Hinter den Linien. Tagebuch – Donnerstag, 14. November

Während die Ampelkoalition zerbricht und ihre Protagonisten um sich beißen, während das AfD-Verbotsverfahren ventiliert wird und Trump sein Kabinett aufbaut und Personalentscheidungen trifft, deren Auswirkungen auf die Europapolitik des Hegemons unklar bleiben - während viel passiert, schreitet auch die Verfestigung und Konsolidierung der neuen Normalität im vorpolitischen Raum voran.

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

Die­se neue Nor­ma­li­tät ist das urei­ge­ne Pro­jekt von Ver­la­gen, Publi­zis­ten, Ver­an­stal­tern, also: das Zusam­men­spiel von Text, Buch, Ort, Per­sön­lich­keit und Szene.

In der kom­men­den Woche ist Wien Schau­platz gleich zwei­er hoch­ka­rä­ti­ger Ver­an­stal­tun­gen, und zwar an zwei Aben­den hin­ter­ein­an­der – Mitt­woch und Don­ners­tag, jeweils in der Sala Ter­re­na im Fer­di­nan­di­hof, Wehr­gas­se 30, Wien.

Am Mitt­woch, den 20. Novem­ber, wird auf Ein­la­dung der Zeit­schrift Abend­land Gene­ral­ma­jor Rober­to Van­n­ac­ci vor­tra­gen. Das freut mich des­halb sehr, weil Van­n­ac­cis Ita­li­en-Best­sel­ler Il mon­do al con­tra­rio von Antai­os ins Deut­sche über­tra­gen und unter dem Titel Ver­dreh­te Welt. Eine Bestands­auf­nah­me ver­öf­fent­licht wor­den ist.

Gene­ral Van­n­ac­ci wird ab 19.30 Uhr refe­rie­ren, und zwar auf Eng­lisch. Das soll­te indes kein Hin­de­rungs­grund sein: Er ist ein Mann kla­rer Wor­te und als Red­ner poli­tisch ver­siert. Die Euro­pa­wahl hat ihm im Som­mer ein Man­dat in Brüs­sel beschert, er nimmt es für die Lega Nord wahr.

Bücher haben wir nach Wien gelie­fert, man wird sie dort erwer­ben und natür­lich signie­ren las­sen kön­nen. Wer nicht anrei­sen kann, fin­det das Buch hier auf antaios.de.

Am Don­ners­tag, den 21. Novem­ber, sind dann der lang­jäh­ri­ge FAZ-Redak­teur und Autor Lorenz Jäger sowie unse­re Autorin Caro­li­ne Som­mer­feld zu Gast im Fer­di­nan­di­hof, und zwar auf Ein­la­dung des Karo­lin­ger-Ver­lags. Die Ver­an­stal­tung beginnt eben­falls um 19.30 Uhr.

Som­mer­feld wird Jäger über des­sen umfang­rei­ches Werk befra­gen: Phi­lo­so­phi­sche, poli­ti­sche und his­to­ri­sche The­men wer­den im Mit­tel­punkt ste­hen – und sicher auch Annä­he­rungs­ver­su­che an die Macht hin­ter der Macht: Som­mer­felds jüngs­tes Buch über Ver­schwö­rungs­theo­rien hat unter ande­rem von der Lek­tü­re des Werks Hin­ter dem gro­ßen Ori­ent. Frei­mau­re­rei und Revo­lu­ti­ons­be­we­gun­gen pro­fi­tiert. Ver­faßt hat es vor Jah­ren – Lorenz Jäger. Wir haben es hier neu in unser Sor­ti­ment auf­ge­nom­men.

Also: Das wer­den zwei span­nen­de Aben­de. Anmel­dun­gen sind jeweils nicht erfor­der­lich, pünkt­li­ches Erschei­nen ist auch des­halb sinn­voll, weil die Anzahl der Plät­ze beschränkt ist. Ein Ein­tritt wird nicht erho­ben. Wäre ja ger­ne sel­ber dort – aber Wien ist weit.

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(Ergän­zun­gen, Fund­stü­cke und kri­ti­sche Anmer­kun­gen rich­ten Sie bit­te an [email protected]. Ich wer­de aus­brei­ten, was sich ansammelt.)

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Don­ners­tag, 31. Oktober

Heu­te ein Hin­weis, ein Zufalls­fund, also einer, nach dem man nicht suchte:

In Leip­zig sind Bil­der eines Malers zu sehen, der in Vech­ta gebo­ren wur­de, in Ber­lin lebt und Schü­ler von Georg Base­litz war. Frank Schä­pel (hier sei­ne Inter­net­sei­te) stellt noch bis zum 7. Novem­ber in der Gale­rie “Zen­tra­le Rand­er­schei­nung” in der Lud­wig­stra­ße aus.

Unter dem Titel “Rea­li­tä­ten” sind rund drei­ßig Gemäl­de ange­ord­net. Ich stieß vor gut andert­halb Jah­ren auf Schä­pel, als ich im Netz nach einer Illus­tra­ti­on für einen Bei­trag über die Kir­che “Not­re Dame” in Paris such­te. Er hat­te den bren­nen­den Dach­stuhl eines Turms gemalt, wie eine Fackel, groß­for­ma­tig, soweit ich das sehen konnte.

Ich schau­te mich in sei­nem Werk um, er kann wirk­lich malen und malt die Wirk­lich­keit. Das ist viel. Neu­lich schau­te ich erneut nach Schä­pels Arbei­ten, ange­sto­ßen durch mein Gespräch mit dem Maler Franz Ulrich Gött­li­cher – hier ein Link. Ich sah, daß er in Leip­zig aus­stell­te und fuhr die­ser Tage hin.

Ich kann den Besuch nur emp­feh­len. Das Werk ist eigen­ar­tig. Es ist in drei Räu­me auf­ge­teilt, his­to­risch, poli­tisch, reli­gi­ös. Die Hän­gung ist vom Künst­ler selbst. Sie hat mich sehr überzeugt.

Der Gale­rist Tho­mas Fie­big schreibt im Vor­wort zum Kata­log, Schä­pels Bil­der sei­en Moment­auf­nah­men rea­ler Ereig­nis­se. “Reli­giö­se Erschei­nun­gen, Ver­bre­chen im Migra­ti­ons­kon­text, Coro­na­po­li­tik und das Leid von Deut­schen im zwei­ten Welt­krieg sind nicht gera­de The­men, die gern und oft publi­ziert oder ander­wei­tig dar­ge­stellt wer­den.” Und wei­ter: “Der Künst­ler bezeich­net sei­ne Kunst selbst als Dokumentarmalerei.”

Ich ver­stand, nach­dem ich mir eine Stun­de Zeit genom­men und alles in Ruhe betrach­tet hat­te, Schä­pel als den Ver­tre­ter einer Wahr­neh­mungs­fä­hig­keit jen­seits jener “vor­ge­stanz­ten Guck­lö­cher”, vor denen Peter Hand­ke in sei­ner so immens wich­ti­gen Win­ter­li­chen Rei­se zu den Flüs­sen Donau, Save, Mora­wa, oder: Gerech­tig­keit für Ser­bi­en mehr als drin­gend gewarnt hat.

Schä­pel nimmt wahr, wie man auch wahr­neh­men kann. Er behaup­tet in und mit kei­nem sei­ner Bil­der, daß man nur so und nicht anders wahr­neh­men dür­fe. Er hängt neben den Sek­ten­selbst­mord in Jones­town ein Bild über das Son­nen­wun­der und die Mari­en­er­war­tung in Herolds­bach, 1949.

Man sieht also einen Lei­chen­tep­pich neben einer Hoff­nungs- und Neu­gier­men­ge, bei­de Gemäl­de schwarz­weiß und ein wenig pas­tel­lig, sel­be Grö­ße, die einen aus Wahn tot, die ande­ren  – was jetzt: auch ein wenig wahn­haft oder doch nur gläu­big und man­che auf ein Sen­sa­ti­ön­chen aus? Jeden­falls: stark.

Hier ist der Link zur Inter­net­sei­te der Gale­rie, ganz unten ist eine Tele­fon­num­mer ange­ge­ben, 0162 4359461, unter der man auch für außer­halb der Öff­nungs­zei­ten (Fr-Sa 15–19 Uhr) einen Ter­min ver­ein­ba­ren kann. Als ich anrief, hat­te ich Glück: Es waren sowie­so Besu­cher ange­kün­digt, ich konn­te mit rein­rut­schen. Viel­leicht kann man sogar erfra­gen, ob der Künst­ler noch ein­mal vor Ort sein wird. Ich hat­te da kein Glück.

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Gro­ße Freu­de berei­tet uns die Arbeit an unse­rer Lis­te der hun­dert Roma­ne, die wir auf die Jah­re von 1924 bis 2024 set­zen und der Lis­te ent­ge­gen­stel­len, die der SPIEGEL vor zwei Wochen ver­öf­fent­licht hat. Wir klim­per­ten die­se Lis­te im Rah­men des Pod­casts mit Chris­toph Berndt durch, in der letz­ten Vier­tel­stun­de, hier der Link zum Nachhören.

Leh­nert, Kositza, ein Lite­ra­tur­ex­per­te unter unse­ren Lesern und ich sind fast fer­tig mit der Zusam­men­stel­lung. Wir wer­den in vier Etap­pen ver­öf­fent­li­chen: von 1924 bis 1932, von 1933 bis 1945, von 1946 bis 1989 und von 1990 bis heu­te. Man­che Jah­re sind gera­de­zu über­frach­tet, ande­re dürr. Aber wir füll­ten jedes.

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(Ergän­zun­gen, Fund­stü­cke und kri­ti­sche Anmer­kun­gen rich­ten Sie bit­te an [email protected]. Ich wer­de aus­brei­ten, was sich ansammelt.)

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Sams­tag, 19.Oktober

Kositza und ich waren auf der Buch­mes­se in Frank­furt. Dort sind wir jedes Jahr für einen Tag, seit wir kei­nen eige­nen Stand mehr betreiben.

Nach den prä­gen­den Mes­sen von 2017 und 2018 (als wir mit weni­gen Qua­drat­me­tern die Bericht­erstat­tung domi­niert hat­ten) waren wir in eine Sack­gas­se abge­scho­ben wor­den – es lohn­te sich danach nicht mehr, nicht die Zeit, nicht das Geld, und vor allem paß­te es uns nicht, am Kat­zen­tisch gedul­det zu sein.

Über­haupt die­se Mes­se: Vor zwan­zig Jah­ren noch qualm­te man mit Gün­ter Maschke und Lorenz Jäger die Stän­de voll und ging in min­des­tens vier Hal­len auf zwei Ebe­nen durch Gas­sen vol­ler Leben. Über­all ver­hock­te Exis­ten­zen, die fürs Buch alles gaben, ob als Ver­le­ger, Autor, Buch­händ­ler oder Rezensent.

Aber jetzt? Mit Müh und Not sind es drei Stock­wer­ke, die Gän­ge zu breit, die Stän­de zu flä­chig, lau­ter Aus­stel­ler dabei, die nichts Ernst­haf­tes mit Büchern vor­ha­ben: Län­der­ver­tre­tun­gen, poli­ti­sche Insti­tu­tio­nen, die Bun­des­bank … Alles wirkt, als sei es egal und gehe sowie­so zu Ende.

Jeden­falls: Kositza hat­te sich bereits online akkre­di­tiert, ich selbst noch nicht, denn mei­ne Nei­gung, an staats­geld­ge­stütz­ten Stän­den ent­lang­zu­schlen­dern und staats­geld­ge­stütz­te Bücher “unab­hän­gi­ger” Ver­la­ge zu begut­ach­ten, hielt sich in Gren­zen. Aber man fährt dann doch los, um zu schau­en und viel­leicht doch etwas auf­zu­stö­bern, das man im Netz nicht fin­den würde.

Ankunft also, Gang zum Akkre­di­tie­rungs­schal­ter im Mes­se­turm, prä­pa­riert mit der jüngs­ten Sezes­si­on und dem Per­so­nal­aus­weis; aber wie der jun­ge Mann mei­nen Namen ein­tipp­te, plopp­te es auf, und das Gesicht vor dem Bild­schirm zeig­te den Aus­druck dis­kre­ter Panik.

Der Sach­be­ar­bei­ter am Nach­bar­bild­schirm wur­de im sel­ben Moment auf­merk­sam und unter­brach sei­ne Arbeit. Er trat hin­ter sei­nen Kol­le­gen, ein Blick, dann ver­schwand er in einem Räum­chen, um zu tele­fo­nie­ren. Man signa­li­sier­te mir, daß es einen Moment dau­ern kön­ne und daß man nun ande­re Anfra­gen bear­bei­ten werde.

Wie lan­ge dau­ert es, bis man begreift, daß es sich nicht um einen tech­ni­schen Vor­gang, son­dern um eine Maß­nah­me han­del­te, die es in den ver­gan­ge­nen Jah­ren nicht gab, jetzt aber schon? Als ich nach fünf Minu­ten frag­te, ob es Pro­ble­me gebe, sag­te man mir, daß ich eine von knapp zwan­zig Per­so­nen sei, deren Name auf einer “Watch-Lis­te” ste­he und über deren Zutritts­ge­neh­mi­gung zur Mes­se nun die Mes­se­lei­tung ent­schei­de. Dies kön­ne dauern.

Kositza zog los, ich war­te­te. Lei­der muß ich ein­ge­ste­hen, daß ich in sol­chen Lagen nicht zu den­je­ni­gen gehö­re, die sofort zu fil­men, zu kom­men­tie­ren und zu kon­fron­tie­ren begin­nen. Natür­lich hät­te man einen Skan­dal dar­aus machen kön­nen, und viel­leicht wäre es das bes­te gewe­sen, auf der Hacke umzu­dre­hen und kund­zu­tun, daß man sich ganz sicher nicht von jeman­dem auf eine spe­zi­el­le­re Wei­se über­prü­fen las­se, weil man eine Bücher­schau besu­chen wolle.

Und so lehnt man dann so läs­sig wie mög­lich (in mei­nem Fall also: null) an einer Säu­le und beob­ach­tet den Mit­ar­bei­ter dabei, wie er alle paar Minu­ten sein Han­dy checkt, um zu sehen, ob er mir eine Pres­se­kar­te aus­stel­len dür­fe oder nicht. Und ich sah ihm an (ich sah es ihm wirk­lich an), daß er mir eine Ableh­nung erst dann signa­li­sie­ren wür­de, wenn er zuvor ein paar Sicher­heits­leu­te her­an­ge­wun­ken hätte.

Aber dann ein erleich­ter­tes Win­ken: ich dür­fe. Rasch druck­te er aus, nahm mir sogar das Fal­ten auf die Scan­grö­ße für den Ein­laß ab, ent­schul­dig­te sich für die Umstän­de und über­hör­te mei­ne Fra­ge, ob man die­se Watch-Lis­te irgend­wo ein­se­hen kön­ne, also viel­leicht auch inof­fi­zi­ell. Nur dies sag­te er eben: Es sei­en knapp zwan­zig Namen.

Die Stun­den bis zum Abend: gedul­de­ter Gang. Erst am spä­ten Nach­mit­tag wur­den die Bücher wie­der inter­es­san­ter. Zuvor war alles über­la­gert von Gedan­ken und vom Ver­such, durch Zuhil­fe­nah­me einer jener belieb­ten Denk­fi­gu­ren mit der eige­nen Rol­le zurecht­zu­kom­men: Dadurch, daß die Lei­tung der Buch­mes­se über mei­ne blo­ße Anwe­sen­heit aus der Lage her­aus ent­schied, habe sie sich “zur Kennt­lich­keit ent­stellt” – wie zuvor schon die Thü­rin­ger Land­tags­ver­wal­tung, der Ver­fas­sungs­schutz und Spie­gel TV.

“Zur Kennt­lich­keit ent­stellt” – was für eine Phra­se! Als ob das irgend­ei­ne Sau inter­es­sier­te! Und es war ja dann auch so, als mir der Herr Ham­me­leh­le vom SPIEGEL über den Weg lief und frag­te, was ich denn auf der Buch­mes­se such­te. Ich sag­te, daß ich mir Autos anschau­en wol­le, was auch sonst, und ob er wis­se, wo es wel­che gebe. Dann erzähl­te ich ihm die Ein­laß-Geschich­te. Sei­ne Ant­wort war ent­waff­nend: Er gra­tu­lier­te mir, denn offen­sicht­lich hät­te ich es ja doch geschafft.

Ent­spann­ter kann man es nicht sehen, und es ist alles in Ord­nung. Aber zu gern wüß­te ich, wer sonst noch drauf­stand auf die­ser Liste.

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Mei­ne Schil­de­rung über die sonn­täg­li­che Heim­su­chung durch die drei Fra­ge­zei­chen von Spie­gel TV (sie­he unten, 10. Okto­ber) hat vie­le Leser amü­siert. Inter­es­sant ist, daß die­je­ni­gen, die ich seit drei­ßig und mehr Jah­ren ken­ne, das Gan­ze sar­kas­tisch lasen. So mein­te ich es auch. Hier das, was mir einer aus Wolf Bier­manns Sta­si-Bal­la­de schickte:

Mensch­lich fühl′ ich mich verbunden
Mit den armen Stasi-Hunden
Die bei Schnee und Regengüssen
Müh­sam auf mich ach­ten müssen
Die ein Mikro­phon einbauten
Um zu hören all die lauten
Lie­der, Wit­ze, lei­sen Flüche
Auf dem Klo und in der Küche
Brü­der von der Sicherheit
Ihr allein kennt all mein Leid

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Don­ners­tag, 10. Oktober

Am ver­gan­ge­nen Sonn­tag rief mich die Jüngs­te an die Tür. Es sei einer vom SPIEGEL da, der mich spre­chen wol­le. Es war gegen 10, man kam von der Früh­mes­se, man beginnt gera­de die aus­führ­li­chen, ruhi­ge­ren Brie­fe zu lesen und zu schrei­ben – und weiß genau, daß man dem Herrn vom SPIEGEL vor drei Tagen absa­gen ließ, genau­er: daß man nie zuge­sagt, son­dern ein Gespräch rund­weg abge­lehnt hat­te, und zwar mit deut­li­chen Worten.

Nun steht er unten vor der Haus­tür, also auf mei­nem Grund und Boden, zwi­schen den am Vor­tag geern­te­ten Hok­kai­do-Kür­bis­sen, die zum Trock­nen aus­lie­gen, und dem Wurf klei­ner Kat­zen, deren Neu­gier und Sorg­lo­sig­keit mit jedem Tag char­man­ter wird.

Man öff­net die Tür und hat gleich das Objek­tiv einer Kame­ra im Gesicht hän­gen, hört die Ham­pel­mann­fra­ge, die man noch nie beant­wor­tet hat – aber die Fra­ge­stel­ler wach­sen nach wie Ohren­haa­re: Wie groß der Ein­fluß auf die rechts­extre­me Sze­ne in Deutsch­land sei. Drei Mann hoch rück­ten die an, einer hält das gro­ße Mikro­fon, das immer so aus­sieht, als hät­te man eine graue Kat­ze ohne Kopf über ein Nudel­holz gezo­gen. Der größ­te stemmt die Kame­ra, der Zap­pel­phil­ipp stößt Wor­te aus.

Als ich mich hin­ter den Tür­rah­men zurück­zie­he, um der Auf­nah­me zu ent­ge­hen, stößt der Gro­ße nach und tritt um ein Haar auf eine Kat­ze, die geti­ger­te, die vor Neu­gier­de platzt und vom SPIEGEL noch nichts weiß.

Kame­ra aus, run­ter vom Hof, Anstand ler­nen, aber auch danach nicht wie­der­kom­men, vor allem nicht am Sonn­tag, und von Mon­tag bis Sams­tag schon gar nicht.

Zwei Stun­den spä­ter sind drei Anru­fe auf­ge­lau­fen: Man sehe Leu­te durchs Dorf streu­nen und jeden anquat­schen. Es ist halt wie immer. Aber als ich kurz vor Mit­tag mit den Mut­ter­zie­gen an der Lei­ne und den Dies­jäh­ri­gen in frei­er Freu­de über den Hof zur Wei­de zie­hen will, ste­hen die drei Fra­ge­zei­chen wie­der fil­mend an der Mau­er und has­peln über die Dorf­stra­ße hinterher.

Was mache ich mit den Kerls? Soll­te man coo­ler sein, Dop­pel­korn aus­schen­ken, schön rotz­frech dum­mes Zeug reden, unver­wert­ba­re Sül­ze? Kann ich nicht. Bin ich nicht. Das ist es näm­lich, in nuce: Die Haut ist NICHT dicker gewor­den, und mir macht die­ses Spiel kei­nen Spaß, ich bin nicht Krah und nicht Sellner.

Also dre­he ich um, zer­re die Zie­gen hin­ter mir her und beschimp­fe das Trio, das mitt­ler­wei­le die Stra­ße blo­ckiert. Mir rutscht dabei der Ver­gleich “wie die Schmeiß­flie­gen” her­aus, also, falls das mal online geht: Das ist kei­ne KI, so bin ich wirk­lich – WIRKLICH erzürnt über Typen, die am Sonn­tag Repor­ter spie­len und nicht wis­sen, daß selbst Rechts­extre­me einen Ruhe­tag sehr zu schät­zen wissen.

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Ges­tern lief im ZDF eine Doku­men­ta­ti­on über die Früh­pha­se der AfD. Hans-Olaf Hen­kel und Thi­lo Sar­ra­zin kom­men zu Wort, eben­so Köl­mel, Gen­te­le, Adam und noch ein paar, die nicht mehr mit­ma­chen, weil ihnen das, was kam, zu radi­kal wurde.

Ich kann mich nicht ent­schei­den, wer den grö­ße­ren Unfug erzählt, Hen­kel oder Sar­ra­zin. Der eine behaup­tet, Höcke habe deut­li­che Anklän­ge an den Natio­nal­so­zia­lis­mus, der ande­re zer­mürbt sich dar­über, daß man mit­ge­hol­fen habe, ein Mons­ter zu erschaf­fen, und nun wer­de man es nicht mehr los.

Mit­ten­drin Höcke und ich, mons­trös hin­ter Schreib­ti­schen und auf Tri­bü­nen. Jus­tus Ben­der von der FAZ darf uns deu­ten, er sitzt neu­tral und wie ein Kon­fir­mand mit Halb­glat­ze auf Stahl­rohr­mö­beln und weiß nicht recht. Ich mei­ne, man sieht ihm die Wun­de noch immer an, die wir ihm schlu­gen, als wir den Ver­kauf des Ver­lags Antai­os an einen Loki-Ver­lag vor­täusch­ten und dem spek­ta­kel­gei­len Ben­der die­se Sto­ry auf­ben­der­ten. Er brach­te sie brüh­warm zur Mes­se­er­öff­nung 2018 – und spür­te hilf­los über Stun­den, wie ihm die­se Brü­he unters Hemd rann …

Hin­ge­gen Mela­nie Amann, SPIEGEL: aus­ge­reift, bedeu­tungs­er­le­digt. Hier tut jemand so, als habe er ganz, ganz früh begrif­fen, wie per­fi­de es von mir war, dar­über nach­zu­den­ken, wie man die Lucke-Hen­kel-AfD kapern und auf rechts dre­hen könn­te. Sie hat­te das wahr­ge­nom­men und berich­tend nicht ver­hin­dern kön­nen. Der SPIEGEL – eine Platz­pa­tro­ne; Frau Amann – eine, die alles gab.

Wißt Ihr was? Ihr müßt damit leben, muß ich auch: Ihr damit, daß Ihr mit Eurer Medi­en­macht ein Mons­ter erschaf­fen habt, obwohl es nur um die sehr nahe­lie­gen­de und sehr nor­ma­le Ergän­zung des Par­tei­en­spek­trums ging; ich damit, daß, egal wer am Sonn­tag vor der Tür steht und Fra­gen stellt, am Ende immer das­sel­be her­aus­kommt – näm­lich etwas, das die­je­ni­gen, die in den kom­men­den Mona­ten kapie­ren wer­den, war­um es die AfD geben muß, davon abschre­cken soll, sie für nor­mal zu halten.

Es ist ein Thea­ter­stück, mehr nicht mehr. Es wird noch fünf­zig­mal gege­ben wer­den, die Rol­len sind ver­teilt, die Ver­se sim­pel, und es ist völ­lig egal, ob ich etwas umzu­schrei­ben oder noch ein­mal in ande­ren Wor­ten genau­er zu erklä­ren versuche.

Hier kann man sich den Film anschauen.

Es war übri­gens Nico­le Diek­mann, die mich davon zu über­zeu­gen ver­such­te, es wür­de dies­mal, für das ZDF, anders sein, ganz anders als sonst. In einer letz­ten Mail, die sie schrieb, um doch noch Auf­nah­men zu erwir­ken, unter­lief ihr ein Feh­ler. An ihrer Mail hing der Ver­lauf einer Kor­re­spon­denz mit Jan Loren­zen, der den Film mach­te und ver­ant­wor­tet. Das war aufschlußreich.

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Es gibt, ich wie­der­ho­le mich seit Mona­ten, die rüh­ren­de kon­ser­va­ti­ve Über­zeu­gung, die Rea­li­tät wer­de sich gegen die Ideo­lo­gie durch­set­zen. Ich hal­te die­se The­se für ein sehr fahr­läs­si­ges “Hän­de-in-den-Schoß”. Alle mei­ne Erfah­run­gen, gera­de auch die bei­den oben geschil­der­ten, ver­wei­sen auf das Gegenteil:

Die Pro­pa­gan­da ist gegen­über der Rea­li­tät sehr lan­ge und immer wie­der aufs Neue wirk­mäch­tig. Erzäh­lun­gen, Ver­dre­hun­gen, Lügen, vor allem Bil­der, Sze­nen, unter­ge­leg­te Musik kön­nen die Wahr­neh­mung der Rea­li­tät ver­ne­beln und ver­hin­dern oder die Schlüs­se, die zu zie­hen wären, blockieren.

Ich bin dem Sen­der Auf1 und sei­nem Kopf, Ste­fan Magnet, dank­bar, daß wir über die­ses The­ma aus­führ­lich spre­chen konn­ten. Das Video ist seit eini­gen Tagen ver­füg­bar – hier ist es. Gegen­öf­fent­lich­keit, Gegen­pro­pa­gan­da ist in ihrer Bedeu­tung kaum zu über­schät­zen. Die Bür­ger, Wäh­ler, Leser brau­chen eine zwei­te Erzählung.

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Don­ners­tag, 3. Oktober

Der 3. Okto­ber, der an den Fest­akt zur Ver­ei­ni­gung zwei­er deut­scher Teil­staa­ten erin­nern soll, wird gegen den 9. Novem­ber, den Tag des Mau­er­falls, emo­tio­nal immer den Kür­ze­ren ziehen.

Das liegt nicht nur dar­an, daß gelenk­te Freu­de gegen­über unge­zü­gel­ter Begeis­te­rung stets wirkt wie eine frei­wil­li­ge Über­ga­be neben einem auf­ge­ramm­ten Burgtor.

