird sich noch nicht bewußt gemacht haben, daß seine historische Rolle für die CDU womöglich nur noch in einer Verwaltungs- und Abwicklungsfunktion liegt. Merkel hat die Partei hin zur linken Mitte vollends überdehnt und für schwarz-grüne Koalitionen geöffnet. Merz braucht zwar die rechtskonservative Wählerschaft, um die Union wieder über eine sichere 30+% Basis zu führen. Die realistischen Macht- und Koalitionsoptionen bleiben jedoch nur im Rahmen einer Annährung an die linke Mitte.
Dieser Spagat zerreißt die Union, während die AfD problemlos eine selbstbewusste Position beziehen und ein eigenständiges Milieu repräsentieren kann. Die AfD kann sich am glaubwürdigsten und in die ideologische und lebensweltliche Antagonistenrolle zu den Grünen setzen. Sie erschließt sich gerade die Zugriffsmöglichkeiten auf neue ländlich-suburbane Mittelschichtsmilieus, die ihrem Protest und ihrer Unzufriedenheit in einen möglichst starken politischen Impuls umwandeln wollen. Die klare Konfliktlinie zu den Grünen sorgt für die weitere Positionsschärfung und inhaltliche Markenbildung.
Je deutlicher sich die lebensweltliche und ideologische Differenz zu den Grünen herausschält, umso mehr profitiert auf lange Sicht die AfD. Diesen Protest kann die Union nur schwerlich abbilden und wird es nicht schaffen, beim Wähler eine gedankliche Brücke zwischen ihrem Status als etablierte Partei und gleichzeitig oppositionelle Stimme der Unzufriedenen herzustellen.
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Strategie 2: Das Aufkommen einer “Sarah Wagenknecht Partei”
Bereits in einem Beitrag im März dieses Jahres habe ich mich mit den Chancen einer „Liste Wagenknecht“ auseinandergesetzt. Inzwischen sind die Pläne einer solchen Partei konkreter geworden, und die Gerüchte verdichten sich zu einer Gründung zum Ende des Jahres, womit die „Wagenknecht-Liste“ voraussichtlich bereits zur Europawahl 2024 antreten wird.
Nachdem bereits erste wissenschaftliche Studien zu den Wählerpotentialen einer Sahra Wagenknecht Partei erschienen sind, haben es sich einige Demoskopieinstitute nicht nehmen lassen, auch eine hypothetische „Wagenknecht-Partei“ bei den kommenden Landtags- und Bundestagswahlen abzufragen. Grundsätzlich ist dies schon ein methodisches Wagnis.
Weder ist die abgefragte Partei bereits gegründet, noch ist uns etwas über die personelle Konstellation oder inhaltlich-programmatische Ausrichtung bekannt. Das einzige, was die potentiellen Wähler vermuten dürfen, ist die Beteiligung Sahra Wagenknechts als Frontfrau. Sie allein wäre zunächst der Herzschrittmacher dieses Projekts, welches von ihrem politischen Nimbus und ihrer Popularität leben würde.
Somit ist die Schwankungsbreite der Umfragen für eine mögliche Wagenknecht-Partei mit 2–15% auch recht hoch. Die Umfrageinstitute tun sich für ihre Glaubwürdigkeit jedenfalls kein Gefallen, wenn es bei der „Liste-Wagenknecht“ lediglich um Schlagzeilenproduktion geht, aber eine realistische Abbildung aufgrund zu vieler unsicherer Faktoren kaum möglich ist.
Die entscheidende Herausforderung der Wagenknecht-Partei wäre das Beziehen einer Exklusivstellung im oppositionellen und unzufriedenen Wählerraum. Was aber wäre der ideologische Kern? Sozialdemokratie der 50er Jahre? Südeuropäischer Linkspopulismus? Traditionelle Arbeiterbewegung mit etwas DKP-Nostalgie? Welche Repräsentationslücke will Wagenknecht mit einem wie auch immer gearteten „linken Konservatismus“ schließen?
Erfolgreiche Parteineugründungen brauchen langfristig ein polarisierendes Thema, das zugleich von einer ausreichend großen Wählergruppe als relevant wahrgenommen wird und in dem sich bis dato noch kein anderer parteipolitischer Resonanzraum gebildet hat. Wagenknechts positionelle Trumpfkarte wäre hierbei die Symbiose aus linker Wirtschafts- und Sozialpolitik in Verbindung mit soziokulturellem Konservatismus, der sich entschlossen gegen die moderne „Woke-Linke“ stellt.
Für letzteres ist die politische Nachfrage bereits durch die AfD gesättigt. Auf der ökonomischen Seite gäbe es sicherlich programmatische Lücken, über die sich auch einige Wählerreserven mobilisieren lassen. Es hängt jedoch auch von der AfD ab, ob man diese programmatischen Angriffsflächen bietet oder nicht.
Die AfD befindet sich aktuell in einem weltanschaulichen Findungsprozeß, über den auch eine ideologische Festigung ihrer Kernwählerschaft stattfindet. Die großen Krisenvektoren von Deindustrialisierung, Inflation und Migration machen die Verknüpfungen von Identität und der sozialen Frage sichtbarer, greifbarer und konkreter. Wenn sich die AfD in diesem Panorama eine begriffliche und ideologische Dominanzposition aufbaut, wird es Wagenknecht schwer haben, einen inhaltlichen Alleinvertretungsanspruch zu reklamieren.
Inzwischen wurde auch bekannt, daß Wagenknecht womöglich gar keine eigene persönliche Spitzenkandidatur zur Europawahl 2024 plant und stattdessen die Politikwissenschaftlerin und als Corona-Maßnahmenkritikerin bekannt gewordene Ulrike Guerot zur Frontfrau der möglichen Liste-Wagenknecht werden soll. Dadurch würde sich dieses Projekt schon im Startanlauf seiner effektivsten Mobilisierungsressource (Wagenknechts Popularität) berauben und könnte sich direkt in die politische Bedeutungslosigkeit abmelden.
Le Chasseur
"Welche Repräsentationslücke will Wagenknecht mit einem wie auch immer gearteten „linken Konservatismus“ schließen?"
Von Ernst Thälmann stammt folgendes Zitat: „Mein Volk, dem ich angehöre und das ich liebe, ist das deutsche Volk; und meine Nation, die ich mit großem Stolz verehre, ist die deutsche Nation. Eine ritterliche, stolze und harte Nation. […] Ich bin Blut vom Blute und Fleisch vom Fleische der deutschen Arbeiter und bin deshalb als ihr revolutionäres Kind später ihr revolutionärer Führer geworden.“
Welche Partei würde Thälmann heute wählen bzw., welcher Partei würde er beitreten?
Oder welche Partei würde bspw. ein Kurt Schumacher heutzutage wählen?