Es ist aber noch etwas ande­res: Am 3. Okto­ber schwan­te es den Bür­gern der DDR längst, daß von ihrer Art zu wirt­schaf­ten und zu gewich­ten kaum etwas übrig blei­ben wür­de. Und mehr: daß es dem Wes­ten wohl gestat­tet sei, dem Osten etwas vor­zu­ma­chen, und zwar im dop­pel­ten Wortsinne.

Es gibt mitt­ler­wei­le eine Rei­he erhel­len­der Bücher zum The­ma einer eigen­stän­di­gen und mehr und mehr selbst­be­wuß­ten Ost­iden­ti­tät. Von die­sem Selbst­be­wußt­sein konn­te am 3. Okto­ber 1990 kei­ne Rede sein. Ich ver­wei­se immer wie­der auf das Buch Das Licht, das erlosch von Ste­phen Hol­mes und Ivan Kras­tev. Die­ses wich­ti­ge Werk ist vor fünf Jah­ren erschie­nen, und sei­ne The­sen sind natür­lich längst wei­ter­ge­dacht wor­den. Zu nen­nen wäre Post­trau­ma­ti­sche Sou­ve­rä­ni­tät aus der Feder von Kuisz und Wigu­ra – ich habe es für die 121. Sezes­si­on rezensiert.

Man kann den Haupt­ge­dan­ken von Hol­mes und Kras­tev auf zwei Begrif­fe brin­gen: Aus der Nach­ah­mungs­be­geis­te­rung der­je­ni­gen, die für die Wen­de gestrit­ten hat­ten, wur­de nach rund andert­halb Jahr­zehn­ten ein Nach­ah­mungs­ver­bot – impli­zit aus­ge­spro­chen und expli­zit umge­setzt von den­je­ni­gen, die in den Län­dern des ehe­ma­li­gen Ost­blocks ver­blie­ben waren und nun dar­an gin­gen, für die­je­ni­gen Poli­tik zu machen, die sich Mühe gege­ben hat­ten und ent­täuscht wor­den waren.

Ich wer­de in einer Woche wie­der über Iden­ti­täts­fra­gen refe­rie­ren und dabei genau auf die­se Abläu­fe Bezug neh­men: wie also aus einer ehr­li­chen Nach­ah­mungs­be­geis­te­rung eine aus­sichts­lo­se Nach­ah­mungs­an­stren­gung, dann eine ers­te Nach­ah­mungs­skep­sis und ein mani­fes­ter Nach­ah­mungs­un­mut gewor­den sind, und wie das am Ende umschlug in eine Bestands­auf­nah­me des­sen, was die­je­ni­gen, die sys­tem-mora­lisch ohne eige­nes Ver­dienst in der Vor­hand waren, eigent­lich alles nicht begrif­fen haben – seit bald 35 Jah­ren nicht begriffen.

Aus die­ser Bestands­auf­nah­me lei­ten sich ein Ost­stolz, eine Ost­iden­ti­tät ab, die Leh­nert und ich lie­ber die Iden­ti­tät der deut­schen Mit­te nen­nen. Sie ist immer deut­li­cher wahr­nehm­bar. Sie ver­schaff­te sich zuletzt sicht­bar Aus­druck in den Ergeb­nis­sen der drei Land­tags­wah­len in Thü­rin­gen, Sach­sen und Brandenburg.

Als ich heu­te am Vor­mit­tag für eine hal­be Stun­de in der Lau­be eines Nach­barn saß, um für jedes Bein einen Vod­ka zu kip­pen, stie­ßen wir nicht auf die Wen­de an, son­dern auf “das jan­ze Deutsch­land” und auf “Hög­ge”. Alle stie­ßen an, kei­ner fand’s komisch, kei­ner hat Das Licht, das erlosch gele­sen, aber alle wis­sen sehr genau, was mit Nach­ah­mungs­un­mut gemeint ist und sagen ohne Fuß­no­ten das­sel­be, was die Autoren kom­pli­ziert aus­drü­cken: daß näm­lich das, was wir in den ver­gan­ge­nen Jah­ren beschert beka­men, nicht erhofft wur­de, als man die Mau­er ein­riß und sich dem Wes­ten anschloß.

Wer von der Arro­ganz, von der hier die Rede ist, das Neu­es­te ver­neh­men will, kann im Fol­gen­den bei Minu­te 11.45 ein­stei­gen und ein biß­chen zuhö­ren. Sol­che Reden sind für das ost‑, das mit­tel­deut­sche Gemüt gera­de­zu Identitätstorpedos:

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Frei­tag, 23. August

Ges­tern Abend war ich mit mei­nem Sohn im Land­tags­ge­bäu­de in Erfurt. Simon Kau­pert (Film­kunst­kol­lek­tiv) prä­sen­tier­te dort sei­nen Film über Björn Höcke. Er dau­ert 100 Minu­ten und trägt den Titel “Der lan­ge Anlauf”. Kau­pert, von dem Initia­ti­ve, Dreh­buch und Schnitt stam­men, durf­te Höcke andert­halb Jah­re lang beglei­ten und auf Archiv­ma­te­ri­al aus der Früh­zeit der AfD und von den Auf­trit­ten Höckes aus die­ser Zeit zugreifen.

Fünf Weg­ge­fähr­ten und poli­ti­sche Publi­zis­ten äußern sich inner­halb einer beson­de­ren Ver­suchs­an­ord­nung über Höcke als Per­sön­lich­keit und Poli­ti­ker, über den Weg der AfD und die Aus­ein­an­der­set­zun­gen um Höcke, über sei­ne Auf­ga­be und die Hoff­nung, die man mit ihm ver­knüpft. Zu Wort kom­men Dani­el Hasel­off (der in den Thü­rin­ger Land­tag ein­zie­hen wird), Bene­dikt Kai­ser, Ste­fan Möl­ler (Par­la­men­ta­ri­scher Geschäfts­füh­rer der AfD-Frak­ti­on in Thü­rin­gen), Robert Tes­ke (Büro­lei­ter Höckes) und ich selbst.

Die­se Stel­lung­nah­men, Erzäh­lun­gen und Ein­schät­zun­gen durch­zie­hen den Film als zwei­te von vier Erzähl­ebe­nen. (Die ers­te, die Grund­la­ge, bil­den natür­lich die Auf­nah­men, die Höcke als Poli­ti­ker, Red­ner, Mode­ra­tor, Den­ker zeigen.)

Die drit­te Ebe­ne besteht aus Annä­he­rungs­auf­nah­men am Kyff­häu­ser: Sie zei­gen den schla­fen­den Bar­ba­ros­sa und das aus dem Berg rei­ten­de Pferd mit Kai­ser Wil­helm im Sat­tel, und sie sug­ge­rie­ren, daß wir auf etwas war­ten könn­ten, näm­lich durch­aus auf “den Mann, der hilft” (Ste­fan George).

Das ist stim­mig: Kau­pert greift auf, was zugleich vie­le erwar­ten und etli­che ver­stört, wenn sie an Höcke den­ken. Robert Tes­ke bringt das gegen Ende des Films auf den Punkt, wenn er von der über­bor­den­den Heils­er­war­tung spricht, die Höcke ent­ge­gen­ge­bracht wird von Anhän­gern und Wäh­lern, und er berich­tet, wie wich­tig es sei, die­se Leu­te zu brem­sen und ihnen den Unter­schied zwi­schen Guru und Poli­ti­ker zu verdeutlichen.

Die­ses Rau­nen­de wird des­halb von einer vier­ten Ebe­ne abge­fan­gen und inter­pre­tiert: Wir sehen in meh­re­ren Abschnit­ten die Ent­ste­hung eines Ölge­mäl­des, das sehr zöger­lich, dann aber bestimmt ange­gan­gen und fer­tig­ge­stellt wird.

Kau­pert und sein Film­kunst­kol­lek­tiv hat­ten den Abend als Kino­abend insze­niert, mit Ein­tritts­kar­ten, Film­pla­ka­ten, mit Pop­corn und Geträn­ken, und es war wirk­lich gro­ßes Kino. Der Film strahlt in sei­ner Mach­art und allei­ne schon durch sein Vor­han­den­sein nach anstren­gen­den Mona­ten Selbst­be­wußt­sein aus.

Die Zugän­ge zu Par­tei­ta­gen, Bür­ger­dia­lo­gen und Vor­trä­gen sind aus der Per­spek­ti­ve der Mit­ar­bei­ter und Beglei­ter gefilmt, das Lau­te, Umring­te, Begeis­ter­te, Anstren­gen­de, Demü­ti­gen­de (in Hal­le, vor Gericht) und Pro­fes­sio­nel­le – das alles kommt ins Bild, und das ist eine beson­de­re Form des bild­li­chen Erzäh­lens, denn es gibt im Film kei­nen über­ge­ord­ne­ten Spre­cher, kei­nen Redak­teur. Und: Kaum je hat jemand Höcke bei der Arbeit im Gar­ten, am Holz, in sei­nem Büro und unter­wegs auf Feld­we­gen fil­men und zei­gen dürfen.

Höcke dank­te nach der Auf­füh­rung dem Fil­me­ma­cher Kau­pert, und ich will das ver­stär­ken: Kau­pert ist ein sel­te­ner Vogel. Er ver­fügt über die mitt­ler­wei­le rare Eigen­schaft der Begeis­te­rungs­fä­hig­keit für eine Sache, die aus der Idee zur Form fin­den muß und deren Ver­wirk­li­chung weit wich­ti­ger ist, als die Fra­ge danach, ob am Ende mate­ri­ell etwas dabei her­aus­springt. Kau­pert woll­te die­sen Film machen, punkt.

Ist der Film zu lang? Wel­che Rol­le spie­len die musi­ka­li­schen Unter­tö­ne? Ver­steht, wer nicht so eng dran ist an Höcke, wor­um es jeweils geht und war­um das nun wich­tig ist und zum Gesamt­bild gehört, das von die­sem Mann und Men­schen gezeich­net wird?

Ich sprach mit man­chem Zuschau­er über die­se Punk­te, hat­te den Film ja auch schon gese­hen, in einer vor­läu­fi­gen Fas­sung, und selbst man­ches ange­merkt. Und ich kann nur sagen: Schau­en Sie sich die­se Arbeit an, ganz, Details noch ein­mal, und dann notie­ren Sie bit­te, was Sie zu sagen haben, und schi­cken es mir zu: [email protected], denn ich will sam­meln und ord­nen und ver­öf­fent­li­chen, und zwar etwas von dem, das die­se Leis­tung wür­digt und aus der Distanz zu erken­nen glaubt, was man anders sieht, als ich es sah und aufschrieb.

Und Lob, Leu­te, Lob. Denn: Gab es so etwas schon ein­mal, so ganz ohne Staats­geld und fet­tes Team? Eben. Des­halb noch dies: Unter­stüt­zen kann man das Film­kunst­kol­lek­tiv, indem man pro­jekt­be­zo­gen über­weist oder – noch bes­ser – eine Dau­er­för­de­rung abschließt, also monat­lich einen Betrag über­weist. Für bei­des gibt es hier For­mu­la­re und Knöpf­chen. Und nun: Film ab!

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Mitt­woch, 14. August

Jetzt sit­zen wir alle vor den Bild­schir­men und ver­schaf­fen uns einen Über­blick zur Auf­he­bung des Com­pact-Ver­bots, nicht wahr? Wir sol­len fei­ern, schreibt Mar­tin Sell­ner. Er über­nimmt die­sen Auf­ruf von Jür­gen Elsäs­ser, dem Grün­der und Chef­re­dak­teur des Com­pact-Maga­zins, den man hier mit sei­ner Frau und einem sei­ner Mit­ar­bei­ter boden­stän­dig auf einem Sofa sit­zen sieht, froh dar­über, daß es nun zunächst wei­ter­ge­hen darf mit sei­nem Heft.

Elsäs­ser hat allen Grund, sich zu freu­en und sehr erleich­tert zu sein. Ver­mut­lich kann sich das Aus­maß die­ser Erleich­te­rung, die­ser Freu­de über die Mög­lich­keit, nun doch noch wei­ter­ma­chen zu dür­fen, nur der­je­ni­ge vor­stel­len, der eben­falls eine Zeit­schrift oder einen Ver­lag grün­de­te und ihn als Lebens­werk begreift und lebt.

Ich war in den ver­gan­ge­nen Wochen mehr als ver­är­gert über Stim­men aus unse­ren Rei­hen, die ihren Äuße­run­gen über die Aus­he­be­lung der Pres­se- und Mei­nungs­äu­ße­rungs­frei­heit eine Distan­zie­rungs­no­te vor­an­stell­ten. Ist es nicht genau das, was solch ein Ver­bot bezweck­te, unter ande­rem: die Sor­tie­rung der Sze­ne in fein­sin­nig und schmie­rig, dif­fe­ren­zier­ter und grö­ber durch die Sze­ne selbst?

Als ob nur das eine zu einem irgend­wie gear­te­ten Erfolg füh­ren kön­ne, sogar bes­ser ohne das ande­re! Als ob es einen Grund in Elsäs­sers Schreib- und Redak­ti­ons­wei­se gäbe, der ein Ver­bot recht­fer­ti­gen oder wenigs­tens nahe­le­gen würde!

Sym­bol­po­li­ti­sche Akte, Über­grif­fe, Straf­ak­tio­nen kön­nen zwar nicht jeden, aber doch nicht weni­ge von uns tref­fen. Daß in sol­chen Momen­ten vor­be­halts­lo­se Ver­tei­di­gung der eige­nen Linie die ein­zig rich­ti­ge Reak­ti­on sein muß, soll­te längst gelernt wor­den sein. Aber wir sahen und merk­ten uns, daß es so nicht war und ist.

Fei­ern also? Nein, Leu­te. Elsäs­ser soll fei­ern, er wird es mit einem Schau­er tun, der ihm über den Rücken läuft, wenn er dar­an denkt, was wäre, hät­te er das Eil­ver­fah­ren auf gan­zer Linie ver­lo­ren. Es ist doch eine die­ser Ent­we­der-oder-Lagen, in die man als älte­rer Herr nicht mehr kom­men möch­te: wei­ter­ma­chen dür­fen oder eben nicht. Also, fei­ert dort!

Wir fei­ern nicht, wir haben eine Gruß­nach­richt geschickt, und nun schau­en wir uns das Gan­ze an und den­ken dar­über nach. Eine ers­te juris­ti­sche Ein­schät­zung hat Alex­an­der Wal­l­asch auf sei­ner Sei­te ver­öf­fent­licht, und zwar von Ulrich Vos­ger­au, der zum Anwalts­team gehört. Vos­ger­au spricht von einem “ambi­va­len­ten Sieg”, was er dar­un­ter ver­steht und war­um ihn die Urteils­be­grün­dung des Ober­ver­wal­tungs­ge­richts über­rascht hat, kann man hier nach­le­sen.

Das hat alles sei­ne Berech­ti­gung und ist unter den gege­be­nen Umstän­den ein Maxi­mum. Aber es darf uns nicht dazu ver­lei­ten, den “Rechts­staat” zu fei­ern und in ihm einen Garant dafür zu sehen, daß letzt­lich doch alles nach demo­kra­ti­schen Spiel­re­geln und mit ein­klag­ba­rer Fair­neß ablaufe.

Es ist nicht so.

1. In Thü­rin­gen, Sach­sen und Bran­den­burg kämpft eine tap­fe­re Par­tei gegen die in Anschlag gebrach­ten Staats­mit­tel um jede Stim­me; der Ver­fas­sungs­schutz ist mit tau­sen­den Mit­ar­bei­tern zu einer Spit­ze­l­in­sti­tu­ti­on auf­ge­baut wor­den, die Ergeb­nis­se lie­fern muß. Alle Ein­stu­fun­gen, Mar­kie­run­gen, Infil­trie­run­gen und Ver­leum­dun­gen durch die­se Behör­de sind wei­ter­hin in Kraft, in Pla­nung, in vol­lem Gan­ge, sys­te­misch vor­ge­zeich­net. Dazu hat ja Mathi­as Brod­korb alles gesagt.

2. Nan­cy Fae­ser wird nicht zurück­tre­ten, sie wird im kom­men­den Jahr abge­wählt wer­den, das ist alles, was ihr wider­fah­ren wird. Sie wird nicht als Pfu­sche­rin, als anti­fa­schis­ti­sche Erfül­lungs­ge­hil­fin in die Geschich­te der BRD ein­ge­hen, son­dern gar nicht. Ein Nie­mand wird in Bio­gra­phien ein­ge­grif­fen und unter guten Leu­ten Ver­hee­run­gen ange­rich­tet haben, ohne jemals dafür zur Rechen­schaft gezo­gen wor­den zu sein. So ist unser gan­zer Staat: ein Para­de­bei­spiel für die Bana­li­tät der Funk­tio­nä­re, die selbst juris­ti­sche Klat­schen schul­ter­zu­ckend hin­neh­men und sich selbst nie infra­ge stellen.

3. Es bleibt auch nach dem Teil­sieg im Eil­ver­fah­ren die gru­se­li­ge Über­tra­gung des Ver­eins­rechts auf ein pri­va­tes Unter­neh­men. Das Gericht stell­te aus­drück­lich fest, daß es den Ver­eins­cha­rak­ter der GmbH Elsäs­sers eben­falls erken­ne. Eine sol­che Auf­fas­sung wäre, wenn sie im Haupt­sa­che­ver­fah­ren bestä­tigt wür­de, ein ähn­li­cher Damm­bruch wie die Bewer­tung des eth­ni­schen Volks­be­griffs als ver­fas­sungs­feind­li­che Meinung.

4. Und die gro­ßen Blät­ter und öffent­lich-recht­li­chen Häu­sern sind auf Fae­ser-Linie, immer noch. Erin­nern wir uns an das Jubel­ge­wit­ter, das sich ent­lud, als Fae­ser ver­kün­de­te, was die­se da alle erhofft hat­ten: end­lich ohne anstren­gen­den Argu­men­te ein­fach ver­bie­ten kön­nen! Nun geht es viel­leicht doch nicht so ein­fach, aber das führt nicht zu Beschei­den­heit, son­dern nur zu Unwil­len gegen­über den Stüm­pern, die das verbockten.

5. So auch die Poli­ti­ker, die nicht der AfD ange­hö­ren: Sie grei­fen die Teil­re­vi­si­on des Com­pact-Ver­bots auf, um Fae­ser zu kri­ti­sie­ren, aber natür­lich nicht, um die eben auf­ge­lis­te­ten, grund­sätz­li­chen Fra­gen zu stel­len. Ihnen geht es allein dar­um, daß man das, was man tat, ein­fach bes­ser hät­te abdich­ten sol­len. Fae­sers Dilet­tan­tis­mus habe dem Kampf gegen rechts einen Bären­dienst erwiesen.

Was also bleibt, wenn die Gruß­nach­richt an Elsäs­ser ver­schickt und sich das weni­ge an Genug­tu­ung ver­flüch­tigt hat? Es bleibt das mie­se Wis­sen dar­um, daß Män­ner und Frau­en, die für Deutsch­lands Zukunft um etwas bes­se­res kämp­fen als das, was gera­de und seit Jahr­zehn­ten regiert, jeder­zeit abhän­gig wer­den kön­nen von den Ent­schei­dun­gen eines Sys­tems, das in der Hand der Geg­ner ist.

(Schrieb ich Geg­ner? Noch immer Gegner?)

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Sonn­tag, 21. Juli

Wie schreibt man und was schreibt man, wenn alles gesagt ist? Wie führt man ein Tage­buch, wenn man des­we­gen nicht dazu kommt, weil man Brän­de aus­zu­tre­ten und sei­ne Sie­ben­sa­chen zu ord­nen hat, aus dem schlich­ten Grund, weil mor­gen die Uhr anders gestellt sein könnte?

Vie­le Zuschrif­ten und vie­le Gesprä­che, es waren auch Klug­schei­ßer dar­un­ter, und die Ant­wort, die mir ein hoher (also sehr hoher) Staats­be­am­ter auf mei­ne Fra­ge gab, die ich seit fünf Tagen stel­le, wenn ich Exper­ti­se erwar­te (näm­lich, ob es vor­stell­bar sei, daß auch wir ver­bo­ten wür­den), ist mein neu­er Lieb­lings­satz: “Was dach­ten Sie denn?”

Tja, dach­te ich da, ich dach­te mir das schon anders, damals, als wir mit­ten in der Nach­wen­de-Depres­si­on ein ehe­ma­li­ges Rit­ter­gut erwar­ben, das sonst kei­ner, also wirk­lich kei­ner haben woll­te, und mit der Reno­vie­rung und dem Auf­bau des Ver­lags, des Insti­tuts und der Zeit­schrift begannen.

Seit Diens­tag ver­gan­ge­ner Woche fech­ten nun die Juris­ten aus, ob Leu­te wie wir uns das hät­ten den­ken kön­nen, daß es nun so weit gekom­men sei mit der Ach­tung der Poli­tik vor dem Recht und vor allem vor dem Grün­dungs­my­thos der deut­schen Demo­kra­tie: der im Vor­märz erfoch­te­nen Pressefreiheit.

Ich ver­fol­ge die­se Fecht­übun­gen mit gro­ßem Nicht­ju­ris­ten­ver­stand, weil sie sich wie etwas exis­ten­ti­ell Inter­es­san­tes lesen. Unser Blog hat sich mit Tex­ten von Maxi­mi­li­an Krah direkt und von Thor v. Wald­stein grund­sätz­lich an die­sen Übun­gen beteiligt.

Das online-For­mat Frei­bur­ger Stan­dard hat umfas­send und nie­der­schmet­ternd auf Krah geant­wor­tet.

Mathi­as Brod­korb, Ver­fas­ser des so klu­gen, aber wahr­schein­lich wie­der­um wir­kungs­lo­sen Buches Gesin­nungs­po­li­zei im Rechts­staat? hat in der Ber­li­ner Zei­tung einer Poli­tik, die ihre Macht aus­spie­le, weil sie poli­tisch am Ende sei, ein sehr schlech­tes Zeug­nis aus­ge­stellt (hier lesen). Er schreibt als zum Publi­zis­ten gewor­de­ner ehe­ma­li­ger Minis­ter mit dem Unmut des­sen, der den Abbruch der Aus­ein­an­der­set­zung für falsch hält und der ein ande­res Kali­ber von Geg­ner wäre, wür­de er noch Poli­ti­ker sein.

Am Ende ist der inter­es­sier­te, exis­ten­ti­ell inter­es­sier­te Ver­le­ger nicht klü­ger als zuvor, schaut, daß er zurecht­kommt und zieht sich auf die Aus­gangs­the­se zurück, daß, wer im Com­pact-Ver­bot ein Pro­blem des Rechts­staats sehe, den Begriff des Poli­ti­schen verkenne.

Ansons­ten Gemüts­zu­stand daseins­ge­las­sen. Wenn ein­mal klar ist, daß kla­re Kri­te­ri­en nicht mehr vor­han­den sind, dann gilt der inne­re Kompaß. Haben wir uns etwas vor­zu­wer­fen? Aber nein!

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Der Vor­trag, den ich vor genau einer Woche zum Abschluß unse­res Som­mer­fes­tes hielt, ist auf You­Tube ver­füg­bar. Er wird in der Wahr­neh­mung zuge­spitzt auf die Aus­sa­ge, daß unser Volk ein Käl­te­bad drin­gend nötig habe und daß der Soli­da­ri­sche Patrio­tis­mus nur mit einem erzo­ge­nen, bis in die ein­fachs­ten Arbeits­be­rei­che hin­ein flei­ßi­gen Volk umzu­set­zen sei.

Ich bin ganz dafür, mit denen, die es nicht mehr aus eige­ner Kraft schaf­fen, soli­da­risch zu sein und ihr Lebens­not­wen­di­ges wür­dig abzu­si­chern. Jedoch ist die abschüs­si­ge Bahn bis dort­hin, wo es gar nicht mehr geht, eine ordent­lich lan­ge Strecke.

Thor v. Wald­stein notier­te in sei­nen oben bereits ver­link­ten The­sen zum Rechts­staat fol­gen­de Sätze:

Seit den 1960er Jah­ren wur­de die Idee des Rechts­staats all­mäh­lich über­la­gert durch das Dog­ma eines pater­na­lis­ti­schen Sozi­al­staats, des­sen Lebens­eli­xier dar­in besteht, den einen zu neh­men, um den ande­ren zu geben.

Die Herr­schaft eines sol­chen Umver­tei­lungs­staats grün­det dar­auf, einer in die Mil­lio­nen gehen­den Zahl von Ali­men­te­emp­fän­gern die Eigen­ver­ant­wor­tung für ihr Leben abzunehmen.

Wald­stein para­phra­siert Ernst Forsthoff:

Es gebe einen gefähr­li­chen Zusam­men­hang zwi­schen der Geber­lau­ne von „Vater Staat“ und des­sen Macht­a­van­cen gegen­über einer Schar von Kin­dern, von denen er sich wünscht, daß sie nie erwach­sen werden.

Die­ser Befund ist stim­mig für jeden, der wahr­neh­men kann und an einem Werk­tag wäh­rend der Arbeits­zeit in einer belie­bi­gen deut­schen Stadt eine Stre­cke mit der U‑Bahn fährt oder Ein­blick in die “Lebens­ent­wür­fe” in eini­gen belie­bi­gen Dör­fern nimmt. Auch Sta­tis­ti­ken rei­chen hin, natür­lich, bloß sind sie nicht so augen­schein­lich frech.

Ein erzo­ge­nes Volk hin­ter geschlos­se­nen Gren­zen kann soli­da­risch sein und eine Lebens­si­cher­heit ver­brei­ten, die der Traum von Gene­ra­tio­nen war. Ein in immer wei­te­ren Tei­len uner­zo­ge­nes Volk, das auf­grund offe­ner Gren­zen über­rannt wird, darf gar nichts mehr umver­tei­len. Es muß in ein Käl­te­bad, und die­ses Bad muß das ers­te sein, in das hin­ein­plumpst, wer den Schritt über die Gren­ze setzt. Ent­we­der – oder.

Indes: Der Vor­trag war viel mehr als nur die­se Debatte.

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In die­sem Zusam­men­hang will ich kurz auf James David Van­ce hin­wei­sen, den Trump vor ein paar Tagen zu sei­nem Kan­di­da­ten für das Amt des Vize­prä­si­den­ten ernannt hat. Ich las die längst welt­be­rühm­te Hill­bil­ly Ele­gie von Van­ce gleich nach ihrem Erschei­nen, 2016, rezen­sier­te sie aber nicht, seltsamerweise.

Ich erin­ne­re mich dun­kel, daß ich schon damals mit Bene­dikt Kai­ser über den Sozia­lis­mus und soli­dar­pa­trio­ti­sche Kon­zep­te sprach und in man­chem dezi­diert wider­sprach, immer aus der War­te des­sen her­aus, der das Wort “unter­pri­vi­le­giert” eben­so für eine Begriffs­ver­ne­be­lung hält wie “rela­ti­ve Armut”. Das hin­der­te uns bei­de nicht dar­an, den Soli­da­ri­schen Patrio­tis­mus als wirk­lich durch­dach­ten Ent­wurf bei Antai­os zu ver­öf­fent­li­chen – Bene­dikt als Autor, ich als Ver­le­ger und Lek­tor, der dadurch viel gelernt hat.

Ich rezen­sier­te Van­ce wohl nicht, weil ich Mate­ri­al sam­mel­te, um in einem gro­ßen Bei­trag vor den feh­len­den Grund­la­gen eines Soli­da­ri­schen Patrio­tis­mus zu war­nen. Ich schrieb die­sen Bei­trag nicht.

Van­ce: Er wuchs genau in die­ser Käl­te auf, die ich oben mei­ne und über die ich in mei­nem kur­zen Vor­trag sage, daß sie natür­lich eine har­te und unge­rech­te Sache sei, daß es aber anders wohl nicht mehr gehe. Van­ce, der buch­stäb­lich im Müll auf­wuchs, in Ver­hält­nis­sen, die in Deutsch­land so nicht vor­stell­bar sind, zog sich am eige­nen Schopf aus dem Sumpf.

Er absol­vier­te die har­te Schu­le des US Mari­ne Corps, stu­dier­te mit die­sem Schliff im Rücken und schloß in meh­re­ren Fächern ab. Neben­bei arbei­te­te er natür­lich, um sich das teu­re Stu­di­um über­haupt leis­ten zu kön­nen. Er ist Katho­lik, ist jetzt 39 Jah­re alt und ver­tritt die Über­zeu­gung, daß Här­te. Dis­zi­plin, Fleiß und der Ver­zicht auf die Gou­ver­nan­te Staat Män­ner und Frau­en zu selb­stän­di­gen, krea­ti­ven und hart arbei­ten­den Bür­gern mache, die sich eine Mün­dig­keit erlau­ben könn­ten, von der zyni­sche und infan­ti­le Sozi­al­hil­fe­emp­fän­ger und Gewerk­schafts­funk­tio­nä­re nur träu­men könnten.

Aber mehr: Van­ce ist, das ist auch mei­ne Mei­nung, der Auf­fas­sung, man müs­se die gigan­ti­sche Markt­macht der Super­kon­zer­ne beschrän­ken, müs­se sie zer­schla­gen, müs­se den klei­ne­ren und mitt­le­ren Selb­stän­di­gen zu Kon­kur­renz­fä­hig­keit ver­hel­fen und die Gemein­we­sen durch eine leben­di­ge Innen­stadt bele­ben und dafür sor­gen, daß das Geld wie­der inner­halb die­ser Struk­tu­ren zu krei­sen beginne.

In der Hill­bil­ly Ele­gie steht dar­über noch nichts, und natür­lich ist der Weg und die Lebens­leis­tung von Van­ce außer­ge­wöhn­lich. Aber es reich­te doch schon hin, wenn klar wäre: Jeder jun­ge Mensch hat eine Aus­bil­dung anzu­tre­ten und abzu­schlie­ßen, wenn er nicht ohne alles und für sehr lan­ge bei Papa und Mama unter­krie­chen woll­te. Denn nie­mand wür­de ihm sein fau­les Leben bezah­len. (Mitt­ler­wei­le ist auch ganz Süd-Sach­sen-Anhalt eine ein­zi­ge Markt- und Ausbildungslücke.)

Van­ce lesen (scheint aber der­zeit ver­grif­fen zu sein). Es den Jugend­li­chen zu lesen geben, dazu – als Kom­ple­men­tär­far­be – von Packer Die Abwick­lung. Das ist schon eine ande­re Stim­mung, wenn man in einem Land zurecht­zu­kom­men hat, das einem sehr wenig dabei hilft. Hier in Deutsch­land wars mal deut­lich bes­ser. Aber der Umweg über “Ame­ri­ka” muß wohl sein, wenn es wie­der deut­scher wer­den soll.

(Geor­ge Packer: Die Abwick­lung – hier bestel­len; Bene­dikt Kai­ser: Soli­da­ri­scher Patrio­tis­mus – hier bestel­len.)

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Diens­tag, 18. Juni

Der Prä­si­dent des Bun­des­amts für Ver­fas­sungs­schutz, Tho­mas Hal­den­wang, hat heu­te in einer Pres­se­kon­fe­renz bekannt­ge­ge­ben, daß der Ver­lag Antai­os nun vom Ver­dachts­fall zur gesi­chert rechts­extre­mis­ti­schen Bestre­bung her­auf­ge­stuft wor­den sei. Das hat mich über­rascht. Ich dach­te, wir sei­en das längst.

Jeden­falls kann nun der Dienst alles, was wir ver­le­gen, mit erwei­ter­ten nach­rich­ten­dienst­li­chen Mit­teln lesen und aus­wer­ten. Man wird auf noch mehr Palim­pses­te sto­ßen – und zuvor die­ses Wort nach­schla­gen müssen.

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In der ver­gan­ge­nen Woche war ich kaum Ver­le­ger. Zwi­schen den Tele­fon­ge­sprä­chen und Mails hier und da ein wenig Redak­ti­on und ein paar Ent­wür­fe – Freu­de sogar, über die 120. Sezes­si­on, die wie­der ein gutes Heft gewor­den ist, wie ich mei­ne; aber alles das lag wenig beach­tet auf mei­nem Schreib­tisch, hin­ter dem sit­zend ich her­aus­zu­fin­den ver­such­te, was eigent­lich gespielt würde.

Dies klingt dra­ma­tisch. Viel­leicht haben die­je­ni­gen unse­rer Leser und Freun­de recht, die sagen, daß die AfD am Ende nicht anders sei als jede Orga­ni­sa­ti­on, die sich aus­wach­se und ihre Rei­hen fül­le mit Leu­ten, die sich nicht mehr auf den Kampf um den ange­mes­se­nen Platz ihrer Par­tei, son­dern auf den Betrieb inner­halb ihrer Struk­tu­ren und ihre eige­ne Posi­ti­on dar­in konzentrierten.

Aber so ein­fach ist das nicht. Denn nichts davon, was in einer rei­fe­ren Par­tei geschieht, kann das erklä­ren, was in der Basis der AfD einen Schock aus­ge­löst und ihre Wäh­ler ver­är­gert hat, vor allem im Osten: näm­lich daß man am Tag nach einer gewon­ne­nen Wahl selbst dafür sorg­te, nicht mehr als Sie­ger, son­dern als ein in sich zer­ris­se­nes Pro­jekt The­ma zu sein.

Nie­mand kann nach­voll­zieh­bar erklä­ren, war­um sich die AfD-Dele­ga­ti­on bereits am Tag nach der Wahl grün­den muß­te und war­um man nicht abwar­ten woll­te. Man kann im EU-Par­la­ment Son­die­rungs­ge­sprä­che sowohl mit der ID-Frak­ti­on (aus der man gera­de geflo­gen war) als auch mit klei­ne­ren Par­tei­en über eine eige­ne Frak­ti­on füh­ren, ohne schon als Dele­ga­ti­on auf­zu­tre­ten, wochenlang.

War­um dräng­te Hans Neu­hoff auf die Grün­dung der Dele­ga­ti­on? War­um dräng­te er dar­auf, Maxi­mi­li­an Krah unmit­tel­bar danach aus die­ser Dele­ga­ti­on aus­zu­schlie­ßen? War­um ließ man es auf eine “gehei­me” Abstim­mung ankom­men, nach­dem Krah mit­ge­teilt hat­te, daß er frei­wil­lig nicht aus­tre­ten wer­de? War­um sprach die Bun­des­füh­rung nicht spä­tes­tens dann ein Macht­wort – ganz sim­pel mit dem Ver­weis dar­auf, daß der Osten in drei Bun­des­län­dern voll­stän­dig, in den bei­den ande­ren fast flä­chen­de­ckend die AfD zur stärks­ten Kraft gewählt habe, gegen den geball­ten, schä­bi­gen, skru­pel­lo­sen Wider­stand der ande­ren Par­tei­en und der von ihnen erbeu­te­ten und ein­ge­setz­ten Staatsmittel.

Es ist völ­lig uner­heb­lich, ob man Krah mag oder nicht. Es ist völ­lig egal, ob man gegen­über dem Ver­fas­sungs­schutz Erfül­lungs­po­li­tik betrei­ben oder über ihn in schal­len­des Geläch­ter aus­bre­chen will. Und es spielt kei­ne Rol­le, ob der Wes­ten den Osten in jeder Lage ver­steht oder nicht: die poli­ti­sche Lage, die Gefechts­la­ge, die (pro­fes­sio­nell aus­ge­drückt) Situa­ti­on der “Mar­ke AfD” leg­te so glas­klar und banal ein ande­res Ver­hal­ten nahe, daß ich für das, was seit Mona­ten falsch gemacht wird, das rich­ti­ge Wort nicht finde.

Ein Scher­ben­hau­fen. Natür­lich wirkt das Bild der Spit­zen aus den Ost­ver­bän­den, die sich am Sams­tag tra­fen, beru­hi­gend. Bloß: das Momen­tum war der Mon­tag, und Auf­räum­ar­bei­ten oder ein Grup­pen­bild vor zer­schla­ge­nem Por­zel­lan ist nichts, was zieht. Es kit­tet, es beru­higt, mehr nicht.

Es ste­hen drei Ost­wah­len an. Sie sind wich­ti­ger als die Wahl zum EU-Par­la­ment. Aber die heu­ti­ge Umfra­ge aus Thü­rin­gen zeigt, wie sehr die ver­meint­li­che Alter­na­ti­ve zur Alter­na­ti­ve zu zie­hen beginnt: zwar 28 Pro­zent für die AfD, aber schon 21 für das BSW und noch immer 23 für die CDU.

Strahlt nicht der MDR genau jetzt einen sechs­tei­li­gen Pod­cast über den Kampf Sahra Wagen­knechts aus, über ihren tap­fe­ren Wer­de­gang, ihre Intel­li­genz, “Trotz und Treue”, Ost­ver­ste­he­rin? Und ihre Aus­grün­dung? Unzer­strit­ten, unzer­schos­sen, nicht ver­narbt, nicht – müde?

Ich zitier­te wie­der­holt den PR-Bera­ter, der ganz aus der Sicht der Mar­ken­tech­nik (nicht zu ver­wech­seln mit “Mar­ke­ting”) ana­ly­siert, ob die AfD das, was die welt­weit auf höchs­tem Niveau agie­ren­de PR längst über die mensch­li­che Psy­che und das pro­pa­gan­dis­ti­sche Hand­werk weiß, ver­stan­den hat oder nicht. Sei­ne Bilanz ist für die Par­tei ver­hee­rend: Sie weiß mit sich selbst nicht umzu­ge­hen. Er notierte:

Das, was sich am Wahl­sonn­tag im Osten ereig­ne­te, geschah, obwohl die AfD schwach geführt wird und als Orga­ni­sa­ti­on nicht zusam­men­steht. Man schnitt, mar­gi­na­li­sier­te, beschwieg ohne Not den Mann, der an der Spit­ze des Wahl­kampfs stand. Man signa­li­sier­te Unsi­cher­heit, sand­te das Signal aus, man wis­se selbst nicht genau, ob man die­je­ni­ge Kraft sei, die wis­se, was sie wolle.

So etwas wirkt ver­hee­rend. Denn ob man Krah mag oder nicht, ob man die Spit­zen­kan­di­da­tur im Nach­hin­ein für einen Feh­ler hält: alles egal. Für die Mas­sen­psy­che zählt nur, ob man sie unter­hält und beein­druckt, ob man ihr vor-logisch mit­teilt, dass man es anders und bes­ser kön­ne als die Kon­kur­renz – in unse­rem Fall also die­je­ni­gen, die das Land ruinieren.

Steil­vor­la­ge nach Steil­vor­la­ge, in gan­zen Regio­nen wir­ken die Pro­pa­gan­da­mit­tel der Gegen­sei­te nicht mehr. Um wie­viel grö­ßer und sta­bi­ler hät­te der Schritt wer­den kön­nen mit erwach­se­nem Ver­hal­ten der Par­tei und sau­be­rer Koor­di­na­ti­on! Das muss die kri­ti­sche, die zen­tra­le The­se sein. Und die Fra­ge lau­tet natür­lich: Ist den Par­tei­spit­zen klar, was sie anrichten?

Auf die­se Fra­ge habe ich auch nach einer guten Woche, einer schlech­ten, zer­re­de­ten, unehr­li­chen Woche kei­ne Ant­wort. Denn mit dem jeweils klei­nen Ich ist das, was geschah und geschieht, nicht zu erklä­ren. Womit aber dann? Ver­mut­lich muß die Fra­ge nach dem cui bono der Zer­set­zungs­ten­denz von Innen mit mehr Phan­ta­sie gestellt werden.

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Pfingst­sonn­tag, 19. Mai

Mor­gen, am Mon­tag, den 20. Mai, bin ich als Red­ner bei Pegi­da vor­ge­se­hen. Ich weiß gar nicht mehr, wann ich zum letz­ten Mal in der Öffent­lich­keit eine Rede hielt. Es ist Jah­re her. Die Grün­de dafür sind vielfältig.

Der wich­tigs­te ist, daß ich den Popu­lis­mus und das Res­sen­ti­ment nicht mag. Bei­des ist not­wen­dig, aber es ist nicht das Geschäft eines Ver­le­gers anspruchs­vol­ler Bücher. Ich pro­bier­te das aus, als Pegi­da zu lau­fen begann, wir waren wirk­lich Mon­tag für Mon­tag dort, oft mit der gan­zen Fami­lie. Ich sprach bei Legi­da und bei Pegi­da, und immer war es so, daß ich eines zu ver­mit­teln versuchte:

Es gibt wuch­ti­ge, klas­si­sche, lite­ra­ri­sche Bil­der und Meta­phern für das, was uns wider­fährt und zuge­mu­tet wird. Und zwei­tens: Wir müs­sen bes­ser sein als die ande­ren, nicht lau­ter, son­dern besser.

Mor­gen also wie­der, nach lan­ger Zeit, um 18.30 Uhr auf dem Neu­markt in Dres­den, vor der Frau­en­kir­che. Wür­de mich freu­en, den ein oder ande­ren Leser aus der Umge­bung zu sehen.

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Anony­mi­tät und Radi­ka­li­tät gehen oft Hand in Hand. Wir hat­ten in der 39. Fol­ge unse­res Pod­casts “Am Rand der Gesell­schaft” die Influen­cer “Char­lot­te Corday” und “Shlo­mo” zu Gast. Bei­de ver­ber­gen ihre Iden­ti­tät hin­ter Pseud­ony­men, aber in unter­schied­li­cher Stu­fung: Wäh­rend Corday ihr Gesicht zeigt, aber unter Künst­ler­na­men agiert, influenct Shlo­mo ganz im Ver­bor­ge­nen: Kaum jemand weiß, wie er aussieht.

Im Pod­cast ant­wor­te­te er auf Ellen Kositz­as Fra­ge, war­um er das so hand­ha­be, mit einem Kata­log von Koran­schän­dun­gen, die er aus­ge­führt habe und für die er  – wohl­weis­lich damals schon hin­ter fal­schem Namen und Mas­ke ver­bor­gen – dut­zend­fach mit dem Tode bedroht wor­den sei. Ich selbst war so per­plex über die­se Aus­kunft, daß es mir tat­säch­lich die Spra­che ver­schlug. Dann lei­te­te ich zu einem ande­ren The­ma über.

Mein Stand­punkt ist natür­lich der­je­ni­ge, daß es in jedem Fal­le geschmack­los und unstatt­haft sei, das hei­li­ge Buch egal wel­cher Glau­bens­aus­rich­tung zu schän­den. Es ist – im Fal­le des Korans – einer Mil­li­ar­de Men­schen Grund­la­ge ihres Glau­bens. Die­ses Buch mag für uns völ­lig unin­ter­es­sant und als reli­giö­se Offen­ba­rung irrele­vant sein, es mag ver­hee­ren­de Fol­gen bei sei­nen Lesern aus­lö­sen und die Grund­la­ge der Unter­drü­ckung und der Unter­wer­fungs­for­de­rung sein, die in Sie­ben­mei­len­stie­feln auf uns zusprin­gen. Aber es ist das Buch einer Glaubensgemeinschaft.

Daß ich das im Pod­cast nicht klar­stell­te, liegt an einem Wahr­neh­mungs­li­be­ra­lis­mus, der sich etwa auf einen Ernst Jün­ger zuge­schrie­be­nen, lapi­da­ren Satz stützt: “Dies alles gibt es also.” Im Gespräch die Per­son sich aus­brei­ten, sich ganz zei­gen las­sen – das ist der Ansatz. er taugt nicht für Poli­ti­ker, und beklei­de­te ich in der AfD ein hohes Amt oder säße auf einem wich­ti­gen Man­dat, hät­te das Dos­sier über mich nun eine Sei­te mehr. Aber ich bin Ver­le­ger und Publi­zist und neh­me zunächst wirk­lich erst ein­mal wahr.

Erik Leh­nert, mit dem ich über die Fra­ge tele­fo­nier­te, ist da stren­ger als ich. Er hält Pseud­ony­me und Stim­men aus dem Off für Aus­schluß­kri­te­ri­en, wenn es um Gesprä­che für die Öffent­lich­keit geht. Wor­an liegt es, daß wir nie ent­gleis­ten, daß wir kei­ne Lei­chen im Kel­ler haben und noch immer jeden Satz, den wir äußer­ten, unter­schrei­ben können?

Es liegt auch dar­an, daß der­je­ni­ge, der mit Namen und Gesicht kämpft und nicht in die Anony­mi­tät zurück­tau­chen kann, sehr genau sei­ne lin­ke und sei­ne rech­te Gren­ze kennt. Und anders her­um: Wer die­se Gren­zen kennt, mag kei­nen Grund mehr sehen, sich nicht ganz zu zei­gen und sei­nen Namen darunterzuschreiben.

Im Pod­cast, der ein wirk­lich gutes Gespräch mit den bei­den Influen­cern prä­sen­tiert, füllt die kras­se Shlo­mo-Erklä­rung eine knap­pe Minu­te. Sie prägt den Aus­tausch nicht, aber sie ist ein beson­de­rer Moment und ver­lang­te nach die­sem Nach­trag. Hier ist der Podcast:

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Allen freu­di­ge Pfingst­ta­ge! Der Geist ist unser Beglei­ter, er ist Maß­stab, Auf­trag und stif­tet Mut.

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(Ergän­zun­gen, Fund­stü­cke und kri­ti­sche Anmer­kun­gen rich­ten Sie bit­te an [email protected]. Ich wer­de aus­brei­ten, was sich ansammelt.)

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Diens­tag, 30. April

Vor gut zwei Mona­ten beglei­te­te ich einen Mos­lem zum Frei­tags­ge­bet. Ich hat­te ihn im Zug ken­nen­ge­lernt, er las ein Buch, ich las ein Buch, er kann­te mein Buch und sprach mich an.

Ich beglei­te­te ihn, weil ich erle­ben woll­te, wie es sei, wenn sich ent­wur­zel­te Män­ner tref­fen, um eine der Wur­zeln zu gie­ßen, die sie mit sich tra­gen und die in der Frem­de ent­we­der Halt zu bie­ten ver­mag oder vertrocknet.

Ich traf zur ange­ge­be­nen Zeit am bezeich­ne­ten Ort ein, also kurz nach Mit­tag vor dem Kul­tur­zen­trum des Stadt­teils. Ein gro­ßer Raum dar­in, Mehr­zweck, mit nied­ri­ger Decke und Spros­sen­wän­den, ver­schieb­ba­ren Raum­tei­lern und fadem Lin­ole­um – wir wür­den ihn als Ver­lag, als Sze­ne nie und nim­mer anmie­ten kön­nen, um dar­in eine Buch­mes­se zu ver­an­stal­ten oder ein Fest. Die Mos­lems aber besit­zen einen Ver­trag bis Ende des Jah­res, Frei­tag für Frei­tag, stets für einen hal­ben Tag.

Mah­mud ent­deck­te und begrüß­te mich, es war die typi­sche Ges­te: Er griff mit bei­den Hän­den nach mei­ner rech­ten Hand und hat­te zuvor bei­de Hand­flä­chen kurz an sei­ne Brust gedrückt. Wir betra­ten die fla­che Hal­le. Im Vor­raum hun­der­te paar Schu­he. Ich ließ mei­ne an und rück­te einen Stuhl ganz nach hin­ten an die Wand, setz­te mich und schau­te zu, wie Män­ner, kei­ne Frau­en, nur Män­ner in die Hal­le drängten.

Es waren vor allem jun­ge Män­ner, und es waren Män­ner aus aller Her­ren Län­der: vie­le Ara­ber, vie­le Syrer und Afgha­nen, manch­mal Brü­der, das sah man, weni­ge älte­re Väter mit ihren Söh­nen; klei­ne stäm­mi­ge Tsche­tsche­nen, mage­re schwar­ze Rie­sen unter Tuch, Tschad, Mau­re­ta­ni­en, Hir­ten­au­ra jeden­falls, und ganz sicher noch nicht “ange­kom­men” wie die Tür­ken und Alba­ner, die in Trai­nings­ho­sen erschie­nen, alle vom sel­ben Bar­bier ent­las­sen, ölig, à la Neu­kölln, irgend­wie längst im Geschäft.

Alle Stüh­le waren zusam­men­ge­scho­ben und weg­ge­sta­pelt, denn es wur­den Tep­pi­che ent­rollt, Tep­pi­che in allen Far­ben und Grö­ßen, längs, quer, auch Iso­mat­ten und Ret­tungs­de­cken, Haupt­sa­che irgend­et­was, nie der nack­te Boden. Ich nahm wahr, wie Unter­la­gen gedreht wur­den, damit der Nach­bar Platz dar­auf fand. Ein­la­den­de Zei­chen, aber auch schon inne­re Samm­lung bei man­chem, der Vor­ge­be­te ver­rich­te­te und sich vom Gerü­cke und Gere­de nicht stö­ren ließ.

Die Rei­hen rück­ten auf mich zu, der Raum füll­te sich. Ich wur­de gemus­tert und begrüßt, man bot mir Platz auf einem Tep­pich an, aber ich ver­wies stumm auf mei­nen Stuhl und blieb auch dann sit­zen, als ein Vor­sän­ger anstimm­te, das Gemur­mel ver­stumm­te und die Beter sich aus­rich­te­ten, mit Bli­cken nach links und rechts und letz­tem Geruckel.

Der Sän­ger kam zum Ende. Neben ihm erhob sich ein noch recht jun­ger Mann und setz­te an. Die Stim­me war die eines Offi­ziers: klar, selbst­be­wußt, auch in den Pau­sen, über­legt und über­le­gen, beglei­tet von spar­sa­mer Gestik.

Anru­fun­gen, Ver­beu­gun­gen aus knie­en­der Hal­tung her­aus, vor­ge­beugt ver­har­rend, dann Ent­span­nung und Pre­digt. Das war kei­ne Kon­takt­auf­nah­me mit nach­auf­klä­re­ri­schen Glau­bens­skep­ti­kern, kein Abho­len, kei­ne lit­ur­gi­sche Gefäl­lig­keit. Es war ord­nen­der Ton, Glau­bens­auf­for­de­rung und eine Ansa­ge, ein war­mes und ver­bind­li­ches, befeh­len­des und ver­spre­chen­des Arabisch.

Ich ver­stand natür­lich kein Wort und wan­der­te ab, dach­te zurück an den Got­tes­dienst, in dem wir neu­lich waren: der Pries­ter als Erklär­bär, ohne Auto­ri­tät, unsi­cher, fast ver­le­gen über die alten Riten; viel Ich, viel absur­des Lied­gut, Unver­bind­lich­keit und ein mit alter, gebro­che­ner, schwa­cher Hand ange­setz­ter Leber­ha­ken gegen rechts, der mir nicht weh­tat, mir aber alles ver­gäll­te, was hät­te sein sol­len: Ver­ti­ka­li­tät, sakra­ler Raum, Gottesdienst.

Dann war das Frei­tags­ge­bet zuen­de. Ich habe so etwas unter Chris­ten noch nie erlebt. Mah­mud hol­te mich ab. Die Män­ner stan­den in Grup­pen vor dem Kul­tur­zen­trum, die nächs­ten zwei­hun­dert, drei­hun­dert jun­gen Män­ner dräng­ten in den Saal, mit­ten in einer ost­deut­schen Stadt, alle bereit, an einem Frei­tag­nach­mit­tag sich auszurichten.

War­um sind das so vie­le? – Ganz klar, sag­te Mah­mud, weil der Glau­be wich­tig ist und weil er uns alle ver­bin­det. – Ist das stär­ker als in der Hei­mat? – Auf jeden Fall, vor allem jetzt, wo wir uns durch­set­zen müs­sen. – Gegen wen? – Gegen das, was Euer Sys­tem aus uns machen will. – Was will es denn aus Euch machen? – Kein Glau­be, Kon­sum, Alko­hol, kein Respekt, kei­ne Ehre, nur Ame­ri­ka und die Juden und schwa­che Men­schen, über­all. – Aber das ist unser Land, das ist unse­re Geschich­te, wir sind so gewor­den, wir waren anders, wir haben här­ter gekämpft als Ihr je. – Dann kämp­fe wie­der. Aber glaub mir: kei­ne Chance.

(Unter den drei­hun­dert jun­gen Män­nern der ers­ten Gebets­schicht waren viel­leicht zwan­zig, drei­ßig deut­sche Kon­ver­ti­ten. Man erkann­te sie an den Genen, am Phä­no­typ, am Ver­such, alles so zu machen, wie es im Buche steht. Sie sind wohl zum ers­ten Mal in ihrem Leben unter Män­nern, nur unter Män­nern, klar aus­ge­rich­tet, ein­ge­mein­det, beauftragt.

Ich bin mir sicher: Wir lau­fen in die­sem Bereich auf eine Kata­stro­phe zu, auf einen Kon­ver­si­ons­druck, der auf die Bereit­schaft eines Teils unse­rer Leu­te trifft, das Ange­bot der Unter­ord­nung, der Unter­wer­fung anzu­neh­men. Denn es gibt Män­ner, jun­ge Män­ner, die vor allem unter Män­nern sein wol­len, in star­ken Grup­pen, im Ein­satz. Wenn dage­gen kein Kraut wächst, ver­lie­ren wir sie.)

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Diens­tag, 16. April

Der Umzugs­un­ter­neh­mer Sven Ebert hat in der Nacht auf den gest­ri­gen Mon­tag durch einen Brand­an­schlag Tei­le sei­nes Fuhr­parks ver­lo­ren. Ebert sitzt für die AfD im Gemein­de­rat von Schko­pau, sei­ne Fir­ma war in den ver­gan­ge­nen Jah­ren immer wie­der mit Farb­beu­teln und Schmie­re­rei­en atta­ckiert worden.

Nun muß Ebert den Scha­den auf meh­re­re hun­dert­tau­send Euro bezif­fern, und damit gehört die­ser Anschlag zu den grö­ße­ren, die bis­her gegen AfD-Poli­ti­ker, Unter­stüt­zer und Akteu­re der natio­na­len Oppo­si­ti­on ver­übt wurden.

Das schreibt sich so. Aber was bedeu­tet das eigent­lich? Es bedeu­tet, daß es kei­nen Schutz gibt, kei­ne abschre­cken­den Maß­nah­men, die “der Staat” ergrei­fen wür­de. Er könn­te es. Jedoch spre­chen die Signa­le, die er aus­sen­det, eine ande­re Sprache.

Sven Ebert: Er wohnt eine gute hal­be Stun­de ent­fernt von uns am Stadt­rand von Hal­le in Hohen­schön­wei­den. Sein Haus ist der Land­sitz eines Schot­ten: Ebert hat vor zwei Jahr­zehn­ten einen eige­nen Clan gegrün­det, tritt im Kilt auf, ser­viert Whis­ky, bläst die Lure und war als Ver­an­stal­ter der High­land-Games in Hal­le eine Größe.

Alles an Ebert ist sta­bil, schwer, kräf­tig, begeis­ter­tes Machen und nicht ohne Selbst­iro­nie. Er ist ein Allein­un­ter­hal­ter, eine exzen­tri­sche Figur, der früh­ver­greis­ten Man­dats­trä­ger­ver­nunft sei­ner eige­nen Par­tei unheim­lich oder pein­lich oder bei­des. Sei­ne Meta­phern und Wort­sal­ven sind unge­schützt, direkt, manch­mal schief, immer laut, immer von Her­zen. Als Unter­neh­mer ist er ein extrem erfolg­rei­cher Stratege.

Wir lern­ten ihn ken­nen, als er in Hal­le Pla­kat­wän­de mit dem Kon­ter­fei Pirinccis und dem Cover von des­sen Best­sel­ler Umvol­kung voll­häng­te und für Lesun­gen warb. Damals war Ebert noch Mit­glied der grü­nen Par­tei, ein Urgrü­ner – einer also, des­sen Grill­fleisch von wirk­lich glück­li­chen Tie­ren stammt und bis auf die letz­te Gabel ver­zehrt wer­den muß, wenn man bei ihm am Tische sitzt.

Ebert orga­ni­sier­te hoch­ka­rä­ti­ge Lesun­gen und Dis­kus­sio­nen, Pat­z­elt war bei ihm, vol­les Haus, offe­ne Gesprä­che, und immer ein groß­zü­gi­ges Buf­fet und Geträn­ke und ein schot­ti­scher Ausklang.

Bären­kraft, Mut, kein Mann für Frak­ti­ons­zwän­ge und Netz­wer­ker-Net­tig­kei­ten, offe­nes Visier, Klar­na­me, gan­zer Ein­satz: Und so einem fackeln die den Fuhr­park ab. Das ist ja noch nicht ein­mal Rot­front oder SA. Das sind klei­ne, fei­ge, anony­me Arschlöcher.

Ebert hat­te von denen mal ein paar erwischt, die gera­de dabei waren, AfD-Pla­ka­te zu zer­stö­ren. Er hat mit denen noch nicht ein­mal High­land-Games ver­an­stal­tet, also Baum­stamm­wer­fen oder so, bloß gestellt hat er sie, bis die Büt­tel kamen. Aber ange­zeigt wur­de natür­lich er.

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Wo wir gera­de bei der Anony­mi­tät sind: Nach Höckes Fern­seh­du­ell gegen sei­nen CDU-Her­aus­for­de­rer Voigt war gleich das Netz voll mit Bewer­tun­gen, Ana­ly­sen und Kri­tik – letz­te­re auch von rechts, letz­te­re fast immer mit spre­chen­den, also eit­len Pseud­ony­men, die das natür­lich alles bes­ser gemacht hät­ten, weil sie es bes­ser wis­sen, immer.

Bloß: Bescheid­wis­se­rei ist noch kein Machen. Die Ver­suchs­an­ord­nung war also folgende:

  1. Höcke gegen Voigt, zwei Mode­ra­to­ren, also Höcke gegen Voigt und zwei Moderatoren;
  2. hän­gen­de Ver­fah­ren, also Sor­ge, wie­der ein Wort zu sagen, eine Wen­dung zu ver­wen­den, aus denen man Stri­cke dre­hen könnte;
  3. über­haupt: der Nacken­griff der Demo­kra­tie – die­ses ver­schwie­mel­te Sug­ge­rie­ren, Unter­stel­len, Verdächtigen;
  4. ein Mil­lio­nen­pu­bli­kum, das mit den Pro­pa­gan­da­mit­teln einer anti­deut­schen Staats­idee beharkt wer­den wür­de, wäh­rend­des­sen und danach.
  5. der Druck, die­se Show und Chan­ce zu verhauen;
  6. wis­sen, daß man hin­ter­her “kom­men­tiert” wird, daß man der Gesell­schaft des Spek­ta­kels eine Show lie­fer­te, lie­fern mußte.

Sich in eine sol­che Situa­ti­on zu stel­len – das macht nicht jeder, das besteht längst nicht jeder. Höcke muß das alles machen, er muß bestehen, denn Poli­tik ist Zehn­kampf, für Spit­zen­po­li­ti­ker befoh­le­ner Zehn­kampf, sozu­sa­gen. Egal, ob man hier Stär­ken und dort Schwä­chen hat: Zehn­kämp­fer kön­nen kei­ne ein­zi­ge Dis­zi­plin abwäh­len, son­dern müs­sen antre­ten, immer. Die Sum­me macht’s. Höcke und ande­re sei­nes Kali­bers ste­hen im Trai­ning, müs­sen sich mes­sen – und schla­gen sich gut!

Von Höcke und Ebert weiß man, wo sie woh­nen, wo man sie fin­det, daß sie Frau und Kin­der und einen Ort haben. Sie sind aus­ge­setzt, sie fech­ten nicht unter Pseud­onym, sie haben kei­ne zwei­te Existenz.

Anders aus­ge­drückt: Such­te man unter den Schlau­ber­gern einen, der selbst in den Ring stei­gen wür­de, weil gera­de kein Höcke ver­füg­bar wäre, käme es zu einer Drän­gel­be­we­gung nach hinten …

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Eben schrieb ein Leser, man kön­ne noch erwäh­nen, daß unse­re Arbeit hier in eine klei­ne, mie­se CDU-Patro­ne umge­gos­sen und gegen Höcke abge­feu­ert wur­de: ob er sei­ne “Ideen aus dem Nazi­schloss in Schnell­ro­da” bezie­he. Tat­säch­lich nahm ich’s wahr, ver­gaß es aber sofort wie­der – wie immer, wenn einer ver­bal am Ende ist und aus uns Nazis macht, die Bücher verlegen …

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Sonn­tag, 7. April

Das Schwie­ri­ge am Beruf des Ver­le­gers und Publi­zis­ten ist, daß man es sagen muß, wenn man sprach­los ist. Als ich ges­tern Spie­gel-online auf­such­te, um zu schau­en, was das Leit­me­di­um unse­rer Trans­for­ma­ti­ons­re­gie­rung der­zeit auf die Agen­da set­zen und in die Köp­fe beför­dern möch­te, war ich geneigt zu schwei­gen, nach­dem ich das etwas wei­ter unten doku­men­tier­te Bild gese­hen hatte:

Es scheint, daß dann, wenn die Guten gegen die Bösen Krieg füh­ren oder wenn es eben der Spie­gel ist, der etwas for­mu­liert (und sei es nur eine Über­schrift) – daß dann also alles sag­bar und ganz logisch ist, wes­we­gen uns der Ver­fas­sungs­schutz seit Jah­ren die Haut abzu­zie­hen versucht.

Ich kann auf den im screen­shot sicht­ba­ren Fami­li­en­bil­dern der ukrai­ni­schen Gen­pool-Ret­tungs­stel­le beim bes­ten Wil­len kei­nen Neu-Ukrai­ner aus­ma­chen, also einen aus Afgha­ni­stan, Nige­ria, Syri­en oder so. (Neben den wei­ßen Kin­dern, Eltern, Frau­en sehe ich bloß ein paar Iko­nen, also ist das alles geseg­net, sogar.)

Ich will mei­ne Hand nicht dafür ins Feu­er legen, daß ehe­ma­li­ge Ost-Polen dar­un­ter sind, oder Ruthe­nen und Bes­sa­ra­bi­en­deut­sche. Aber das wäre ja alles durch das gedeckt, was wir sagen, seit wir uns poli­tisch arti­ku­lie­ren kön­nen: Ukrai­ner ist, wer ukrai­ni­sche Eltern hat (Gen­pool!). Ukrai­ner ist aber auch, wer Ukrai­ner wer­den will und die Sache der Ukrai­ne ganz und gar zu sei­ner Sache macht (Assi­mi­la­ti­on!).

Erset­ze “Ukrai­ner” durch “Deut­scher” – dann bist du ein Fall für den VS. Dreh es wie­der um, dann darfst du ein Röhr­chen fül­len, damit der Gen­pool nicht aus­dünnt, denn wir alle wis­sen, daß es die Bes­ten sind, die fal­len, also die Bes­ten, die das Volk auf­zu­bie­ten hat, das Kol­lek­tiv, das wahr­nehm­bar anders ist als ande­re und sein So-und-nicht-anders-sein ver­tei­di­gen und WEITERGEBEN will. Punkt.

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Wäh­rend ich dies schrieb, ent­fiel mir, wor­über ich noch schrei­ben woll­te. War es die Atta­cke eines Syrers, der in Wan­gen im All­gäu eine Vier­jäh­ri­ge nie­der­stach? Wan­gen – das gehört zu mei­ner Hei­mat, das war mit dem Fahr­rad erreich­bar, dort­hin radel­ten wir manch­mal am Wochen­en­de, denn es gab dort eine aus­ge­zeich­ne­te Buch­hand­lung und ein alter­na­ti­ves Kino, und ins huma­nis­ti­sche Spohn­gym­na­si­um in Ravens­burg (Latein, Grie­chisch) pen­del­ten die ferns­ten exter­nen Schü­ler aus Wan­gen an, jeden Mor­gen sehr früh schon unterwegs.

Habe ich je notiert, daß Klaus Schwab, also der Davos-Schwab, der Welt­wirt­schafts­fo­rum-Schwab, an eben­die­sem Gym­na­si­um das Abitur abge­legt hat, also ordent­lich vor mei­ner Zeit? Ich selbst schriebs 1990, in Deutsch, Mathe­ma­tik, Geschich­te und Alt­grie­chisch, und jetzt kommts: Auf Wiki­pe­dia sind im Anschluß an die Geschich­te der Schu­le und die Lis­te der Rek­to­ren soge­nann­te “Per­sön­lich­kei­ten” aus der Schü­ler­schaft auf­ge­führt.

Natür­lich Klaus Schwab, aber eben auch ich. Das ist doch mal fair. Von dem Kir­chen­mu­si­ker Rei­ner Schu­henn an ken­ne ich sie alle noch per­sön­lich, die reüs­sier­ten mit ihrem Kön­nen schon wäh­rend der Schul­zeit. Ich war auch bereits damals in mei­ner Bran­che unter­wegs: vier Jah­re lang Chef­re­dak­teur der Schü­ler­zei­tung, “spohn­tan” hieß sie. (Erst vor einem Jahr sand­te mir ein fünf Jah­re jün­ge­rer Schul­ka­me­rad alle von mir ver­ant­wor­te­ten Aus­ga­ben gescannt zu – so rich­tig schö­ne Fingerübungen.)

Aber wei­ter: Johan­nes Braig bei­spiels­wei­se steht auch auf der Lis­te. Er ist der Sohn des Schul­rek­tors, über den ich im Vor­wort zum Gesprächs­band Unse­re Zeit kommt (mit Karl­heinz Weiß­mann) schrieb: Der alte Braig hat­te mich ins Rek­to­rat geru­fen, als die Mau­er fiel, 1989, denn ich war Schü­ler­spre­cher und kam sehr gut mit die­sem stren­gen, fai­ren, unfaß­bar gebil­de­ten und von einer selt­sa­men Melan­cho­lie umge­be­nen Mann aus.

Sein Sohn nun, Johan­nes Braig, hielt den Schul­re­kord über 3000 Meter. Johan­nes lief mit offe­nen Schnür­sen­keln, sie waren sehr lang, und er sag­te mir, daß er das mache, um sei­ne Schritt­län­ge zu hal­ten. Er gewann als Abitu­ri­ent einen Kunst­preis, weil er aus Ton eine Vase zu for­men in der Lage war, die als per­fekt galt. Als ich sel­ber an der Töp­fer­schei­be im Kunst­raum eine Vase zu gestal­ten ver­such­te, begriff ich, daß er den Preis zurecht ver­lie­hen bekom­men hat­te. Ich ver­mis­se die­sen Ernst.

Was erzäh­le ich da? Ich könn­te noch viel mehr erzäh­len, zu jedem auf­ge­führ­ten Schü­ler, auch etwas über die Leh­rer, von denen zumin­dest einer sich mel­de­te, als Schnell­ro­da so sehr bekannt wur­de und in den Focus geriet. Er mel­de­te sich und lob­te unse­re Arbeit. Aber er füg­te hin­zu, daß ich nie ver­ges­sen soll­te, was er immer im Unter­richt gesagt hat­te, wenn es um Hob­bes und den Levia­than ging: Der Mensch ist dem Men­schen ein Mensch, und das sei zugleich bes­ser und schlim­mer als wenn der Mensch dem Men­schen ein Wolf sei. (Als ob man so etwas ver­ges­sen könnte!)

Jeden­falls: So fädel­te sich ges­tern, beim Kar­tof­feln­le­gen, ein Gedan­ke an den ande­ren, aus­ge­hend von Wan­gen und dem nie­der­ge­sto­che­nen Mäd­chen – und beim Leh­rer noch längst nicht zuen­de. Die­ses Fädeln ist ein Ord­nen, ein Auf­ru­fen, ein Able­gen und eine Ein­bet­tung. Gen­pool, jaja – aber eben auch Prä­gung, vor allem Prä­gung, ein Dün­ger aus Erin­ne­rung und war­mem, sat­tem, näh­ren­dem Bild. (Und dann biegt ein Klaus Schwab so ganz anders ab! Tsts …)

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Mitt­ler­wei­le: 320 Anmel­dun­gen fürs Som­mer­fest – 180 freie Plät­ze noch.

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Frei­tag, 22. März

Der Schrift­satz, mit dem die Pots­da­mer Aus­län­der­be­hör­de, Fach­be­reich Ord­nung und Sicher­heit, den “Ver­lust des Frei­zü­gig­keits­rechts in der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land” gegen Mar­tin Sell­ner fest­stellt, für zunächst drei Jah­re, ist: Zir­kel­schluß, Unter­stel­lung, logi­scher Offen­ba­rungs­eid, Maß­stabs­lo­sig­keit, ein Doku­ment der “Herr­schaft des Ver­dachts” und das eines begriffs­wir­ren Sprachregimes.

Leu­te wie Armin Pfahl-Traugh­ber, Mat­thi­as Quent, Anet­ta Kaha­ne, Andre­as Speit, Georg Rest­le und Vol­ker Weiß haben gan­ze Arbeit geleis­tet: Sie haben Wör­ter ins Schwam­mi­ge umge­deu­tet, mit einer gerichts­fes­ten Aura ver­se­hen und die Tech­nik der Unter­stel­lung in den Rang einer wis­sen­schaft­li­chen Metho­de erhoben.

Behör­den schrei­ben von agi­tie­ren­der Publi­zis­tik und “Wis­sen­schaft” ab. So ist im Schrift­satz das “het­ze­ri­sche, gewalt­be­ja­hen­de und men­schen­ver­ach­ten­de Poten­zi­al” Sell­ners eben­so The­ma wie der Umstand, daß Eth­no­plu­ra­lis­mus nichts ande­res bedeu­te als “aus­gren­zen­den Natio­na­lis­mus” und “Frem­den­feind­lich­keit”. Selbst eine For­de­rung nach “weit­ge­hen­der Wah­rung der Homo­ge­ni­tät der Bevöl­ke­rung” sei bereits ver­fas­sungs­feind­lich, und nicht erst dann, “wenn Homo­ge­ni­tät in ihrer Abso­lut­heit gefor­dert wird”, undsoweiter.

Die zustän­di­ge Behör­de schreibt sogar, sie gehe “in der Sum­me mei­ner Fest­stel­lun­gen” davon aus, daß Sell­ner durch sein Agie­ren “die his­to­ri­sche Ver­pflich­tung Deutsch­lands für den Holo­caust als Grund­la­ge unse­res Staats­we­sens negie­re”. Nicht nur die in die­sem Satz geäu­ßer­te Unter­stel­lung, son­dern sei­ne gan­ze Kon­struk­ti­on ist abenteuerlich.

Mar­tin Licht­mesz wird sich zu Sell­ners Fall aus­führ­lich äußern und den Schrift­satz so genüß­lich zer­le­gen, wie nur er es kann. Aber das Genüß­li­che wird Sell­ner nicht wei­ter­hel­fen, es rückt nur unse­ren Blick auf die­se Far­ce zurecht und kann uns hel­fen, den Humor nicht zu verlieren.

Aber könn­te, nein soll­te der Ansatz, unser Ansatz nicht wenigs­tens par­al­lel zu den Kom­men­tie­run­gen der Macht, die in den Hän­den der Fein­de liegt, ein ganz ande­rer sein? Viel­leicht haben wir zuviel Zeit damit ver­geu­det, auf Argu­men­te der Geg­ner und Fein­de ein­zu­ge­hen – also dort noch immer auf die Macht des Argu­ments zu set­zen, wo es nur noch um Macht geht, die ohne Argu­men­te auskommt.

Unser Ton, der nie wei­ner­lich ist, hat bereits auf­grund die­ser Ver­suchs­an­ord­nung etwas Bit­ten­des, einen Ver­ständ­nis hei­schen­den Grund­ton. Davon müs­sen wir uns lösen, in die­sem Punkt waren wir frü­her schon wei­ter: Wir wer­den die­je­ni­gen nicht über­zeu­gen, die den Ein­satz ihrer Macht­mit­tel nur noch dürf­tig kaschie­ren. Aber wir wer­den die­je­ni­gen begeis­tern, die eben­so angriffs­lus­tig, radi­kal, ver­blüf­fend, krea­tiv, scho­nungs­los, rabi­at, tat­säch­lich begabt für den Sprung ins Offe­ne auf die Zumu­tung unse­rer Zeit ant­wor­ten möch­ten wie wir.

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Ein Leser­brief zur Debat­te um den Film “Zone of Inte­rest” über das All­tags­le­ben der Fami­lie Höß neben Ausch­witz. Ich brin­ge ihn in vol­ler Län­ge. Der Ver­fas­ser nennt sich sprenkler@… , aber was er schreibt, klingt nicht nach Was­ser­dü­se und Rasen­flä­che, ganz und gar nicht:

Ich las gera­de die Film­be­spre­chung über “Zone of Inte­rest” auf Ihrem Blog. Inter­es­sant, wie unter­schied­lich man aus der­sel­ben Ecke auf Din­ge bli­cken kann. Es stimmt schon, der Anfang setzt die Meß­lat­te hoch, vie­les danach kommt aber dar­un­ter zu lie­gen. Nicht optisch, die Bil­der waren durch­ge­hend stark: jedoch hört der Film spä­tes­tens zur Hälf­te hin auf, nur zu zei­gen und beginnt zu erzäh­len, ist dabei nicht nur ein­mal auf­dring­lich und plump.

Hed­wig spa­ziert samt Mut­ter durch den Gar­ten und redet ver­son­nen über Blu­men und Schwimm­be­cken, wäh­rend man im Hin­ter­grund Schüs­se hört? Bit­te, die­se Bot­schaft kann man auch ele­gan­ter herüberbringen.

Rudolf ver­kün­det sei­ne Ver­set­zung, Hed­wig fürch­tet, das wun­der­vol­le Grund­stück neben Aus­schwitz I zu ver­lie­ren und läßt die Wut an den ande­ren aus? Ver­ste­he, deut­sche Frau­en schie­ßen nicht, deut­sche Frau­en sind ver­dammt gemein zu pol­ni­schen Dienst­mäd­chen und den­ken nur an die Aza­leen, nicht an das Grau­en hin­ter der Mauer.

So tritt also jeder auf sei­ne Wei­se nach unten, wäh­rend man den Blick stehts aufs Ziel gerich­tet hat, Volk und Blumenbeet.

Die­ser Film hat kei­ne Aus­dau­er. Immer wie­der ver­sucht er, wirk­lich unge­wöhn­lich und nicht direkt zu sein und jedes Mal aufs Neue hält er nicht durch, als wür­de ihm plötz­lich die Unge­heu­er­lich­keit sei­ner eige­nen Bot­schaft bewußt wer­den. Also gleich noch­mal das Gezeig­te, aber sicher­heits­hal­ber unver­schlei­ert dies­mal, nur, damit kei­ne Miß­ver­ständ­nis­se auf­kom­men. Nie wieder.

Das pol­ni­sche Mäd­chen im Nega­tiv wirft beim ers­ten Mal Fra­gen auf, beim zwei­ten Mal leuch­ten die Äpfel weiß hin­ter schwar­zen Schau­feln, und man ver­steht plötz­lich, was sie tut. War­um hier noch wei­ter­erzäh­len? War­um ihr auf dem Weg nach Hau­se fol­gen, den Fil­ter lüf­ten und so mit der unwirk­li­chen Stim­mung bre­chen? War­um wie­der direkt? Jetzt weiß man, sie ist Polin, im Wider­stand und spielt Kla­vier. Sile­sia Film im Abspann, und man denkt sich zum zehn­ten Mal, wie faul und feig die The­men­wahl ist.

Zuge­ge­ben, die Wut aufs Publi­kum half nicht: Alman­knech­te und Michel­fres­sen, alle mit hän­gen­den Schul­tern. Plötz­lich war sich jeder bewußt, Vor­fah­ren zu haben, plötz­lich nicht mehr zufäl­lig auf die­sen Fle­cken Erde gewor­fen, statt­des­sen blu­ti­ge Hän­de und Zäh­ne unter den Soh­len. Und jeder die­ser Vor­fah­ren war Lager­lei­ter im Osten. Wir müs­sen alles bes­ser machen. Viel besser.

Sams­tags, nach der Vor­stel­lung, ging es mit die­sem Bes­ser gleich gut wei­ter: Mar­tin Sell­ner wur­de aus der Schweiz abge­scho­ben. Ein Anfang, immerhin.

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Es ist der Demo­kra­tie nicht zuträg­lich, daß alle zum Bekennt­nis der­sel­ben Mei­nung genö­tigt wer­den. Das Bild stammt von der Eröff­nungs­ver­an­stal­tung zur Leip­zi­ger Buch­mes­se, die noch bis Sonn­tag läuft. Ich wür­de gern die­je­ni­gen zu einem Abend­essen in einer guten Leip­zi­ger Gast­stät­te ein­la­den, die den “Welle”-Effekt, den Gleich­schritt unter­lie­fen und kein Schild in die Höhe hielten.

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Sams­tag, 9. März

War­um ich mich, immer­hin gedient und sogar ein­satz­er­fah­ren, nicht aus­führ­lich zur Cau­sa jener vier hoch­ran­gi­gen Offi­zie­re äußer­te, deren läs­si­ges Gespräch über den Ein­satz von Len­kra­ke­ten gele­akt wor­den ist? So frag­te nicht nur einer.

Ganz ein­fach: Es ist irrele­vant, was ich dazu zu sagen habe. Detail­wis­sen, kennt­nis­rei­che Spe­ku­la­ti­on, was haben wir (wir?) falsch gemacht, was kön­nen wir bes­ser machen – alles völ­lig egal.

Mein Ein­wurf wür­de aus die­ser Armee nicht wie­der mei­ne, unse­re Armee machen. Die­se Zei­ten sind vor­bei. Das sage ich nicht als belei­dig­te Leber­wurst, son­dern als jemand, der zu vie­le gute Sol­da­ten frus­triert hat auf­ge­ben und zu vie­le gute Män­ner erst gar nicht zum Zuge hat kom­men sehen. Der Sub­stanz­ver­lust ist bru­tal, die Aus­le­se absurd, dar­über täu­schen ein paar gute Batail­lo­ne nicht hinweg.

Wozu also kom­men­tie­ren, wenn wir gar kei­nen Stand­punkt mehr ein­neh­men müs­sen? Man staunt dar­über, was auf Kar­rie­re­lei­tern ganz oben ange­krab­belt kommt. Man will nie­mals von sol­chen Män­nern geführt werden.

Und im nächs­ten Moment wird einem spei­übel, denn die Strack-Zim­mer­mann faselt und wet­tert wie­der ein­mal, ges­tern gegen des Paps­tes sanf­ten Vor­schlag, man sol­le der Rea­li­tät ins Auge sehen und der Ukrai­ne emp­feh­len, sich drin­gend mit Ruß­land an den Ver­hand­lungs­tisch zu bege­ben. Da kehrt also ein libe­ral­de­mo­kra­ti­scher Dop­pel­na­me, eine katho­li­sche Bürs­te, die männ­li­chen Res­te ukrai­ni­scher Jahr­gän­ge an die Front.

Das sind wir, das ist das, was das Aus­land sieht. Und mit­hört. Das war’s, oder?

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Höcke rief an. Wir wol­len bald wie­der ein Stück wan­dern und in Ruhe spre­chen. Aber des­we­gen rief er nicht an. Er teil­te nur kurz mit, daß sei­ne “Immu­ni­tät”, die ihn als Teil der Legis­la­ti­ve vor der Will­kür der Exe­ku­ti­ve schüt­zen soll­te, nun zum ach­ten Mal auf­ge­ho­ben wür­de. Das ist in der Geschich­te des Par­la­men­ta­ris­mus in der BRD ein­sa­me Spitze.

Vor allem aber ist es nicht lus­tig, über­haupt nicht sogar. Zwar wird jedes Schwert zum schar­ti­gen Küchen­mes­ser­chen, wenn man es zu oft und am fal­schen Mate­ri­al ein­setzt – der dro­hen­de Klang der Schlag­zei­le “Ver­lust der Immu­ni­tät” hat sein Poten­ti­al längst ver­spielt; aber das ist es ja gera­de: Woher soll denn noch Respekt vor staat­li­cher Insti­tu­ti­on kom­men, wenn ihr Miß­brauch zuta­ge liegt und ihre Kraft ver­schleu­dert wurde?

Höcke wird sich mit­ten im Wahl­kampf in drei Gerichts­pro­zes­sen gegen die Unter­stel­lung zur Wehr set­zen müs­sen, Mei­nungs­de­lik­te began­gen zu haben. Gera­de in sei­nem Fall liegt der Argu­men­ta­ti­ons­krin­gel, der Selbst­be­stä­ti­gungs­krei­sel aus poli­ti­schem Geg­ner, denun­zia­to­ri­schem Jour­na­lis­mus und Inlands­ge­heim­dienst offen zu Tage: Medi­en­ver­tre­ter recher­chie­ren etwas, das für den Ver­fas­sungs­schutz rele­vant sein könn­te und schrei­ben spä­ter, daß man das beim “Dienst” eben­falls so sehe.

Was Höcke schmerzt, ist nicht die Auf­he­bung sei­ner Immu­ni­tät – er ist sowie­so für die Abschaf­fung die­ses Nicht-Schut­zes: Er die­ne mitt­ler­wei­le nur noch dazu, auf­ge­ho­ben zu wer­den und beim ers­ten Mal den Bür­ger in jedem von uns zu erschre­cken. Aber selbst an die Auf­he­bung der Immu­ni­tät kön­ne man sich gewöh­nen. Sag­te es – und lach­te dann doch.

Was ihn wirk­lich schmerzt, ist der Zeit­ver­lust. Sich mit Gro­tes­ken beschäf­ti­gen zu müs­sen, wäh­rend sein Bun­des­land vor der Wahl steht – das ist schwer zu ertragen.

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Die Sell­ner-Fest­spie­le sind auf ihrem Höhe­punkt ange­langt. Zwar war ges­tern Sonn­tag, aber auch der Tag des Herrn sah Sell­ner im uner­müd­li­chen Ein­satz mit dem Vor­schlag­ham­mer: Sell­ner drischt den Begriff “Remi­gra­ti­on” in die Köp­fe, dies­mal auf dem Bal­kon des Gebäu­des der EU-Agen­tur in Wien, mit rie­si­gen Ban­nern (man beach­te das Flug­zeug im “R”) und einer Megaphon-Ansprache.

Als ich ihn ans Tele­fon krieg­te, war er gera­de vom Gebäu­de run­ter und hat­te den Poli­zis­ten sei­ne Per­so­na­li­en ange­ge­ben. Er war sehr zufrie­den, denn mit etwas Lauf­schritt und güns­ti­ger Ampel­schal­tung wür­de er es noch recht­zei­tig zu einem Essen schaf­fen, zu dem sei­ne Fami­lie ein­ge­la­den war. Ande­re wür­den sich fei­ern las­sen, trü­gen ihre Schüt­zen­gra­ben­ge­schich­te wochen­lang vor, zuletzt ver­mut­lich in Rei­men – so nicht Sellner.

Er ist der Pop-Star der Sze­ne, wir haben ihn unter Ver­trag. Die 1. Auf­la­ge sei­nes Buches Remi­gra­ti­on. Ein Vor­schlag, 8500 Exem­pla­re, wird Ende März ver­grif­fen sein.  Auch die 5. Auf­la­ge von Sell­ners Regime Chan­ge von rechts schmilzt ab, und der mit Mar­tin Licht­mesz geführ­te Dis­put Bevöl­ke­rungs­aus­tausch und Gre­at Reset wird bereits nach­ge­druckt – er ist seit Wochen vergriffen.

Für uns als Ver­lag inter­es­sant ist das wie­der­keh­ren­de Pro­blem des Papier­man­gels. Wir dru­cken auf hoch­wer­ti­gem Off­set-Papier, gelb­lich­weiß, 80 oder 90 Gramm, nichts Unge­wöhn­li­ches für die Lie­fe­ran­ten unse­rer Dru­cke­rei­en, sogar sehr gän­gig für jeden Ver­lag, der in Deutsch­land dru­cken läßt. Aber die Lage ist der­zeit wie­der so kri­tisch, daß wir mit der 2. Auf­la­ge das gesam­te rasch ver­füg­ba­re Kon­tin­gent aus­rei­zen wer­den, obwohl selbst damit nicht die gewünsch­te Stück­zahl wird rea­li­siert wer­den kön­nen. Eine Ent­span­nung der Lage ist erst für April signa­li­siert worden.

Sell­ner, des­sen Twit­ter-Account ges­tern wie­der frei­ge­stellt wor­den ist, hat sich übri­gens sehr über die Druck­qua­li­tät und die Farb­ge­bung sei­nes neu­en Buches gefreut. Er hat es seit Frei­tag auf dem Tisch und signiert der­zeit 200 Exem­pla­re für einen ganz beson­de­ren Kun­den. Das ist eine gro­ße Aus­nah­me, ich bit­te dar­um, von Nach­fra­gen abzusehen!

Aber wir pla­nen natür­lich mit Sell­ner als Gast auf unse­rem dies­jäh­ri­gen Som­mer­fest. (Den Ter­min soll­ten Sie sich vor­mer­ken, wir wer­den wie­der­um nur 500 Gäs­ten Platz bie­ten kön­nen: Wir fei­ern am 13. und 14. Juli – aber bit­te: Mel­den Sie sich NOCH NICHT an. Wir geben den Start­schuß nach Ostern!)

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(Ergän­zun­gen, Fund­stü­cke und kri­ti­sche Anmer­kun­gen rich­ten Sie bit­te an [email protected]. Ich wer­de aus­brei­ten, was sich ansammelt.)

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Sams­tag, 24. Februar

Mos­kau war die ers­te Stadt, in der man mit soge­nann­tem Face Pay die U‑Bahn benut­zen konn­te. Filipp Fomit­schow, ein jun­ger rus­si­scher Wis­sen­schaft­ler, der vor einer Woche im Rah­men unse­rer Win­ter­aka­de­mie zum The­ma “Die ideo­lo­gi­sche Land­schaft Ruß­lands” refe­rier­te, erklär­te es mir: Man hält sein Gesicht in eine Kame­ra, nur für eine Sekun­de, dann geht die Schran­ke auf, man hat bezahlt und kann fahren.

Ich habe nach­ge­schaut, es stimmt: Seit Okto­ber 2021 funk­tio­niert die­ses Sys­tem an 240 U‑Bahnhöfen Mos­kaus. Fomit­schow selbst nutzt Face Pay nicht, aber er berich­te­te, daß sehr vie­le Mos­kau­er die­sen Dienst nutz­ten und nichts dabei fän­den. Über­haupt habe es ihn gewun­dert, daß es in Deutsch­land noch immer etli­che Geschäf­te gebe, in denen man Bar­geld akzep­tie­re oder sogar aus­schließ­lich anneh­me. Zwar sei in Ruß­land der Unter­schied zwi­schen Mos­kau und Pro­vinz enorm; jedoch bar­geld­los bezah­len: Das kön­ne man in jedem Kiosk.

Aus die­ser Schil­de­rung her­aus ent­wi­ckel­te sich ein Gespräch über die Tech­nik und die Moder­ne, kon­ser­va­ti­ve Kul­tur­kri­tik und das Neben­ein­an­der von Spit­zen­tech­no­lo­gie und Folk­lo­re, Welt­for­mat und Eigent­lich­keit, Mes­ser­schmidt Me 262 und Braun­hem­den-Auf­tanz, Face Pay und Stel­lungs­krieg wie vor über hun­dert Jahren.

War­um erzäh­le ich das heu­te? Vor zwei Jah­ren griff Ruß­land die Ukrai­ne an. Unse­re Ruß­land-Aka­de­mie kam und unse­re Ruß­land-Sezes­si­on kommt jedoch ohne eine Zei­le über die­sen Krieg aus. Grund ist die tie­fe­re Absicht hin­ter Aka­de­mie und Heft: Wir woll­ten ers­tens Ruß­land ent­ro­man­ti­sie­ren und ein ambi­va­len­tes, unein­heit­li­ches, dis­pa­ra­tes Bild von die­ser Welt­macht ver­mit­teln. Zwei­tens soll­te aber der geis­ti­ge Raum die­ses gro­ßen und groß­ar­ti­gen Lan­des geöff­net werden.

Bei­des ist geglückt, wirk­lich. Fomit­schow trug ent­schei­dend dazu bei, aber auch Leh­nert mit sei­nem Vor­trag über die Deut­schen und die Rus­sen und ihre Nah­fer­ne, Dušan Dosta­nić mit der schwie­ri­gen und lei­der oft bloß pau­schal erzähl­ten Geschich­te zwi­schen Ser­bi­en und Ruß­land und natür­lich Ivor Clai­re, der eine geo­stra­te­gi­sche Skiz­ze zeich­ne­te und alle Kna­ben­mor­gen­blü­ten­träu­me mit Ver­wei­sen auf Macht­lo­sig­keit und Wunsch­den­ken weg­wisch­te und die Ver­ant­wor­tungs­lo­sig­keit Ver­ant­wor­tungs­lo­sig­keit nannte.

Guck­lö­cher nann­te Peter Hand­ke das, was uns vor­ge­stanzt auf Län­der, auf Schuld und Glanz bli­cken läßt, und min­des­tens hin­ter­fra­gen soll­ten wir stets, wer der Stan­zer war. Bes­ser noch: weg mit der Bret­ter­wand, frei­er Blick, mit denen reden, die scho­nungs­los schau­en. Das haben wir getan, ein lan­ges Wochen­en­de und 80 Heft­sei­ten lang, und es hat mir sehr gut getan, sehr.

Heft 118Auch des­we­gen: An einem Abend, also jetzt gera­de vor genau einer Woche, ver­sam­mel­ten sich von den hun­dert­fünf­zig Teil­neh­mern zwan­zig in unse­rer Biblio­thek und hör­ten einem Spre­cher zu, wie er eine Stun­de lang aus­wen­dig rus­si­sche Lyrik rezi­tier­te, über­setzt natür­lich. Alex­an­der Pusch­kin, Michail Ler­mon­tow, Iwan Tur­gen­jew, Alex­an­der Block, Niko­laj Gumil­jow und Anna Ach­ma­towa –  ich sag­te zu Leh­nert, als wir danach wie­der nach vorn in den Gast­hof pil­ger­ten, daß allei­ne so etwas die Arbeit von zwan­zig Jah­ren loh­ne und daß so etwas die lin­ken Pen­ner, die mor­gen demons­trie­ren wür­den, sicher­lich nicht für mög­lich hiel­ten und ganz sicher noch nie erlebt hätten.

Eine Woche ist es erst her, und heu­te kam Post von einem, der auf ukrai­ni­scher Sei­te an der Front steht. Ich kann ihn ganz ver­ste­hen, auch, wie sehr der Loya­li­täts­raum auf die Kame­rad­schaft zusam­men­schnurrt – eine Erfah­rung, die unse­re jun­gen Män­ner alle­samt nicht mehr machen kön­nen, die ihnen vor­ent­hal­ten wird, denn erfahr­bar ist sie schon, wo man mal zwei Wochen am Stück in einem naß­kal­ten Wald­stück liegt und das übt, was nun an der schreck­li­chen Ost­front wie­der gekonnt wer­den muß.

Und wir haben in unse­ren You­tube-Kanal den andert­halb Jah­re alten Vor­trag von Pro­fes­sor Neu­hoff (AfD NRW, Euro­pa­lis­ten­platz weit vorn) wie­der ein­ge­stellt – er han­delt vom Kon­flikt und vom Krieg in der Ukrai­ne, paßt also zum heu­ti­gen Datum. Neu­hoffs Vor­trag erscheint erneut und just dann, wenn er sich heu­te und mor­gen inmit­ten der nord­rhein-west­fä­li­sche AfD über der Fra­ge, ob man sich von der JA distan­zie­ren sol­le, zu posi­tio­nie­ren hat. Man benimmt sich dort, als hät­te man nichts gelernt und nichts kapiert.

Das sind jetzt Fet­zen, Stück­chen, dar­aus kann die Poli­tik kaum etwas ablei­ten, und vehe­ment rede­te ich, wie auf jeder Aka­de­mie, gegen zuviel Theo­rie und vor allem gegen Jar­gon und geschlos­se­ne Gebäu­de an. Wir sto­chern uns vor­an, ste­cken erkun­de­te Stü­cke ab, das ist viel. Der Stand­punkt ist dabei immer Deutsch­land, wen wundert’s.

(Das Ruß­land-Heft der Sezes­si­on gibt’s hier und Neu­hoffs Vor­trag da.)

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Don­ners­tag, 15. Februar

Vor Jah­ren war ich mit der Fami­lie am Mon­te Cas­si­no, süd­lich von Rom. Wir waren dort nicht der wie­der­auf­ge­bau­ten Grün­dungs­ab­tei des Bene­dik­ti­ner­or­dens wegen, son­dern um den deut­schen Sol­da­ten­fried­hof zu besu­chen, auf dem rund 20 000 Gefal­le­ne beer­digt sind. Die­ser Fried­hof ist einer der schöns­ten und wür­digs­ten, die ich kenne.

Die Deut­schen ver­tei­dig­ten 1944 die soge­nann­te Gus­tav-Linie vier Mona­te lang gegen die Viel­völ­ker-Armee, die unter US-ame­ri­ka­ni­scher Füh­rung von Süd­ita­li­en her anrann­te: Neu­see­län­der, Eng­län­der, Inder, Exil­po­len, sogar Bra­si­lia­ner. Die Mon­te-Cas­si­no-Schlacht gilt als eine der längs­ten und für bei­de Sei­ten ver­lust­reichs­ten Schlach­ten des II. Welt­kriegs. Sie wird von der Mili­tär­ge­schichts­schrei­bung in vier Abschnit­te aufgeteilt.

Mich inter­es­siert heu­te, daß die Deut­schen auf Befehl des Ober­be­fehls­ha­bers Feld­mar­schall Albert Kes­sel­ring das Klos­ter auf dem Mon­te Cas­si­no nicht zur Fes­tung aus­bau­ten: Zu wert­voll sei die­ses Kul­tur­gut. Der Abt des Klos­ters bestä­tig­te nach dem Krieg, daß sich die deut­schen Stel­lun­gen gemäß Befehl 300 Meter vom Klos­ter ent­fernt befan­den – und daß kein deut­scher Sol­dat die­sen Befehl unterlief.
Kes­sel­ring hat­te den Alli­ier­ten die­se Maß­nah­me zur Kennt­nis gebracht, und die Geg­ner fan­den im Ver­lauf der ers­ten Schlacht um die Gus­tav-Linie kei­nen Beleg dafür, daß die Deut­schen nur eine Kriegs­list ange­wen­det hätten.

Die zwei­te Schlacht sah einen alli­ier­ten Angriff auf die Cas­si­no-Stel­lun­gen der deut­schen Fall­schirm­jä­ger vor. Sie begann am 15. Febru­ar 1944, also vor 80 Jah­ren, mit erheb­li­chen Ver­lus­ten für die Angrei­fer. Dar­auf­hin bat der neu­see­län­di­sche Gene­ral Frey­berg um Luft­un­ter­stüt­zung und um die Bom­bar­die­rung des gesam­ten Berges.

225 Bom­ber luden rund 500 Ton­nen Spreng- und Brand­bom­ben auf das Klos­ter ab. Es wur­de voll­stän­dig zer­stört, etwa 400 Mön­che und Zivi­lis­ten kamen um, aber kein ein­zi­ger deut­scher Sol­dat. Denn erst nach der Zer­stö­rung rich­te­ten sich die Deut­schen in den Trüm­mern ein und bau­ten die Rui­nen zu einer prak­tisch unein­nehm­ba­ren Fes­tung aus.

Kunst­schät­ze, die unfaß­bar wert­vol­le Biblio­thek und die Gebei­ne des Ordens­grün­ders, Bene­dikt von Nur­sia, waren zuvor unter Mit­hil­fe von Trup­pen der Fall­schirm-Pan­zer-Divi­si­on Her­mann Göring in die Engels­burg in Rom aus­ge­la­gert worden.

Da unse­re Fami­lie eine beson­de­re Bezie­hung zum Orden der Bene­dik­ti­ner pflegt, ist der 15. Febru­ar nicht nur der letz­ten Angriffs­wel­le auf Dres­den wegen ein schwar­zer Tag.

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Mitt­woch, 7. Februar

Sechs Tage lang war Mar­tin Sell­ners noch nicht erschie­ne­nes Buch Remi­gra­ti­on. Ein Vor­schlag beim Inter­net-Rie­sen Ama­zon auf Platz 1 der best­ver­kauf­ten Bücher.

Tele­fo­na­te erge­ben ein Volu­men von bis­her rund 7000 vor­be­stell­ten Exem­pla­ren allein über die­sen einen Anbie­ter. Jedoch will Ama­zon den Inhalt des Buchs zunächst prü­fen. Nun dis­ku­tie­ren wir mit Sell­ner und erfah­re­nen Buch­händ­lern dar­über, wie wir damit umge­hen sollten.

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Die Lage der natio­na­len Oppo­si­ti­on in Deutsch­land, der wir ange­hö­ren, hat sich wei­ter ver­schärft: Die Jugend­or­ga­ni­sa­ti­on der AfD, die Jun­ge Alter­na­ti­ve (JA), hat ein Eil­ver­fah­ren gegen ihre Ein­stu­fung als “gesi­chert rechts­extre­mis­tisch” ver­lo­ren. Ein Ver­wal­tungs­ge­richt in Köln hält die­se Ein­stu­fung durch das Bun­des­amt für Ver­fas­sungs­schutz für recht­mä­ßig: Die JA ver­tre­te einen an der Abstam­mung aus­ge­rich­te­ten, also eth­ni­schen Volks­be­griff und ver­sto­ße damit gegen das Prin­zip der Men­schen­wür­de, weil sie Abstam­mungs­deut­sche von Paß­deut­schen unter­schei­de und Wert dar­auf lege, daß ers­te­re in der deut­li­chen Mehr­heit blieben.

Die JA ver­tritt also einen Volks­be­griff, wie er von der über­wäl­ti­gen­den Mehr­heit aller Natio­nen und Völ­ker welt­weit als Selbst­ver­ständ­lich­keit ange­se­hen wird und wie ihn auch Deutsch­land etwa im Rah­men der Defi­ni­ti­on und der pri­vi­le­gier­ten Behand­lung deutsch­stäm­mi­ger Rück­sied­ler aus ehe­ma­li­gen Aus­wan­de­rer­grup­pen zugrundelegt.

Aber es ist wie längst schon: Die Ver­tei­di­gung der Nor­ma­li­tät wird kri­mi­na­li­siert von Leu­ten, die im Sin­ne macht­ha­ben­der Alt­par­tei­en agie­ren und Begrif­fe ver­bie­gen, weil sie von eben die­sen Alt­par­tei­en zum Schutz des Alt­par­tei­en­staa­tes ein­ge­setzt wor­den sind.

Gefähr­lich ist die­ses Affen­thea­ter für die JA, weil sie als Ver­ein orga­ni­siert ist – wie übri­gens jede Par­tei­ju­gend. Ver­ei­ne kann das Bun­des­in­nen­mi­nis­te­ri­um mit einem Feder­strich ver­bie­ten, sofern das, was der Ver­ein tut, gegen die ver­fas­sungs­mä­ßi­ge Ord­nung ver­stößt und/oder sich gegen den Gedan­ken der Völ­ker­ver­stän­di­gung richtet.

(Auch hier wie­der das Wort “Völ­ker”: Wel­che wie ver­faß­ten sind gemeint? Die­je­ni­gen, die eth­no­kul­tu­rell als unter­schie­den von ande­ren wahr­nehm­bar sind, soll es ja gar nicht mehr geben.)

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Wir alle rech­ne­ten für das so wich­ti­ge Wahl­jahr 2024 (Euro­pa­par­la­ment und drei Land­ta­ge im Osten) mit mas­si­ven Stö­run­gen und Ver­zer­run­gen des in geord­ne­ten Bah­nen vor­ge­se­he­nen Wett­be­werbs um Stim­men­an­tei­le. Die ver­gan­ge­nen Wochen und jetzt die mas­siv auf­kei­men­den Ver­bots­dis­kus­sio­nen, die auf den Par­tei-Rück­raum, auf die Ver­eins­struk­tu­ren des Vor­felds zie­len, haben gezeigt: Unse­re Ver­mu­tung war und ist begründet.

Nicht, daß nicht zuvor schon unlau­ter agiert wor­den wäre von Sei­ten derer, die an der Macht sind: Aber die Unver­fro­ren­heit, mit der ein „Geheim­tref­fen in Pots­dam“ nicht nur erfun­den, son­dern mit toxi­schem Inhalt auf­ge­la­den und begriff­lich in die Nähe natio­nal­so­zia­lis­ti­scher Eli­mi­nie­rungs­be­schlüs­se gerückt wur­de, hat selbst uns überrascht.

Scho­ckie­ren­der noch als die Erfin­dung und Plat­zie­rung die­ser Kam­pa­gne an sich ist der Umstand, daß ihre Absicht medi­al nicht hin­ter­fragt, son­dern unter­stützt wur­de und daß die­se Unter­stüt­zung sich auf wie­der­um stark staat­lich geför­der­te Mas­sen­de­mons­tra­tio­nen gegen die AfD aus­dehn­te, obwohl das Demons­tra­ti­ons­recht nicht dafür gedacht ist, daß Regie­rungs­par­tei­en, also Macht­ha­ber, es für sich in Anspruch neh­men, um damit gegen die Oppo­si­ti­on zu agitieren.

Wie stets weiß nie­mand von uns, ob wir uns durch unse­ren Wider­stand und die erneu­te Straf­fung der Oppo­si­ti­ons­ar­beit genau dort­hin bege­ben, wo uns der Geg­ner haben möchte.

Jeden­falls hat die ver­lo­ge­ne Kam­pa­gne für Tage und Wochen fast alle Auf­merk­sam­keit auf sich gezo­gen. Sie hat sie dadurch von ande­ren Ereig­nis­sen und The­men abge­lenkt. Ganz sicher waren und sind die­se ande­ren The­men wich­ti­ger als die Tat­sa­che, daß sich ein paar Leu­te in Pots­dam tra­fen, um über ein The­ma zu spre­chen, das zum Kern jeder natio­na­len Oppo­si­ti­on gehört: über die not­wen­di­ge Schub­um­kehr von Migra­ti­ons­strö­men. Es soll­te sich also loh­nen, zusam­men­zu­stel­len, was unter den Tisch fiel. (Natür­lich die Bau­ern- und Hand­wer­ker­pro­tes­te, aber auch sie sind eher ein Kräu­seln an der Oberfläche.)

Und noch dies: Es hat sich in den ver­gan­ge­nen Wochen – wie stets in kri­ti­schen Pha­sen – her­aus­ge­schält, wer sich nicht nur an die poli­ti­sche Front wäh­len ließ, son­dern front­taug­lich ist und sei­nen Sold zurecht ein­streicht. Der Weg zur Gestal­tungs­macht und zu Deu­tungs­an­tei­len im vor­po­li­ti­schen Raum ist kein Pony­rei­ten, und viel­leicht ist das, was seit Mit­te Janu­ar auf­ge­führt wird, nur eine Fingerübung.

Mag sein, daß dies nicht jedem klar war, der sich expo­nier­te. Aber jetzt muß es jedem klar sein, und jeder soll­te begrif­fen haben, daß auch in die­sem Staat (oder gera­de in die­sem) kei­ner von denen, die seit Jahr­zehn­ten die Macht haben, bereit ist, Macht kampf­los abzu­ge­ben und daß die­se Geg­ner den Kampf dre­ckig füh­ren wer­den. Ein siche­res Indiz dafür ist stets die Behaup­tung, man habe die Demo­kra­tie zu ver­tei­di­gen gegen die Fein­de der Demokratie.

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Frei­tag, 2. Februar

Mal ein wenig Werk­statt­be­richt: Seit drei Tagen wird Mar­tin Sell­ners Buch Remi­gra­ti­on. Ein Vor­schlag im deut­schen Buch­sor­ti­ment des Online-Rie­sen ama­zon auf Platz 1 geführt. Wir hiel­ten die­se Pla­zie­rung schon ein­mal, im Som­mer und Herbst 2017, als das Kapla­ken-Bänd­chen Finis Ger­ma­nia von Rolf Peter Sie­fer­le zum Skan­dal­buch der Buch­mes­se in Frank­furt wurde.

Das Feuil­le­ton hat­te damals scho­ckiert reagiert und Sie­fer­les Nacht­ge­dan­ken von der Spie­gel-Best­sel­ler­lis­te ent­fernt – ein bis dato ein­ma­li­ger Vor­gang in der BRD. (Die Bes­ten­lis­te, die der NDR und die Süd­deut­sche Zei­tung gemein­sam erstellt hat­ten, wur­de gleich ganz auf­ge­ge­ben. Sie exis­tiert heu­te in geän­der­ter Form wieder.)

Aber zurück zu Sell­ners Remi­gra­ti­on (das Buch kann hier vor­be­stellt wer­den): Platz 1 bei ama­zon bedeu­tet 250 bis 1000 ver­kauf­te Exem­pla­re pro Tag. Man kann das nicht so genau sagen, denn es kommt auf den Druck an, den die Pla­zie­rung von hin­ten erfährt. Fin­den sich dort – im Janu­ar wahr­schein­li­cher als im Weih­nachts­ge­schäft – eher ruhi­ge Titel ein, kann man ganz vorn lan­den, ohne har­te Kon­kur­renz abhän­gen zu müssen.

Auch das im letz­ten Som­mer erschie­ne­ne Buch von Sell­ner, Regime Chan­ge von rechts, wird her­vor­ra­gend ange­nom­men und rei­tet auf einer zwei­ten Wel­le: Wir lie­fern seit ges­tern die 4. Auf­la­ge aus und haben gleich­zei­tig die 5. in Druck gege­ben. Poli­tik von rechts von Maxi­mi­li­an Krah wird mit­ge­zo­gen: Es lief in den Mona­ten davor etwas stär­ker als Sell­ners Regime Chan­ge, ist nun aber ein­ge­holt wor­den. Die 5. Auf­la­ge wird eben­falls gera­de gedruckt.

In der Zeit ist aus der Feder von Mari­am Lau übri­gens eine gan­ze Sei­te über die Theo­rie-Pro­duk­ti­on unse­res Ver­lags erschie­nen. Sie hat sich neben Sell­ners und Krahs Büchern auch die vor gut sechs Jah­ren erschie­ne­nen Bän­de Das ande­re Deutsch­land (von Erik Leh­nert und Wig­go Mann) und das legen­dä­re Mit Lin­ken leben (lei­der ver­grif­fen) von Mar­tin Licht­mesz und Caro­li­ne Som­mer­feld vor­ge­nom­men und einen Punkt getrof­fen: Damals übten wir uns noch in “brei­te Brust”, heu­te haben wir sie.

Noch im Wind­schat­ten segelt ein ande­rer Coup. Rober­to Van­n­ac­ci, Gene­ral der ita­lie­ni­schen Spe­zi­al­streit­kräf­te, hat im ver­gan­ge­nen Som­mer ein Bre­vier des gesun­den Men­schen­ver­stands vor­ge­legt. Das Buch wur­de im rechts­kon­ser­va­ti­ven, also nor­ma­len Ita­li­en zum Buch des Jah­res, Van­n­ac­ci zunächst beur­laubt. Im Dezem­ber aber wur­de er zum Chef des Gene­ral­stabs der ita­lie­ni­schen Land­streit­kräf­te ernannt – ein Skan­dal für deut­sche Zivil­ge­hir­ne, die davon aus­ge­hen, daß Gesin­nung Kön­nen ersetze.

Jeden­falls: Gene­ral Van­n­ac­cis Buch wird unter dem Titel Ver­dreh­te Welt. Eine Bestands­auf­nah­me zusam­men mit Sell­ners Remi­gra­ti­ons­vor­schlag bei Antai­os erschei­nen. Natür­lich wer­den wir Van­n­ac­ci zu unse­rem Som­mer­fest ein­la­den. Es könn­te dann etwas luf­ti­ger im Vor­trags­saal zuge­hen, denn viel­leicht wer­den wir zu die­ser Lesung nur Gedien­te zulas­sen (und sol­che, die ger­ne gedient hätten) …

Wer­den sehen, wie Lage und Stim­mung sich bis dahin entwickeln.

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Mon­tag, 29. Januar

Gemein­sam mit Maxi­mi­li­an Krah war ich zu Vor­trä­gen und Gesprä­chen in Wien und in Buda­pest. Rei­se und Pro­gramm hat­ten wir bereits im Dezem­ber fest­ge­legt. Aber ihre Auf­la­dung erhiel­ten die Besu­che erst in den ver­gan­ge­nen vier­zehn Tagen.

Denn in Öster­reich und in Ungarn, vor allem dort, inter­es­siert man sich nun dafür, wie es mög­lich sei, aus einer pri­va­ten Gesprächs­run­de von CDU- und AfD-Leu­ten ein “Geheim­tref­fen” zu kon­stru­ie­ren und es seman­tisch und emo­tio­nal mit der Wann­see­kon­fe­renz von 1942 zu verknüpfen.

In Wien waren Krah und ich zu Gast in den Räu­men der Öster­rei­chi­schen Lands­mann­schaft, ÖLM. Auf­ga­be die­ses 1880 gegrün­de­ten Ver­eins ist die Betreu­ung und Unter­stüt­zung deutsch­spra­chi­ger Min­der­hei­ten im Aus­land in allen Belan­gen. Ich hat­te im Saal der ÖLM schon im ver­gan­ge­nen Novem­ber vor­ge­tra­gen, damals (es kommt einem vor wie “damals”!) zu Ray Brad­bu­rys Roman Fah­ren­heit 451.

Das For­mat war dies­mal ein ande­res, wir tru­gen nicht ein­fach vor, son­dern ant­wor­te­ten stets bei­de auf Fra­gen zur Lage und zu den Hin­ter­grün­den der Kam­pa­gne. Das war leben­dig, man ergänz­te sich und kam in Fahrt, vor allem, weil man ein­an­der nicht aus­ste­chen woll­te, son­dern gemein­sam an der Lage­fest­stel­lung arbeitete.

In Buda­pest war es anders. Wir waren zu Gast im Insti­tut Imre Ker­té­sz, einer auf­wen­dig reno­vier­ten und her­vor­ra­gend aus­ge­stat­te­ten Jugend­stil­vil­la. Ich trug dort zehn The­sen zur “Lage der natio­na­len Oppo­si­ti­on in Deutsch­land” vor, Krah sprach über das Euro­pa­kon­zept der AfD und gab danach fünf oder sechs Inter­views, wobei neben regie­rungs­nä­he­ren auch oppo­si­tio­nel­le Medi­en­ver­tre­ter zum Zuge kamen (etwa hier).

Ich war im Apar­te­ment “Arthur Koest­ler” unter­ge­bracht, und das Gespräch mit dem Lei­ter des Insti­tuts dreh­te sich gleich um die “Tetra­lo­gie der Schick­sal­lo­sig­keit” von Ker­té­sz (von der ich nur den Band Roman eines Schick­sal­lo­sen gele­sen habe) und über Koest­lers Son­nen­fins­ter­nis. Die Dis­kus­si­on ent­wi­ckel­te sich in Rich­tung ver­schie­de­ner Libe­ra­lis­mus­be­grif­fe und Demo­kra­tie­theo­rien, und ich frag­te mich, als ich in der frei­en Stun­de eini­ges notier­te, wel­cher ande­re AfD-Poli­ti­ker in der Lage gewe­sen wäre, auf Deutsch und Eng­lisch über sol­che The­men so zu spre­chen, daß es sich ins Bild vom Men­schen ausweitete.

Mit Gast­ge­be­rin Mária Schmidt spra­chen wir in klei­nen Run­den über ande­re Din­ge. Erfreu­lich ist jedes Mal wie­der die Offen­heit und Direkt­heit der Leu­te: Dort regiert man längst, dort setzt man um, alles klug und auf Jah­re hin­aus ent­wor­fen. Ich habe wie­der viel gelernt und konn­te unge­schützt nach­fra­gen und nach­boh­ren. (Wäh­rend­des­sen löf­fel­te ich das Mark aus auf­ge­schnit­te­nen Kno­chen und streu­te Meer­ret­tich­kä­se dar­über – auch das mag ich so sehr an die­sen Län­dern, ost­wärts: das Ausgebreitete.)

Das alles vor den Vor­trä­gen. Wir hiel­ten sie nach den Hin­ter­grund­ge­sprä­chen am spä­ten Nach­mit­tag. Ich wer­de die­ser Tage mei­ne The­sen zusam­men­fas­sen und auf Punk­te kon­zen­trie­ren, die mei­ner Mei­nung nach über den Tag hin­aus­wei­sen und wie­der­um Tei­le des­sen beinhal­ten, was am Vor­tag in Wien, in der Woche zuvor in Dort­mund und im Cas­tell Auro­ra in Steyr­egg bei Linz schon zur Spra­che gekom­men war.

Und ich wer­de die­se The­sen an wei­te­ren Orten vor­tra­gen, vor allem im Westen.

Die Lage ist sur­re­al. Der Kan­di­dat der AfD für das Land­rats­amt im Saa­le-Orla-Kreis holt auf dem Höhe­punkt der Anti-AfD-Kam­pa­gne und unter dem Dau­er­feu­er eines ent­hemm­ten poli­ti­schen Geg­ners 48 Pro­zent der Stim­men – gegen alle ande­ren zusam­men; die AfD selbst ver­zeich­net seit zwei Wochen eine Ein­tritts­wel­le; wir selbst sam­meln am lau­fen­den Band Neu­abon­nen­ten und Erst­le­ser ein und arbei­ten im absur­den Tru­bel wie mit Scheu­klap­pen an den Satz­fah­nen der neu­en Bücher von Mar­tin Sell­ner (Remi­gra­ti­on. Ein Vor­schlag) und Rober­to Van­ac­ci (Ver­dreh­te Welt. Eine Bestands­auf­nah­me).

Der­weil ver­tieft der Kom­plex aus Staat, Par­tei­en, Zivil­ge­sell­schaft und Kir­chen den Riß bis zur Unüber­brück­bar­keit. Denn das ist das Ziel der lau­fen­den Kam­pa­gne: die Leu­te auf­ein­an­der­zu­het­zen und dadurch Herr­schafts­si­che­rung zu betrei­ben. Daß dies mit­tels einer Ver­leum­dung geschieht, die vom genann­ten Kom­plex durch­ge­tra­gen wird, ohne nen­nens­wer­ten Wider­spruch, ist ein Offen­ba­rungs­eid. Und es ist das, was mich am meis­ten erschreckt.

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Mon­tag, 22. Januar

Das schrieb ich mal, ist viel­leicht drei­ein­halb Jah­re her. Leser haben es aus­ge­gra­ben und mir zuge­schickt. Man muß also ab und an an sich selbst erin­nert wer­den. Und “aus­gra­ben” stimmt schon: Es ist in die­sen drei­ein­halb Jah­ren soviel an Sub­stanz und Dreck drü­ber­ge­häuft wor­den, daß man wirk­lich schach­ten muß. Also:

Jeder weiß doch, daß gera­de eine Demo­kra­tie wie die unse­re zwar stän­dig behaup­tet, nichts und nie­man­den zu unter­drü­cken, aber trotz­dem nur den­je­ni­gen Abweich­ler akzep­tiert, der sich sei­nen Platz macht­voll nahm oder mit einer ihm zuge­wie­se­nen Rol­le zufrie­den ist.

Die AfD ist mitt­ler­wei­le eine star­ke Par­tei, ihr Sie­ges­zug wirk­lich ein Tri­umph. Aber sie scheint immer dann an sich selbst irre zu wer­den, wenn es nach dem Tri­umph­zug, nach den scho­ckie­ren­den Sie­gen um den Auf­bau belast­ba­rer Struk­tu­ren geht – um Dis­zi­plin und Kärr­ner­ar­beit, nicht mehr um den Rausch der gro­ßen Pro­test­wel­len und den Zau­ber des Anfangs.

Die AfD – die geschnit­te­ne Par­tei, die von den “demo­kra­ti­schen Par­tei­en” zum unde­mo­kra­ti­schen Irr­läu­fer gebrand­mark­te Par­tei, die ein­zi­ge Oppo­si­ti­ons­par­tei, der ein­zi­ge Pol­ler, an dem unser Land auf par­la­men­ta­ri­schem Weg Hal­te­taue gegen sei­nen Unter­gang fest­le­gen kann;

die AfD – zugleich Trä­ger und Pro­fi­teur einer unge­heu­ren Hoff­nung, gera­de für den flei­ßi­gen, nicht glo­bal agie­ren­den, nicht ort­lo­sen, son­dern ver­ant­wor­tungs­be­wuß­ten und dadurch per se sozi­al ein­ge­stell­ten Teil unse­res Volkes;

die AfD – eine Alter­na­ti­ve für Deutsch­land, nicht eine für zu kurz gekom­me­ne Über­läu­fer aus den Alt­par­tei­en oder für Leu­te, die im Par­la­ment oder in Abge­ord­ne­ten­bü­ros nach einer Alter­na­ti­ve zu ihrem bis­he­ri­gen Berufs­le­ben suchen …;

die AfD – der erträg­li­che Abweich­ler, der ange­kom­me­ne Gesprächs­part­ner, der oppo­si­tio­nel­le Teil des Spek­ta­kels: was für eine Horrorvorstellung;

die AfD – als ech­te Oppo­si­ti­on, als tat­säch­lich alter­na­ti­ver Macht­fak­tor, als Gegen­ent­wurf zur Alt­par­tei­en­ver­krus­tung: Dafür lohnt es sich, immer wieder.

Es muß in die­sem Gegen­ent­wurf vor allem dar­um gehen, Wider­standstu­gen­den vor­zu­stel­len und auszubilden:

1. Durch­hal­te­ver­mö­gen: Deutsch­land braucht eine poli­ti­sche Alter­na­ti­ve, das ist heu­te so rich­tig wie bei Grün­dung der AfD. Die­se Alter­na­ti­ve ist etwas fun­da­men­tal ande­res als eine Ergän­zung des Alt­par­tei­en­sys­tems. Dar­auf, daß die AfD als Alter­na­ti­ve gebraucht wird, muß sie vertrauen.

2. Unbe­ding­ter Zusam­men­halt: Die Geg­ner (Par­tei­en, Zivil­ge­sell­schaft, Medi­en, Staat) wer­den immer etwas Skan­da­lö­ses fin­den, um die AfD zu dis­kre­di­tie­ren – wenn beim einen nicht, dann beim nächsten.

3. Nach­ah­mungs­ver­bot: die Din­ge anders ange­hen als die ande­ren Par­tei­en, ande­re Voka­beln ver­wen­den, den Kor­rum­pie­rungs­kräf­ten von Par­la­ment und Lob­by­is­mus aus­wei­chen, die eige­ne Daseins­be­rech­ti­gung dar­aus ablei­ten, daß man nicht dazugehört.

4. Bera­tungs­re­sis­tenz: Staat­li­chen Insti­tu­tio­nen wie dem Ver­fas­sungs­schutz, aber auch ver­meint­li­chen Abwä­gungs­in­stan­zen kei­ner­lei Recht ein­räu­men, die AfD nach kom­pa­ti­bel und inkom­pa­ti­bel aus­ein­an­der­zu­sor­tie­ren. Sich vom Geg­ner nicht erklä­ren las­sen, wie man für ihn akzep­ta­bel wäre.

5. Ein­deu­tig­keit: Wenn die AfD sich zer­fa­sert, strei­tet sie. Wie­so öffent­li­cher Rich­tungs­streit? Es hört doch sowie­so kei­ner zu, es pflich­tet doch den bes­ten Vor­schlä­gen kei­ner bei. Theo­rie­ar­beit, Maß­nah­men­ka­ta­lo­ge: ja, für die Schub­la­de, für spä­ter. Für jetzt nur ein Man­tra: Wir leis­ten Wider­stand gegen die ver­meint­li­che Zwangs­läu­fig­keit “alter­na­tiv­lo­ser” Poli­tik. Wir sind ein­deu­tig anders als die andern. Bereits die­ser Ruf reicht für Mil­lio­nen Wähler.

Und zuletzt: Roger Köp­pel, Welt­wo­che, hat in einer Ana­ly­se zur Lage der AfD ein­mal das Bild ver­wen­det von Pech und Schwe­fel, das auf die­je­ni­gen aus­ge­gos­sen wer­de, die als Ers­te die Lei­ter hin­auf­klet­ter­ten, um die Burg zu erobern.

Es ist schä­big von denen, die hin­ter­her­klet­tern, die­ser ers­ten Rei­he die ver­kleb­ten Haa­re und die besu­del­te Wes­te vor­zu­wer­fen. Bloß: Den Anstand, das nicht zu tun, haben vie­le der Nach­züg­ler nicht. Wer bringt ihn ihnen bei? Und wo ist die brei­te Brust, die sich vor die­je­ni­gen stellt, die gekämpft haben und die zurecht und mit sehr gute Argu­men­ten ver­lan­gen kön­nen, daß die Alter­na­ti­ve ihren Weg als Alter­na­ti­ve weitergeht?

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Mitt­woch, 3. Januar

Heu­te nur ein kur­zer Hin­weis: Ich warb zwi­schen den Jah­ren um Abon­ne­ments der Sezes­si­on und ver­wies auf Exem­pla­re der Dezem­ber-Aus­ga­be, die wir zusätz­lich zur Buch-Prä­mie bei­le­gen würden.

Dem Auf­ruf, die wich­tigs­te rech­te Zeit­schrift deut­scher Zun­ge zu abon­nie­ren, folg­ten über 90 neue Leser – genau gesagt: 93 seit dem 28. Dezem­ber. Das ist sehr erfreu­lich und ganz rich­tig so. Bloß bringt es uns in fol­gen­de Ver­le­gen­heit: 50 Exem­pla­re der 117. Sezes­si­on sind bei­sei­te­ge­legt, die ers­ten 50 Neu-Abon­nen­ten krie­gen sie, aber 43 wei­te­re wer­den leer ausgehen.

Also: nicht ganz leer. Wir legen älte­re Hef­te bei, aber eben nicht die 117 – älte­re Hef­te und viel­leicht noch eine Zusatz­über­ra­schung. Ich weiß, ich weiß, eigent­lich wäre das nicht nötig, jedoch ist’s ein Ereig­nis: Denn der Schwa­be gibt gern, aber sel­ten. Und jetzt ist gera­de einer die­ser Momente.

Ernst­haft: Dank allen, die nun gezeich­net haben. Wir arbei­ten bereits an der 118. Sezes­si­on, The­ma Ruß­land, das wird ein fei­nes Heft.

Und wäh­rend ich’s schrei­be, fällt mir ein: Die Win­ter­aka­de­mie, The­ma Ruß­land, ist voll, ist über­bucht. 200 Anmel­dun­gen auf 130 Plät­ze – Gott bewah­re, daß nun ein Neu­abon­nent das Heft 117 nicht kriegt UND kei­nen Platz auf der Aka­de­mie. Nicht, daß eine hoff­nungs­vol­le rechts­in­tel­lek­tu­el­le Kar­rie­re mit zwei Dämp­fern beginnt …

Ich wun­de­re mich übri­gens nicht, nicht die Boh­ne. Wäre ich jung, wäre ich Abon­nent und Aka­de­mie-Teil­neh­mer. Ich habe das neu­lich im Halb­schlaf ernst­haft geprüft: Es wäre so.

Wir haben ja damals Monat für Monat auf die JoteF gewar­tet wie auf eine Befehls­aus­ga­be und saßen auf Bur­schen­häu­sern zwi­schen Besof­fe­nen, um dem Pro­se­mi­nars­ge­stam­mel eines armen Füchs­leins bei­zu­woh­nen oder einem von Hegel ein­kas­sier­ten Rene­ga­ten dabei zuzu­schau­en, wie er die Welt­for­mel auf­lös­te – ohne Rest.

Wie schreibt (oder schrieb) man auf Twit­ter? “Dan­ke für 4000 Fol­lower! (Herz­chen, beten­de Hän­de, Herz­chen)”. Also: Dan­ke für 4000 Abos, und bit­te machen Sie sich klar: 4000 Abon­nen­ten für eine anspruchs­vol­le Zeit­schrift – das ist eine ande­re Ansa­ge als 4000 “Freun­de”, die sich durch Pro­fi­le scrollen.

Wer dazu­sto­ßen möch­te: hier abon­nie­ren, ABER ohne Aus­sicht auf Heft 117! Wer lie­ber Ein­zel­hef­te abgreift, von Mal zu Mal, dem sei die fro­he Bot­schaft zuge­ru­fen: Wir dru­cken ab der 118 ein biß­chen mehr, damit die Bestän­de län­ger als einen Monat reichen.

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Diens­tag, 2. Januar

Das neue Jahr ist abge­na­belt und schon den zwei­ten Tag alt, aber so recht eigent­lich steht die Zeit noch still, gera­de noch so. Natür­lich wer­den wir an den Durch­brü­chen betei­ligt sein in die­sem Jahr – die Marsch­rou­te ist klar, die Arbeit war­tet und die Zuver­sicht ist ein hel­ler Ton.

Aber jetzt soll’s noch nicht los­ge­hen. Jetzt muß noch ein wenig Ruhe sein. Zunächst will ich näm­lich allen Lesern und Freun­den, Gäs­ten und Autoren ein taten­fro­hes und gedan­ken­schwe­res Jahr 2024 wün­schen – eines, das uns vor­sto­ßen und tie­fer­boh­ren sieht, aber nie abhe­ben und spinnen.

(Es sei denn, dies wäre unse­re Rol­le: der Scha­ber­nack, das Spek­ta­kel, die ver­rück­te Stun­de, wenn alle bier­ernst mei­nen, daß jedes Pro­zent Ret­tung bedeu­te; wenn also jemand kom­men muß und sagen: recht so, und wich­tig und fein ist das alles. Aber denkt mal scharf und kraß und hem­mungs­los nach, denn wir haben es mit einer Zer­stö­rung zu tun, für die man sich zwei Gene­ra­tio­nen lang Zeit ließ, um sie gründ­lich zu erledigen.)

Ich habe die tie­fen, dunk­len  Tage und Näch­te genutzt, um zu lesen und zu hören. Übers Lesen schrieb ich oft, übers Hören sel­ten. Ich spie­le die Gei­ge und kann als bün­disch Gepräg­ter zwei­hun­dert Lie­der klamp­fen, aber trotz­dem kann ich vom Hören nur schrei­ben wie der Ein­äu­gi­ge vom Raumgefühl.

Ich habe vor Mona­ten einen Kanal ent­deckt, den, das ist mei­ne Ver­mu­tung, jemand füllt, den ich ein­mal kann­te, bloß schrift­lich, aber eben doch. Die­se Bekannt­schaft, ein deut­lich jün­ge­rer Mann, war begeis­ternd, weil er, Exper­te, etwas ein­trug, das ich nicht selbst hät­te zusam­men­stel­len kön­nen. Er hat­te Zugän­ge zu Archiven.

Das alles ist völ­lig unpo­li­tisch, es ist kul­tu­rel­ler und künst­le­ri­scher Boden, und wenn man sich was drauf ein­bil­det, Bruck­ner durch­ge­hört zu haben, so, daß man ihn an ein paar Tak­ten erken­nen mag, Wag­ner und Richard Strauß, Schost­a­ko­vitsch und Schu­mann, und vom Oze­an Bach schip­pernd ein paar Küs­ten­strei­fen kennt – dann fin­det man plötz­lich den abge­le­ge­nen Strand, das Neben­tal und die klei­ne Hüt­te und fragt sich, war­um davon nicht Tag für Tag etwas auf­ge­führt wird, so phan­tas­tisch ist das.

Ich tei­le nun aus die­sem Kanal drei Stück. Es ist ein Zufall, daß die­se Wer­ke alle 1934 urauf­ge­führt wur­den. Sie sind alle glei­cher­ma­ßen klas­sisch und modern, und vor allem sind sie so ein­präg­sam, daß man, wenn man ein Ohr für der­lei hat, nach dem zwei­ten Hören denkt, man kenn­te sie schon lan­ge. Also:

vom Slo­we­nen Blaz Arnic (1901–1970) das sym­pho­ni­sche Gedicht “Memen­to Mori”,

vom Japa­ner Koi­chi Kishi (1909–1937) die Sym­pho­nie “Bud­dah” (die Ent­de­ckung der ver­gan­ge­nen Tage)

und vom Deut­schen Hein­rich Kamin­ski (1886–1946) das Orches­ter­werk “Dori­sche Musik”;

Man fin­det von die­sen Wer­ken aus leicht zu den Kanä­len, die der Musik-Grä­ber aus Archi­ven geschürft haben muß. Ich den­ke, daß Leh­nert und ich mit unse­ren Lite­ra­tur­ge­sprä­chen über fast ver­ges­se­ne Schrift­stel­ler auf lite­ra­ri­schem Fel­de ähn­lich arbei­ten. Kul­tu­rel­les Gedächt­nis, Saat­gut­re­ga­le, Gen-Bank. Wir müssen’s auf­be­wah­ren. Alles.

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Don­ners­tag, 14. Dezember

In einer Mischung aus Erstau­nen und Gereizt­heit schrieb mir ein Leser auf mein abend­li­ches Sin­nie­ren über die Schlacht­fel­der des Donbas:

In Ihrem Tage­buch­ein­trag vom 9. Dezem­ber wei­sen Sie jun­ge Män­ner an, ihr Müt­chen zu küh­len mit­tels Video­schau. Anlass und Angel­punkt des Ein­trags scheint Ihre jüngs­te Video­er­fah­rung zu sein. Zur Erin­ne­rung: Der Video­raum ist der Erfah­rungs­raum jun­ger Män­ner die hier­zu­lan­de auf­wach­sen, mit­ein­be­grif­fen das Video­spiel. Ange­nom­men Sie wür­den in die­ser Gene­ra­ti­on eine Umfra­ge nach schöns­ten Kind­heits­er­in­ne­run­gen machen: Man wür­de Sie mit Com­pu­ter­spiel­an­ek­do­ten überhäufen.

Die­ser Erfah­rungs­raum hat sich in den ver­gan­ge­nen Jah­ren erwei­tert um ein Gen­re, das einen mas­si­ven Zuwachs erfährt: War­porn. Nein, kein Recht­schreib­feh­ler. Man redet so, da man irgend­wo weiß, womit man es zu tun hat. Instink­tiv und ohne Ihre theo­re­ti­sche Vor­bil­dung wird die Nen­nung als Beschwö­rung ange­se­hen. Eine Beschwö­rung von sol­chem, über das man nicht verfügt.

Jene jun­gen Män­ner ins­be­son­de­re, die sich in Ihre Tagun­gen und Ver­an­stal­tun­gen ver­lau­fen, sind Söh­ne der Por­no­gra­phie, vom Son­der­schü­ler zum Best­ab­itu­ri­en­ten, vom Wort­füh­rer zum Ord­ner. Was das heißt, wis­sen sie zumeist nicht. Schlim­mer noch, daß auch Sie sich dar­über nicht im Kla­ren zu sein scheinen.

Das Leben die­ser Jun­gen ist geprägt von offe­nen Wun­den. Und nein, damit ist nicht das Spek­ta­kel des Octa­gons gemeint, das sich in den letz­ten zehn Jah­ren fest eta­bliert hat und dem das Kriegs­spek­ta­kel nun den Rang abzu­lau­fen beginnt. Bei­des sind Fuß­no­ten zu jenem Wund­ge­schäft, das Ihre Zög­lin­ge zu einer Aus­nah­me­erschei­nung macht. Denn es gab sel­ten ein­zel­ne, und nie zuvor eine Gene­ra­ti­on, die, durch das, was ihnen von früh an zu Gesicht kam, so schwer ver­wun­det wurde.

Sie ken­nen Ihr Publi­kum kaum. Wis­sen nicht, was mitt­ler­wei­le unterhält.

Als ich Ellen Kositza beim Abend­brot die­se Zei­len refe­rier­te und mit einem Abschnitt aus Slo­ter­di­jks Regeln für den Men­schen­park ver­knüpf­te, sag­te sie spon­tan, daß der Mann Recht habe: Ich hät­te wohl tat­säch­lich kei­ne Vor­stel­lung davon, wie sehr sich die Seh­ge­wohn­hei­ten und der Abstump­fungs­le­vel jun­ger Leu­te von dem unter­schei­de, was ich so für gang und gäbe hielte.

(Mich ärger­te das, man will ja nicht der alt­ba­cke­ne Dachs sein, und wie stets in solch argu­men­ta­tiv aus­sichts­lo­sen Lagen brach­te mich das Geräusch des Brot­kau­ens der bei­den jun­gen Damen auf, die ihre Bei­ne noch unter mei­nen Tisch stel­len. Ich ver­bot augen­blick­lich den Han­dy-Kon­sum für den wei­te­ren Abend und sam­mel­te die Gerä­te ab.)

Aber natür­lich war mir spä­ter, als ich nur noch mich selbst Wein schlu­cken hör­te, klar, daß Kositza recht hat­te und daß es Zeit wer­den könn­te, ein jun­ges, abge­stumpf­tes, War­porn-ange­füll­tes Köpf­chen an der Pla­nung von Aka­de­mien und Hef­ten zu betei­li­gen – irgend­ei­nen depres­si­ven Hedo­nis­ten oder Incel­ler, der auf Leveln kämpf­te, von deren Exis­tenz ich nicht die lei­ses­te Ahnung habe.

Aber es ist ja für zyni­sches Gescher­ze viel zu ernst, das alles.

Daher nun Slo­ter­di­jks Sät­ze zu Bes­tia­li­sie­rung, 1999 geschrie­ben, und sein Essay wird – wie ich im Edi­to­ri­al der just ver­sand­ten Sezes­si­on 117 notier­te – im kom­men­den Jahr ein the­ma­ti­scher Schwer­punkt nicht nur des Som­mer­fests, son­dern auch der August-Aus­ga­be sein. Aus Regeln für den Men­schen­park, edi­ti­on suhr­kamp, S. 17ff:

Zum Cre­do des Huma­nis­mus gehört die Über­zeu­gung, daß Men­schen “Tie­re unter Ein­fluß” sind und daß es des­we­gen uner­läß­lich sei, ihnen die rich­ti­ge Art von Beein­flus­sung zukom­men zu las­sen. Das Eti­kett Huma­nis­mus erin­nert – in fal­scher Harm­lo­sig­keit – an die fort­wäh­ren­de Schlacht um den Men­schen, die sich als Rin­gen zwi­schen bes­tia­li­sie­ren­den und zäh­men­den Ten­den­zen vollzieht. (…)

Was die bes­tia­li­sie­ren­den Ein­flüs­se angeht, so hat­ten die Römer mit ihren Amphi­thea­tern, ihren Tier­het­zen, ihren Kampf­spie­len bis zum Tode und ihren Hin­rich­tungs­spek­ta­keln das erfolg­reichs­te mas­sen­me­dia­le Netz der alten Welt instal­liert. In den toben­den Sta­di­en rund ums Mit­tel­meer kam der ent­hemm­te homo inhu­ma­nus wie kaum je zuvor und sel­ten danach auf sei­ne Kos­ten. Erst mit dem Gen­re der Chain Saw Mas­sacre Movies ist der Anschluß der moder­nen Mas­sen­kul­tur an das Niveau des anti­ken Bes­tia­li­tä­ten­kon­sums vollzogen. (…)

Danach folgt eine Absa­ge an das Kon­zept der Abhär­tung durch Aus­set­zung, und Slo­ter­di­jk schlußfolgert,

daß Mensch­lich­keit dar­in besteht, zur Ent­wick­lung der eige­nen Natur die zäh­men­den Medi­en zu wäh­len und auf die ent­hem­men­den zu ver­zich­ten. Der Sinn die­ser Medi­en­wahl liegt dar­in, sich der eige­nen mög­li­chen Bes­tia­li­tät zu ent­wöh­nen und Abstand zu legen zwi­schen sich und die ent­menschen­de Eska­la­ti­on der thea­tra­li­schen Brüllmeute.

(Merkt noch jemand, wie die hilf­lo­se Kul­tur­kri­tik sich in Scha­le wirft – ein Vor­gang, den schon Geh­len müde belächelte?)

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Ergän­zung nach Mit­tag. Gera­de schrieb ein Leser noch dies:

Kürz­lich mach­te ich wie­der ein­mal den Feh­ler, in das 4chan-Forum poli­ti­cal­ly incor­rect rein­zu­schau­en. Dort hat­te ein User das von Ihnen the­ma­ti­sier­te Video mit dem ster­ben­den rus­si­schen Sol­da­ten rein­ge­stellt mit dem Kom­men­tar, “Why is it so satis­fy­ing wat­ching zig­gers suf­fe­ring?”, also “War­um ist es so befrie­di­gend, dabei zuzu­se­hen, wie Zig­ger leiden?”

“Zig­ger” ist die abwer­ten­de Bezeich­nung für Rus­sen. Das “Z” bezieht sich auf das tak­ti­sche Zei­chen, das die rus­si­schen Mili­tär­fahr­zeu­ge in der Ukrai­ne tra­gen, und “igger” bezieht sich auf “Nig­ger”.

Ande­re User mach­ten sich eben­falls über die Todes­qua­len des Sol­da­ten lus­tig. Einer mach­te den Vor­schlag, das Video jede Nacht in das Schlaf­zim­mer der Mut­ter des Sol­da­ten zu projezieren.

Auf 4chan wer­den stän­dig sol­che Bil­der und Vide­os ver­öf­fent­licht, und zwar von bei­den Sei­ten, also auch von Usern, die mit der rus­si­schen Sei­te sym­pa­thi­sie­ren. Von denen wer­den dann eben ent­spre­chend Vide­os und Bil­der von ver­letz­ten oder getö­te­ten ukrai­ni­schen Sol­da­ten gepostet.

Das bei Ernst Jün­ger so bedroh­lich wie magi­sche Spre­chen von “Räu­men” und “Zonen” (man den­ke nur an “Köp­pels­bleek” aus den Mar­mor­klip­pen) ist ins vom Gamer-Ses­sel aus Begeh­ba­re ausgeweitet.

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Sams­tag, 9. Dezember

Seit die kal­ten Novem­ber­re­gen ein­ge­setzt und die Frost­näch­te Ein­zug gehal­ten haben, den­ke ich viel an die Sol­da­ten in einem Krieg, der hin­ter dem Nah­ost-Kon­flikt zu einem zweit­ran­gi­gen Schau­platz gewor­den ist, aber mit grau­sa­mer Här­te geführt wird. Im Ukrai­ne-Krieg sind nun Käl­te und Näs­se ent­setz­li­che Gegner.

Wer als Sol­dat auch nur ein paar Wochen bei wid­ri­gem Wet­ter und eisi­ger Tem­pe­ra­tur im Frei­en ver­brin­gen muß­te, weiß, wovon ich spreche.

Wir alle waren nie im Krieg. Aber in mei­nem Fall waren die­se Wochen in der Win­ter­kampf­schu­le in Bal­der­schwang zu absol­vie­ren, und die Näch­te, die um kurz nach fünf began­nen, waren so eisig, daß wir in Bewe­gung blie­ben, um nicht zu erstar­ren. (Im Ohr Fet­zen des Skrew­dri­ver-Lieds “The Snow fell”). Ski mit Steig­fel­len, Win­ter­tarn, wil­len­lo­se Stun­den, und das alles war nur Übung. Kein Tod, kei­ne Todes­angst, abseh­ba­res Ende, zwei Wochen eben.

Ent­lang der Front im Don­bas lie­gen sich die Sol­da­ten im zwei­ten Kriegs­win­ter gegen­über, und wer die Bil­der von den Unter­stän­den sieht, in denen die Sol­da­ten kau­ern, muß mit­be­den­ken, daß es nicht um Arbeits­ta­ge mit abend­li­chem Sau­na­gang geht, wie auf den Win­ter­bau­stel­len im Frei­en. Es geht um Tage, Wochen und Mona­te ohne Ende.

Aber zu die­sem Leid, zu die­sen Sze­na­ri­en, die an die Stel­lungs­schil­de­run­gen Ernst Jün­gers aus dem I. Welt­krieg erin­nern und an die Kriegs­brie­fe aus Sta­lin­grad, gesellt sich ein Grau­en, das vor über hun­dert und vor acht­zig Jah­ren noch nicht über den Schlacht­fel­dern kreiste.

In einem Vor­trag über Ray Brad­bu­rys Roman Fah­ren­heit 451, den ich vor Wochen in Wien hielt, hat­te ich es ange­deu­tet: das Grau­en, das einen packt, wenn der Mensch von der Maschi­ne ver­folgt und zur Stre­cke gebracht wird. Ich bezog mich auf den “mecha­ni­schen Hund” im Roman, des­sen Injek­ti­ons­na­del den Staats­feind zur Stre­cke bringt, nach­dem die unfehl­ba­re Nase ihn auf­ge­spürt hat.

Als Bei­spiel unse­rer Zeit führ­te ich die Jagd an, die im Ukrai­ne-Krieg mit bewaff­ne­ten Droh­nen auf Boden­trup­pen gemacht wird. Im Netz gibt es hun­der­te Vide­os, die ahnungs­lo­se oder ver­zwei­felt davon­krie­chen­de Sol­da­ten zei­gen, deren Bewe­gun­gen aus der Luft gefilmt und deren Leben mit einer wie in einem Com­pu­ter­spiel abge­wor­fe­nen Gra­na­te been­det wird.

Ich stieß heu­te, als ich den Front­ver­lauf ein­mal wie­der nach­voll­zie­hen woll­te, auf einen Tele­gram­ka­nal, der sol­che ent­setz­li­chen Vide­os prä­sen­tiert. Ich kann mich nur an weni­ge Wahr­neh­mungs­mo­men­te in mei­nem Leben erin­nern, in denen ich inner­lich vor Ent­set­zen so erstarr­te wie heu­te Abend.

Das eine Mal liegt über vier­zig Jah­re zurück – als mir ein Anti­kriegs­buch aus dem Bestand mei­nes Groß­va­ters in die Hän­de fiel. In die­sem Buch waren Gesich­ter Kriegs­ver­sehr­ter aus dem I. Welt­krieg abge­bil­det, durch die Geschos­se gefah­ren waren und die aus gro­ßen Augen ohne Nase und Kie­fer und aus Mün­dern ohne Stirn, aber mit gräß­li­chen Zäh­nen bestan­den. Die Erschüt­te­rung wirk­te über Tage.

Das zwei­te Mal ergriff mich die­se Erstar­rung, als ich begann, in der Doku­men­ta­ti­on zu lesen, die das deut­sche Bun­des­ar­chiv mit Augen­zeu­gen­be­rich­ten über die Ver­trei­bung der Deut­schen aus den Ost­ge­bie­ten gefüllt hat­te. Ich schaff­te den Band über Böh­men zur Hälf­te, die ande­ren Tei­le ste­hen unan­ge­tas­tet im Bücher­schrank. Aus­weg­lo­sig­keit und Leid sind so ent­setz­lich, daß jede wei­te­re Lek­tü­re zumin­dest mein Gemüt auf lebens­ver­än­dern­de Wei­se berüh­ren würde.

Viel­leicht ein Drit­tes: die Hebung eines Mas­sen­grabs in Bos­ni­en, der ich als jun­ger Offi­zier bei­wohn­te; und ein Vier­tes: der von einem Mob tot­ge­prü­gel­te Mann in einer Klein­stadt im Süden Kame­runs, dem man Hexe­rei nach­ge­sagt hat­te. Als ich dem Geschrei nach­ging, anlang­te und ihn als den Anlaß der Zusam­men­rot­tung zwi­schen den Gaf­fern erspäh­te, tas­te­ten er noch mit einem ver­renk­ten Fin­ger nach etwas im nas­sen Lehm, bevor ihm ein gro­ber Beton­klotz auf den Kopf gerollt wurde.

Und heu­te: Das Film­chen einer ukrai­ni­schen Droh­nen­ein­heit, das mit einer rühr­se­li­gen rus­si­schen Melo­die anhebt und dann in einen Gitar­ren-Trash umkippt, wäh­rend man von oben ein­zel­ne rus­si­sche Sol­da­ten her­an­zoomt, die bereits ver­wun­det und hilf­los in einem zer­split­ter­ten Wald­stück lie­gen, unter Ästen, mit offe­nen Brü­chen, in sich gekrümmt, embryo­nal, bedürf­tig, schutzlos.

Wäh­rend die Droh­ne zoomt, fal­len Gra­na­ten gezielt auf und dicht neben die­se Män­ner. Die Gen­fer Kon­ven­ti­on ist einen Dreck wert, und wenn im Staats­funk von Lie­fer­schwie­rig­kei­ten für Droh­nen­bau­tei­le an der pol­nisch-ukrai­ni­schen Gren­ze die Rede ist, dann spre­chen wir über Ersatz­tei­le für Kampf­mit­tel, aus denen sol­che Fil­me entstehen.

Der letz­te rus­si­sche Sol­dat, der erle­digt wird, liegt ver­wun­det unter Geäst. Die Droh­ne läßt ihre Gra­na­te dicht vor sei­nen Rumpf fal­len. Dann zoomt die Kame­ra auf eine ent­setz­li­che Wun­de und auf einen stum­men Schrei und eine tas­ten­de Hand, die ver­sucht, das zer­fetz­te Auge, den abge­ris­se­nen Kie­fer und den Kno­chen­brei dort­hin zurück­zu­schie­ben, wo ein­mal ein Gesicht war, rund­lich, schon etwas älter.

Das hei­le Auge sucht den Him­mel ab, dann stirbt die­ser Mensch.

Ich möch­te, daß sich jeder mar­tia­lisch gestimm­te jun­ge Mann die­ses Video anschaut, jeder Kriegs­theo­re­ti­ker auch und natür­lich jede grü­ne Kriegs­trei­ber­see­le, die von einer von ihr so nicht vor­ge­se­he­nen Kriegs­mü­dig­keit der Deut­schen faselt und wei­te­re “Anstren­gun­gen” fordert.

(Man möch­te dort Zel­te errich­ten und mit gro­ßen wei­ßen Ban­nern und roten Kreu­zen in sol­che Wäl­der gehen, um jeden, der nicht mehr kann, ins War­me zu holen und ins Leben zu ret­ten. Ich bete nun den gro­ßen ortho­do­xen Abend­hym­nos für bei­de Sei­ten – wohl auch für mich, um die Erstar­rung zu lösen.)

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Diens­tag, 28. November

Rand­no­tiz 1: Der schwu­le tür­kisch­stäm­mi­ge Exmos­lem Ali Utlu und die jesi­di­sche Gat­tin des AfD-Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­ten Mar­tin Sichert, Ronai Cha­ker, behaup­ten seit Tagen auf allen ihnen zur Ver­fü­gung ste­hen­den Kanä­len, daß wir “Schnell­ro­daer” nur hete­ro­se­xu­el­le, natio­na­lis­ti­sche Deut­sche ohne Migra­ti­ons­hin­ter­grund in der AfD sehen woll­ten und alle ande­ren Anwär­ter zu ver­hin­dern wüßten.

An die­ser Unter­stel­lung stimmt vor allem eines nicht: Kei­ner von uns ist Par­tei­mit­glied und dort in Lohn und Brot, wo es um die Auf­nah­me neu­er Mit­glie­der geht. Kei­ner von uns kann etwas “ver­hin­dern”.

Herr Utlu ver­öf­fent­lich­te zuletzt eine Kari­ka­tur, auf der ein ihn wür­gen­des Schnell­ro­da sei­nen Traum von der AfD-Mit­glied­schaft zer­plat­zen läßt. Er will nun eine eige­ne Inter­net-Sei­te grün­den, um auf ihr den angeb­li­chen Haß aus unse­rer Rich­tung gegen ihn zu dokumentieren.

Frau Cha­ker-Sichert wie­der­um schrieb ges­tern über einen unse­rer Autoren:

Licht­mesz ist für mich im übri­gen ein lupen­rei­ner Anti­se­mit, denn er hat sich in einer Dis­kus­si­on mit mir, vor Jah­ren schon hin­ter die Hamas gestellt und deren Vor­ge­hen befürwortet.

Ich riet Licht­mesz ab, juris­tisch vor­zu­ge­hen. Man bie­tet Büh­nen und ver­liert Zeit.

Aber über die­sen Haß hät­ten wir sehr gern ein sehr gründ­li­ches Gespräch mit sowohl Frau Cha­ker-Sichert als auch Herrn Utlu geführt, um zu ergrün­den, wie ernst es ihnen mit der deut­schen Sache sei und war­um sie davon aus­gin­gen, daß wir jeden, der es wirk­lich ernst mei­ne, auf sei­ne Her­kunft abklopf­ten und in sein Schlaf­zim­mer späh­ten, um dann den Dau­men zu sen­ken oder zu heben.

Ich habe Frau Cha­ker-Sichert vor eini­gen Wochen und Herrn Utlu vor fünf Tagen Gesprächs­an­fra­gen zukom­men las­sen und bei­den jeweils frei­ge­stellt, ob solch ein Gespräch öffent­lich oder im stil­len Käm­mer­lein geführt wer­den sol­le. Im Fal­le von Frau Cha­ker erfolg­te die Anfra­ge auch über ihren Gatten.

Wie stets ging es mir, uns dar­um, aus dem Schwarz-Weiß des Geze­ters die Abschat­tie­rung der poli­ti­schen Rea­li­tät abzu­lei­ten. Weder Herr Utlu noch Frau Cha­ker-Sichert haben geantwortet.

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Rand­no­tiz 2: Der Jun­g­eu­ro­pa-Ver­lag hat heu­te die Fort­set­zung des skur­ri­len Pro­zes­ses um sei­nen Namen erlebt. Der Euro­pa Ver­lag klag­te vor einem Jahr, weil er Ver­wechs­lungs­ge­fahr und damit einen Vor­teil für die Jun­g­eu­ro­pä­er wähn­te, denen das hun­der­te, wenn nicht tau­sen­de Leser qua­si ins Fang­netz spü­len würde.

Schon in ers­ter Instanz ent­schie­den die Rich­ter, daß von einer Ver­wechs­lungs­ge­fahr kei­ne Rede sein kön­ne. Die­se Ein­schät­zung wur­de heu­te bestä­tigt, die Urteils­ver­kün­dung ist am 15. Dezember.

Dem Jun­g­eu­ro­pa-Ver­lag zu die­sem juris­ti­schen Erfolg zu gra­tu­lie­ren, wäre so, als klopf­te man jeman­dem auf die Schul­ter, der die Ziga­ret­te rich­tig her­um im Mund­win­kel hat … (Na klar, Jungs: Glückwunsch!)

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Frei­tag, 24. November

Der unga­ri­sche Staats­prä­si­dent Vik­tor Orbán hat zum 90. Geburts­tag der Schwei­zer Welt­wo­che den Fest­vor­trag gehal­ten. Ich emp­feh­le ihn, denn Orbán spricht klar und schnör­kel­los und kommt von der Kri­tik an Euro­pa und am west­li­chen Modell her auf den poli­ti­schen Ansatz sei­nes eige­nen Lan­des zu sprechen.

Die Kern­aus­sa­gen der Bestands­auf­nah­me lau­ten: Euro­pa habe sei­ne stra­te­gi­sche Sou­ve­rä­ni­tät seit lan­gem ein­ge­büßt; in Brüs­sel wer­de kei­ne euro­päi­sche Poli­tik gemacht, son­dern die Herr­schaft der Büro­kra­ten über die Poli­tik vor­ge­führt; die hin­ter Demo­kra­tie­durch­set­zung und Staats­be­frei­ung ver­bor­ge­ne US-Außen­po­li­tik wer­de mitt­ler­wei­le welt­weit als das durch­schaut, was sie sei: knall­har­te Inter­es­sens­po­li­tik; Euro­pa und nament­lich Deutsch­land wer­de als Vasall eines Hege­mons auf Abstieg ver­ar­men, wenn es sich nicht befreie.

Gegen­maß­nah­men skiz­ziert Orbán als Kon­zept der Selbst­ret­tung der Nati­on. Das hal­te ich für ent­schei­dend: Orbán, der mit dem fei­nen Witz des geüb­ten Red­ners und an Gold­waa­gen gewöhn­ten Poli­ti­kers spricht, ist grund­ehr­lich, wenn er das Gewicht Ungarns als zu leicht dafür beschreibt, in Euro­pa aufzutrumpfen.

Es geht im zwei­ten Teil also aus­schließ­lich um den Ver­such Ungarns, mit dem, was auf­ge­bür­det wird, zurecht­zu­kom­men und die Fol­gen für Volk und Nati­on abzu­fe­dern. Orbán weiß um die Ver­füh­rungs­macht der auch in Ungarn omni­prä­sen­ten ame­ri­ka­ni­schen Kul­tur­ho­heit, um ihre Prä­ge­kraft in der All­tags­kul­tur, dem Frei­zeit­ver­hal­ten und für die “Nar­ra­ti­ven” gera­de jün­ge­rer Generationen.

Orbán stellt kurz das “Work-First-Modell” vor, das nach­weis­lich als unat­trak­tiv für Ein­wan­de­rer, also vor allem: für Asyl­be­wer­ber gilt. Staat­li­che Absi­che­rung gebe es nur für die­je­ni­gen, die arbei­te­ten. Er bezeich­net die­ses Modell sogar als “kalt” im Ver­gleich zu dem, was etwa Deutsch­land macht. Das ist es: auf die Robust­heit der eige­nen Leu­te bau­en, um die Beu­te­ma­cher von außen abzuwehren.

Außer­dem streicht Orbán die unga­ri­sche Fami­li­en­po­li­tik her­aus, von der er – wie­der­um sehr ehr­lich – sagt, daß sie noch kei­ne demo­gra­phi­sche Wen­de her­bei­ge­führt habe, aber immer­hin das für Fami­li­en attrak­tivs­te Modell Euro­pas sei, bereits Früch­te tra­ge und damit die Chan­ce für eine Sta­bi­li­sie­rung des Volks aus eige­ner Kraft biete.

Ich will das noch ein­mal beto­nen: Ana­ly­se auf euro­päi­scher, Maß­nah­men auf natio­na­ler Ebe­ne. Wer nach­le­sen möch­te, wie Ungarn die­ses poli­ti­sche Pro­jekt zivil­ge­sell­schaft­lich abzu­si­chern ver­sucht, kann zum Bänd­chen Natio­na­ler Block von Már­ton Békés grei­fen. Orb­ans Rede gibt es hier zu sehen.

Im Ver­lag ist das Weih­nachts­ge­schäft ange­lau­fen. (Wir berech­nen bis Ende des Jah­res 1.50 € für Sen­dun­gen im Inland und lie­fern ab 70 € por­to­frei.) Es ist Jahr für Jahr schön zu sehen, wie das Buch doch Teil der Geschenk­kul­tur bleibt, obwohl ihm vom mobi­len Geschnip­sel und Geglot­ze so sehr zuge­setzt wird.

Bei uns recht­zei­tig ein­ge­trof­fen sind Nach­dru­cke der Essay-Rei­he Kapla­ken. Ich lis­te die Nach­dru­cke mal auf, es sind Samm­ler­stü­cke dar­un­ter und län­ger ver­grif­fe­nes. 65 Bänd­chen sind ins­ge­samt lie­fer­bar, und es gibt immer wie­der Leser, die uns gera­de erst ent­deckt haben, sozu­sa­gen aus dem Main­stream her­über­stol­pernd, und die Gesamt­ab­nah­me zeich­nen. (Recht haben sie! Die Rei­he Kapla­ken ist doch so etwas wie das Kern­holz der Szene …).

Hier also das, was nun wie­der erhält­lich ist:

Bd 79 – Ste­fan Scheil: Der deut­sche Donner
Bd 67 – Armin Moh­ler: Der faschis­ti­sche Stil
Bd 70 – Sophie Lieb­nitz: Antiordnung
Bd 53 – Thor v. Wald­stein: Macht und Öffentlichkeit
Bd 47 – Mar­tin Sell­ner, Wal­ter Spatz: Gelas­sen in den Widerstand
Bd 41 – Jean Ras­pail: Der letz­te Franzose
Bd 29 – Hen­ry de Mon­t­her­lant: Nutz­lo­ses Dienen
Bd 15 – Karl­heinz Weiß­mann: Post-Demokratie

Hier sind alle 65 lie­fer­ba­ren Bänd­chen auf­ge­lis­tet - so vie­le waren es noch nie. Und: Ste­fan Scheils Vie­rer­pa­ket “II. Welt­krieg” ist auch wie­der voll­stän­dig lieferbar.

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Sams­tag, 18. November

Also: Wie war das ges­tern vor und auf der Ram­pe (Trep­pe) der Uni­ver­si­tät Wien? Wir muß­ten uns prü­geln, dann gab’s die Kund­ge­bung und für den Abzug wur­de eigens für uns eine Stra­ßen­bahn requi­riert, eine “Bim”. Irgend­wie und immer wie­der irre, das Gan­ze. Dabei ging es doch bloß um ein Buch.

Die Ver­suchs­an­ord­nung habe ich vor zwei Wochen beschrie­ben: Der Ring Frei­heit­li­cher Stu­den­ten (RFS) hat­te zu einem öffent­li­chen Vor­trag in einen der Hör­sä­le der Uni­ver­si­tät ein­ge­la­den. Ich soll­te über den Roman Fah­ren­heit 451 von Ray Brad­bu­ry spre­chen. Das Recht zu sol­chen Ver­an­stal­tun­gen hat der RFS, aber es wur­de ihm ver­wehrt, und eine juris­ti­sche Durch­set­zung mißlang.

Die bis­her noch nicht öffent­lich agie­ren­de Grup­pe namens “Akti­on 451” mel­de­te dar­auf­hin eine Kund­ge­bung auf der Trep­pe zum Haupt­ein­gang der Uni­ver­si­tät an. Kositza und ich kamen mit ein paar Leu­ten kurz vor drei an – da war auf bei­den Sei­ten schon Anti­fa ver­sam­melt, und als sie uns sahen, begann’s zu sum­men wie in einem Wespennest.

Beim Über­que­ren der Stra­ße zur Trep­pe hin wur­den wir ange­grif­fen, sehr plötz­lich und mas­siv. Das letz­te Mal, daß mir so etwas pas­sier­te, ist fast zehn Jah­re her. Damals waren wir auf dem Weg zum Leip­zi­ger Able­ger von PEGIDA. Die Poli­zei hat­te den Opern­platz abge­rie­gelt und uns nur schma­le Durch­gän­ge ein­ge­räumt, die mit­ten durch Pulks ver­mumm­ter Anti­fa führ­ten. Man wur­de mit Schlä­gen ein­ge­deckt, wäh­rend man durchlief.

Ges­tern war es direk­ter, und gut ist es, mit den rich­ti­gen Jungs unter­wegs zu sein, wenn so etwas pas­siert. Die Poli­zei war völ­lig über­rascht, aber bis sie ein­griff, hat­ten wir uns schon Luft ver­schafft, nichts abge­kriegt, aber aus­ge­teilt. (Schön zu sehen, wie sich jun­ge Män­ner in Dresch­fle­gel ver­wan­deln, wenn es sein muß.)

Danach die Kund­ge­bung war gut orga­ni­siert, ich sag­te auch ein paar Wor­te, kaum zu Fah­ren­heit 451, mehr zu den Umstän­den. Ich ver­ste­he ja nicht, wie die Uni­ver­si­tät und die Lin­ke an sich immer wie­der so blöd sein kön­nen, den Wir­bel und die Auf­merk­sam­keit durch ihren Hygie­ne­fim­mel erst zu erzeugen.

Denn: Fahren­heit 451 ist kein rech­tes Buch. Es ist auch kein lin­kes Buch. Es ist kul­tur­kri­tisch, steht in der Tra­di­ti­on hilf­lo­ser Tech­nik- und Gesell­schafts­kri­tik und kann ver­ein­nahmt und als Chif­fre besetzt wer­den. Das haben wir zwei Jahr­zehn­te lang gemacht, aber erst seit ges­tern ist es ganz klar, daß die Zif­fer 451 und Feu­er­wehr­mann Mon­tag als Gestalt, als Typ, nun uns gehören.

Wäre ich im Besitz der Ver­an­stal­tungs­macht, hät­te ich mich zuge­las­sen und ein Podi­um gefor­dert, um mir die Deu­tungs­ho­heit über Fah­ren­heit 451 zu ent­rei­ßen. Aber der Schat­ten ist zu breit, die Lin­ke und die Mit­te kön­nen nicht mehr über ihn springen.

Den Vor­trag hielt ich dann spä­ter in den Räu­men der Öster­rei­chi­schen Lands­mann­schaft. Er ist auf­ge­zeich­net wor­den, wir ver­öf­fent­li­chen ihn bald. Das wird die­je­ni­gen nicht beein­dru­cken, denen egal ist, wor­über wir reden, Haupt­sa­che wir reden nicht. Aber es wird die Ver­ein­nah­mung ver­stär­ken und der Akti­on 451 ein wenig Theo­rie liefern.

Der Abzug von der Trep­pe und die Ver­le­gung zur Lands­mann­schaft war dann noch ein Spek­ta­kel. Die Poli­zei räum­te das aka­de­mi­sche Pro­le­ta­ri­at bei­sei­te, damit wir zur Stra­ßen­bahn kämen. Die wur­de extra auf­ge­hal­ten, und wäh­rend wir durch die Stadt zup­pel­ten, eskor­tier­te die Poli­zei im Lauf­schritt. Sur­re­al, so etwas, aber in der Situa­ti­on ganz logisch und plas­tisch und absurd. Aber auch: ein Erlebnis.

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Diens­tag, 14. November

Heu­te kommt Band 5 der Antai­os-Roman­rei­he aus dem Druck. Er ist Abon­nen­ten der Gesamt­rei­he vor­be­hal­ten, das war von vorn­her­ein abge­macht, davon rücken wir nicht ab.

Die ers­ten vier Bän­de der Rei­he sind sehr gut auf­ge­nom­men wor­den, kaum kri­tisch, oft begeis­tert. Jeden­falls hat sich bestä­tigt, was schon frü­he­re bel­le­tris­ti­sche und exklu­si­ve Ver­lags­pro­jek­te ein­brach­ten (Rei­he Mäan­der!): Es schrei­ben ganz ande­re Leser ihre Ein­drü­cke und Fra­gen auf als die­je­ni­gen, die im Blog kom­men­tie­ren oder auf unser poli­ti­sches Pro­gramm reagie­ren. Es ist, als stie­ße man mit sol­chen Büchern auf einen Kern der Leser­schaft vor, der zu den Stil­len im Lan­de gehört (wie Jochen Klep­per das ein­mal ausdrückte).

Autor und Titel des fünf­ten Ban­des ver­ra­ten wir nicht. Das ist eine der sprich­wört­li­chen Kat­zen im Sack, bloß kann ich sagen, daß es bei uns kei­ne trief­na­si­gen und schiel­äu­gi­gen Tier­chen gibt. Es gehört schlicht zu den Ver­le­ger­freu­den, um das Ver­trau­en der Leser auf das Ver­le­ger­händ­chen zu wissen.

Die berüh­rends­ten Brie­fe erhielt ich zu Hase­manns Gefan­gen­schafts­ro­man Nas­ses Brot. Die Lek­tü­re ist zäh wie die end­los lang­sam ver­strei­chen­de Zeit in einem Vieh­wa­gon auf der Fahrt nach Osten, auf einer klir­rend kal­ten Bau­stel­le in der Step­pe und im Durch­gangs­la­ger auf dem Weg in die Hei­mat, auf dem noch an den letz­ten Sta­tio­nen ohne Begrün­dung Gefan­ge­ne aus dem Zug gefischt und zurück ins End­lo­se geschickt werden.

Leser schrie­ben von Tage­bü­chern ihrer Väter und Groß­vä­ter, schil­der­ten den Abbruch der Lek­tü­re und die Wie­der­auf­nah­me nach Tagen der inne­ren Kräf­ti­gung. Einer schrieb, ob es sein müs­se, sol­che Tore auf­zu­sto­ßen. Ich mei­ne: ja, und zwar dann, wenn jemand wie Hase­mann das Tor auf­stößt. Er schrieb ja nur drei Bücher, danach hat­te er etwas erle­digt. Leh­nert und ich wer­den über ihn eine Lite­ra­tur­sen­dung machen.

Wir haben von den Gesamt­ab­nah­men der Roman-Rei­he noch etwa 100 Pake­te zu ver­ge­ben. Im Weih­nachts­pro­spekt, der neben­an gera­de ver­sand­fer­tig gemacht wird, sind die­se Pake­te noch ein­mal und abschlie­ßend im Angebot.

Hier kann man eines davon bestellen.

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Zwei­mal Björn Höcke, ein­mal er selbst, das ande­re Mal die­je­ni­gen über ihn, die ihn nicht ken­nen, aber so tun, als wüß­ten sie Bescheid.

Vor­ab aber Fol­gen­des: Ich gehö­re zu denen, die Höcke am bes­ten ken­nen. Wir haben über unser poli­ti­sches Den­ken, die Suche nach Gestal­tungs­mög­lich­kei­ten und die Kri­tik an Hin­ter­zim­mer, Eska­pis­mus, poli­ti­scher Melan­cho­lie und sub­stanz­lo­ser Kar­rie­re­ab­sicht bereits gespro­chen und gestrit­ten, als wir alle noch in klei­nen Zir­keln unter der gro­ßen Blei­de­cke saßen und Deh­nungs­übun­gen machten.

Es war im Okto­ber 2013, als ich mit eini­gen mei­ner Kin­der an den Fuß des Han­steins fuhr, um am Auf­takt zur 100-Jahr-Fei­er des damals rich­tungs­wei­sen­den jugend- und reform­be­weg­ten Meiß­ner­tref­fens teil­zu­neh­men. Die Nacht ver­brach­te ich mit der Jüngs­ten, die mir beim Wan­dern noch auf den Schul­tern saß, bei Höcke in Bornhagen.

Als es im Hau­se ruhig war, setz­ten wir uns zum Bier zusam­men, um über die noch sehr jun­ge Par­tei und über Höckes Enga­ge­ment dar­in zu spre­chen, das ihn bereits an die Lan­des­spit­ze Thü­rin­gens gebracht hat­te. Er war vol­ler Opti­mis­mus und berich­te­te von Ver­samm­lun­gen, Zustrom und ers­ten Richtungsentscheidungen.

Ich war skep­tisch, fast spöt­tisch, denn unser bei­der Erfah­rung mit den vie­len Kleinst- und Split­ter­par­tei­en von rechts war ernüch­ternd. Wir hat­ten deren Geh­ver­su­che schrift­lich und in Gesprä­chen beschrie­ben und ana­ly­siert, uns aber nie betei­ligt. “Die Frei­heit” war zuletzt schon als jun­ges Pflänz­chen ver­dorrt, und wir streif­ten sie nur, weil die Emp­feh­lung ihrer Bun­des­spit­ze, der AfD bei­zu­tre­ten, ent­we­der kurz bevor­stand oder schon erfolgt war (ich weiß es nicht mehr).

Spät in der Nacht jeden­falls hat­te mich Höcke mit sei­ner Zuver­sicht doch unsi­cher gemacht. Im Unter­schied zu allen ande­ren Par­tei­grün­dun­gen war die AfD nicht von rechts, son­dern aus der ent­täusch­ten und alar­mier­ten Mit­te der CDU her­aus initi­iert wor­den. Nur ein ein­zi­ges Mal hat­te es etwas Der­ar­ti­ges bis­her gege­ben: Der Ham­bur­ger Rich­ter Ronald Schill war auf Anhieb mit einer eige­nen Lis­te in die Bür­ger­schaft ein­ge­zo­gen, weil auch er den Duft des­je­ni­gen ver­ström­te, des­sen poli­ti­sche Her­kunft kein abge­brann­ter Rand war.

Höcke been­de­te damals unser Gespräch mit den Wor­ten, daß wir mal sehen müß­ten, inwie­weit die Herr­schaf­ten aus der Mit­te für genu­in rech­te The­men offen wären. (Der Rest ist bekannt – samt Bernd Luckes poli­ti­schem Sal­to Mortale.)

Wenn ich dar­über nach­den­ke, wie sehr das libe­ral­kon­ser­va­ti­ve AfD-Lager uns und vor allem Höcke die Schuld zuschob, daß man die für ihren poli­ti­schen Mut bekann­te bür­ger­li­che Mit­te ver­lo­ren und eines der hoff­nungs­volls­ten Par­tei­pro­jek­te aller Zei­ten an den Rand des Abgrunds und dar­über hin­aus gescho­ben hätte!

Höcke gehör­te zu den­je­ni­gen, die sich unter dem Ein­druck die­ser Kri­tik aus den ver­meint­lich eige­nen Rei­hen nicht zu Lands­knechts­na­tu­ren wan­del­ten und sen­gend durch die Par­tei zogen. (Sol­che Kan­di­da­ten gab es.) Was sei­ne par­tei­in­ter­nen Geg­ner unter­schätz­ten und bis heu­te unter­schät­zen, ist die Macht der Begeg­nung und die Über­zeu­gungs­kraft der Persönlichkeit.

Ich habe Par­tei­ver­an­stal­tun­gen erlebt, die feil­schen­den Basa­ren gli­chen, bis zur Rück­sichts­lo­sig­keit laut und geschwät­zig, obwohl vorn einer am Pult stand und sprach – und die zu Räu­men wur­den, in denen man noch den Letz­ten zur Ruhe zisch­te, weil Höcke ans Mikro­fon trat.

Ich ken­ne etli­che Par­tei­leu­te, die, auf­ge­la­den nicht nur von der Lücken­pres­se, son­dern von den eige­nen Leu­ten, in Höcke den dump­fen, rück­sichts­lo­sen Sprü­che­klop­fer sahen – und im Gespräch ihr Feind­bild nicht fan­den, son­dern in einer Mischung aus Ver­wir­rung und Erleich­te­rung kein schlech­tes Wort mehr über die­sen Mann hören woll­ten, son­dern sei­nen Weg akzeptierten.

War­um notie­re ich das alles noch ein­mal, wo ich es schon hier und da beschrie­ben und in unge­zähl­ten Gesprä­chen inner­halb und außer­halb der AfD erzählt habe? Der Anlaß ist bald zwei Wochen alt. Ich hör­te beim Holz­schich­ten im Kon­tra­funk die Sonn­tags­run­de mit Burk­hard Mül­ler-Ulrich und sei­nen Gäs­ten, und es ging um Höcke.

Zu Gast war ers­tens Vera Lengs­feld. Sie lag mir schon vor sie­ben Jah­ren, als ich sie in Son­ders­hau­sen besuch­te, damit in den Ohren, daß in Thü­rin­gen eine fei­ne Regie­rung aus CDU und AfD sofort mög­lich sei, wenn Höcke zurück­trä­te und den Weg frei mach­te für einen Kon­ser­va­tiv­li­be­ra­len in der AfD. Aber schon damals begriff sie nicht, daß sich inmit­ten der Lawi­ne aus Kri­sen, Dys­funk­tio­na­li­tät, Über­frem­dung und Vasal­len­glück die fein­sin­ni­ge Unter­schei­dung zwi­schen der Volks­front von Judäa und der Judäi­schen Volks­front als irrele­vant erwei­sen müs­se, und zwar mit jedem Tag mehr. Sie begriffs wirk­lich nicht, das habe ich jetzt gehört, denn im Kon­tra­funk wie­der­hol­te sie ihren alten Ser­mon, obwohl die AfD auch rund um Son­ders­hau­sen bei über 30 Pro­zent steht.

Dann Ingo Lang­ner, fleisch­ge­wor­de­ne BRD, bis weit in die 2000er Jah­re mit­ten im Kul­tur­be­trieb (dafür muß man sich ja fast schon ver­ant­wor­ten, fin­de ich) und nun neu­er Chef­re­dak­teur bei CATO, dem Maga­zin fürs War­te­zim­mer. Er äußer­te sich am schä­bigs­ten über Höcke und gab dabei zu, die­sen Mann ers­tens gar nicht per­sön­lich zu ken­nen, zwei­tens des­sen Gesprächs­band Nie zwei­mal in den­sel­ben Fluß gar nicht gele­sen, son­dern drit­tens sein Wis­sen über Höcke einer Rezen­si­on die­ses Buches aus der Feder Die­ter Steins ent­nom­men zu haben. Das nen­ne ich Augenhöhe!

Peter J. Bren­ner zuletzt: Autor unter ande­rem bei Tumult, bekannt durch das Abfas­sen von Offe­nen Brie­fen an Redak­tio­nen, deren Weg er als Abon­nent oder Mit­glied nicht mehr tei­len woll­te, nament­lich FAZ (2020) und wbg (2019). Er sieht Höcke “die zwölf Jah­re” bewirt­schaf­ten, kanns aber nicht bele­gen, und in der Sonn­tags­run­de gab er sei­nem ungu­ten Gefühl dar­über Ausdruck.

Burk­hard Mül­ler-Ulrich war irgend­wie kon­ster­niert. Die­ses Gere­de vom Hören­sa­gen her und im Dia­lekt der Wer­te­Uni­on – das gefiel ihm nicht. Aber die­se Leu­te fin­den ja Gehör.

Jedoch: Ich will jetzt mal behaup­ten, daß die kaum wahr­nehm­ba­re Argu­men­ta­ti­ons­li­nie von den Drei­en kaum zu hal­ten sein wird. Es wird sogar ganz schön schwie­rig, wenn ich jetzt mal Höcke zitie­re, ohne ihn gefragt zu haben, ob ich das darf. Aber es paßt halt so gut, und er äußer­te es neu­lich, als wir end­lich wie­der ein­mal ein paar Stun­den wan­dern konn­ten. “Götz”, sag­te er, “das ist alles nicht schön, aber wir ken­nen das ja, oder? Und jeder will sein Süpp­chen kochen. Aber am Ende gehö­ren die eben doch alle zu uns. Und wir brau­chen jeden, wirk­lich jeden, so groß ist die Aufgabe.”

So ist es, und wer das begrif­fen hat, weiß, wie es klingt, wenn man Eng­stir­ni­gen und Korin­then­ka­ckern den Maß­stab erklärt: Unser Volk und unse­re Demo­kra­tie müs­sen geret­tet wer­den, und das ist kei­ne Butterfahrt.

Des­halb, und weil es wich­tig ist, zu sehen, wie einer ant­wor­tet, wenn er mal nach­den­ken darf, bevor er ant­wor­ten muß, emp­feh­le ich als zwei­tes das gro­ße Inter­view, das der sehr gut vor­be­rei­te­te Mar­tin Mül­ler-Mer­tens für Auf1 mit Höcke geführt hat. Hier ist es.

(Ergän­zun­gen, Fund­stü­cke und kri­ti­sche Anmer­kun­gen rich­ten Sie bit­te an [email protected]. Ich wer­de aus­brei­ten, was sich ansam­melt. Jedoch geht es nicht um übli­ches Kom­men­ta­ri­at, son­dern um Fort­schrei­bung. Wir wer­den sehen, wie das klappt.)

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Mon­tag, 6. November

Der Druck­aus­ga­be der Sezes­si­on liegt in unre­gel­mä­ßi­gen Abstän­den das Lite­ra­tur­heft Pho­no­phor bei. Es ent­hält Kurz­pro­sa aus der Leser­schaft. Wir rie­fen Anfang ver­gan­ge­nen Jah­res erst­mals zur Betei­li­gung auf. Idee und Name gehen auf eine Initia­ti­ve des Sezes­si­on-Autors Dirk Alt zurück: Der “Pho­no­phor” ist eine Art Smart­phone. Er taucht in Ernst Jün­gers Roman Eumes­wil bereits auf und wird indif­fe­rent als Sta­tus­sym­bol, ins­ge­samt aber als pro­ble­ma­tisch beschrieben.

Was mich freut, ist, daß unser Pho­no­phor, Aus­ga­be 4, nun an zwei unter­schied­li­chen Stel­len aus­führ­lich gewür­digt wor­den ist. Die Publi­zis­tin Bea­te Broß­mann hat für das Blog der Zeit­schrift Tumult rezen­siert, Phil­ip Stein und Vol­ker Zier­ke bespre­chen Aus­ga­be 4 im Jun­g­eu­ro­pa-Pod­cast.

Auch Ellen Kositza und ich haben den Pho­no­phor erwähnt, als wir die 116. Sezes­si­on in einem kur­zen Video vor­stell­ten. Dabei ist neben mei­ner Pro­jek­ten grund­sätz­lich ent­ge­gen­ge­brach­ten Skep­sis die Freu­de über die Kon­ti­nui­tät und Qua­li­tät die­ser Bei­la­ge zu kurz gekom­men. Leser frag­ten, ob ich den Pho­no­phor wie­der ein­stel­len wol­le. Aber nein, im Gegen­teil! Wie schon oft, sind wir auch auf die­sem Feld Pio­nie­re und machen, was fehlte.

Um ein wei­te­res Miß­ver­ständ­nis aus­zu­räu­men: Der 4. Pho­no­phor wird jeder 116. Sezes­si­on bei­gelegt, egal ob im Abon­ne­ment oder als Ein­zel­heft erwor­ben – jedoch nur, solan­ge der Vor­rat reicht. (Er ist auf 25 Hef­te geschrumpft.) Bestel­len kann man hier.

Der Ring Frei­heit­li­cher Stu­den­ten (RFS) aus Wien hat mich zu einem Vor­trag an die Uni­ver­si­tät ein­ge­la­den. Man hat das Recht auf öffent­li­che Ver­an­stal­tun­gen in Hör­sä­len, wenn man im Hoch­schul­par­la­ment ver­tre­ten ist, und die­ses Recht will der RFS am 17. Novem­ber wahr­neh­men. Zwar hat die Uni­ver­si­täts­lei­tung den Ver­trag für die­se Ver­an­stal­tung umge­hend gekün­digt, nach­dem bekannt wur­de, daß ich dort vor­tra­gen sol­le. Aber gegen die­se Kün­di­gung wird nun geklagt.

Ich wer­de am 17. auf jeden Fall pünkt­lich an der Uni­ver­si­tät sein und den ver­ein­bar­ten Vor­trag über das Buch Fah­ren­heit 451 von Ray Brad­bu­ry in der Tasche haben. Feu­er­wehr­mann Mon­tag ist eine unse­rer Iko­nen, denn er steht fast allein neben der beläm­mer­ten Mas­se und gegen ihre Domp­teu­re, die das Lesen ver­bo­ten und fast alle Bücher ver­brannt haben. Er steht aber nicht ganz allein, denn man erkennt ein­an­der am Hun­ger auf ande­re Kost als die, die durch die Git­ter­stä­be gereicht wird. Man tas­tet ein­an­der ab, man faßt Ver­trau­en, man sieht eine Lebenstür.

Unse­re Sze­ne hat für Dys­to­pien viel übrig, sie ist hell­hö­rig, hat das geschul­te Gehör derer, die auf­ge­wacht sind und die Schrit­te der Wär­ter stu­die­ren. Legen wir uns wie­der hin oder klop­fen wir die Wän­de ab? Lesen wir, daß es anders sein könn­te oder lie­fern wir die Bücher an die­je­ni­gen ab, die selbst die Erin­ne­rung an sie noch til­gen möch­ten? Begrei­fen wir unser Leben als gol­de­nen Käfig oder sehen wir die Stä­be nicht mehr?

Es gibt unter Umstän­den kein Recht auf den ande­ren Ton an der Uni­ver­si­tät, so naiv bin ich nicht. Aber es wird drin­gend Zeit für einen ande­ren Ton, und wir erhe­ben Anspruch dar­auf. Wenn es also die Mög­lich­keit gibt, sich Zutritt zu ver­schaf­fen und Platz zu neh­men, dann soll­ten wir sie ergreifen.

Wir ergrei­fen sie übri­gens als die­je­ni­gen, die davon berich­ten wol­len, wie schön und befrei­end es ist, sich geis­tig nichts von vorn­her­ein ver­bie­ten zu müs­sen. Ich bemit­lei­de die Ver­tre­ter der Can­cel cul­tu­re. Ich bemit­lei­de sie wirk­lich, denn sie haben sich selbst so vie­les ver­bo­ten, haben sich selbst mit Auf­pas­sern umstellt, sind ein­an­der zu Auf­pas­sern gewor­den, weil sie sich in einem Minen­feld wähnen.

Dabei sind sie bloß Mimo­sen und haben sich Hygie­ne­vor­schrif­ten unter­wor­fen, die das Leben und Lesen zu einer asep­ti­schen Sache machen.

Wir hin­ge­gen müs­sen nicht vor­ein­an­der recht­fer­ti­gen, mit wem wir spre­chen, was wir lesen, wem wir zuhö­ren und von wem wir ler­nen wol­len. Noch nie muß­te ich zu jeman­dem sagen, er sol­le ein Gespräch, das wir führ­ten, so behan­deln, als habe es nie stattgefunden.

Aber wie oft schon sag­ten mir die ver­ängs­tig­ten, ver­zwei­fel­ten, rat­lo­sen, zyni­schen, vor allem aber ver­meint­li­chen Geg­ner, mit denen ich mich traf, um Rede und Ant­wort zu ste­hen, daß das sozia­le Höl­len­tor geöff­net wür­de, käme ans Licht, mit wem sie sich gera­de austauschten.

Denen, die nun die Tür zum Hör­saal ver­na­geln wol­len, muß man die Angst neh­men. Leu­te: Es han­delt sich um einen Vor­trag. Es wird um einen der Klas­si­ker über die Selbst­er­mäch­ti­gung gehen, nach Büchern zu grei­fen, sie nicht zu ver­bren­nen, son­dern zu ret­ten und ihren Inhalt so zu ver­in­ner­li­chen, als sei man selbst die­ses Buch.

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Diens­tag, 31. Oktober

Zum ers­ten Mal in mei­nem Leben auf einer Galopp-Renn­bahn: Halle/Saale, Volks­fest­stim­mung, Gulasch und Bier, sie­ben Ren­nen. Was fas­zi­nier­te, wie bei Jägern: die ganz eige­ne Spra­che, die in den Ankün­di­gun­gen und Sie­ger­inter­views eben nicht gepflegt, son­dern ein­fach ver­wen­det wurde.

Da gaben Pfer­de ihr Lebens­de­büt, als begän­ne das Leben erst, wenn man die Renn­bahn betritt. Von Aus­gleichs­ren­nen und Han­di­caps war die Rede, und bei­des hat mit Gewich­ten zu tun, die den Pfer­den ange­hängt wur­den, damit auch ande­re eine Chan­ce bekä­men. Ein Mann knurr­te was von Blen­dern, die sei­ne Drei­er­wet­te ver­saut hät­ten. Dabei hing der Gaul samt sei­nem Jockey mit den gestreif­ten Far­ben bloß im Lot und konn­te nicht vorbei.

Eini­ge Besu­cher mach­ten auf Stil, also Tweed und Karo und Frau­en mit Sonn­tags­rei­ter­mo­de plus hohen Stie­feln und Sekt­glas. An den Wett­kas­sen end­lo­se Schlan­gen, und ein paar Män­ner mit Feld­ste­cher und Notiz­blö­cken setz­ten nicht aus Jux. Ich sprach einen an, aber das Miß­trau­en war grob.

An den Bier­ti­schen und auf der Tri­bü­ne lausch­te ich den Gesprä­chen: nicht ein poli­ti­sches Wort. Aber ein paar Handschläge.

Gespräch mit einem Sicher­heits­exper­ten aus Öster­reich. Er war für die UN-Frie­dens­trup­pe auf den Golan­hö­hen an der syri­schen Gren­ze und hat den Abzug der öster­rei­chi­schen Ein­hei­ten von dort im Jahr 2013 mit­ge­macht. Er ist mit einer Israe­lin ver­hei­ra­tet, lebt in Wien und ist oft in Tel Aviv – Sicher­heits­be­ra­tung für Import und Export.

Wir tra­fen uns in Leip­zig. Sei­ne Ant­wort auf mei­ne Fra­ge, ob Isra­el über­rascht wor­den sei am 7. Okto­ber, ver­blüff­te mich in ihrer Direkt­heit. Er sag­te ers­tens, es sei völ­lig aus­ge­schlos­sen, daß Isra­el im Vor­feld kei­ne Kennt­nis von die­sem Angriff gehabt habe, also wirk­lich völ­lig aus­ge­schlos­sen. Man habe es aus ver­schie­de­nen Grün­den gesche­hen lassen.

Da sind innen­po­li­ti­sche Grün­de zum einen, also Ablen­kung von inner­is­rae­li­scher Span­nung, und zum ande­ren außen­po­li­ti­sche Grün­de, näm­lich die Legi­ti­ma­ti­on für einen mani­fes­ten Gegen­schlag, für den es wie­der ein­mal an der Zeit gewe­sen sei.

Jedoch, zwei­tens: Isra­el habe die eige­ne Grenz­si­che­rung über­schätzt und sei von der Wucht und der Bru­ta­li­tät der Angrei­fer am Boden über­rum­pelt wor­den. Man habe falsch kal­ku­liert, weil man nur weni­ge habe ein­wei­hen kön­nen, also im Grun­de kaum jeman­den von denen, die den ers­ten Wel­len­bre­cher zu bil­den gehabt hätten.

Die Lage sei, drit­tens, mili­tä­risch für Isra­el gut, aber psy­cho­lo­gisch schlecht. Mili­tä­risch: Er selbst ken­ne kei­ne Armee, die am For­ma­len weni­ger inter­es­siert und zugleich so kon­se­quent auf Effek­ti­vi­tät aus­ge­rich­tet sei. Ich ver­mu­te­te, daß dies der Zustand sei, wenn Waf­fe und Bereit­schaft nicht hin­ter Kaser­nen­mau­ern abge­trennt, son­dern lebens­ge­gen­wär­tig sei­en. Er bestä­tig­te und füg­te hin­zu, daß aus die­sem Grund die His­bol­lah nicht wirk­lich ein­grei­fe: Man wür­de nicht das weni­ge an guten Waf­fen und Leu­ten opfern, das bes­ser sei als die Hamas, aber immer noch um Wel­ten schlech­ter als Israel.

Pro­ble­ma­tisch sei der Häu­ser­kampf, das Auf­räu­men in den kilo­me­ter­lan­gen Kata­kom­ben unter dem Schutt, den die Luft­waf­fe pro­du­ziert habe. Eine alte Leh­re aus dem 1. Welt­krieg schon: daß die Stel­lung unter einem ein­mal in sich zusam­men­ge­bro­che­nen Haus siche­rer sei als alles ande­re. Sol­che Höh­len­sys­te­me aus­zu­räu­men, das bedeu­te: Einer ist vor­ne­weg, da gäbe es kei­ne Alter­na­ti­ve, und wenn der nicht mehr sei, dann eben der zwei­te, dann der drit­te. Selbst die wirk­lich guten Ein­hei­ten kämen dabei an ihre Belastungsgrenze.

Psy­cho­lo­gisch sei Isra­el trotz über­wäl­ti­gen­der Lob­by­ar­beit bereits im Hin­ter­tref­fen: Die Hamas spie­le das Spiel mit den Gei­seln sehr geschickt, und die mehr als abschät­zi­gen und rück­sichts­lo­sen Äuße­run­gen höchst­ran­gi­ger israe­li­scher Poli­ti­ker und Mili­tär­an­ge­hö­ri­ger sei­en ein media­les Desas­ter. Aber das sei nicht ein­zu­he­gen: Das sei ehr­lich so gemeint, for­mal schnodd­rig und im Front-Slang derer, die wis­sen, was sie kön­nen, wer der Feind ist und was die­ser Feind täte, wenn er nur könnte.

Aber vier­tens: 350 000 ein­ge­zo­ge­ne, von der Arbeit abge­zo­ge­ne Reser­vis­ten, zig­tau­send aus dem Land geflüch­te­te Arbeits­kräf­te, und eben kei­ne Lehm­hüt­ten plus drei Zie­gen, son­dern eine moder­ne Dienst­leis­tungs­ge­sell­schaft. Jeder Tag ist ein öko­no­mi­sches Desas­ter für Isra­el, jeder Ver­lust reißt eine gra­vie­ren­de Lücke, nicht nur menschlich.

Eine Lösung sei nicht in Sicht. Die Sand­uhr wer­de umge­dreht, wie in der Sau­na. Irgend­wann, viel­leicht in sie­ben, viel­leicht in zehn Jah­ren rie­se­le dann das letz­te Körn­chen, und dann kra­che es wie­der. Aber nun sei man ja erst ein­mal mittendrin.

Sol­che Gesprä­che – was sind sie? Bestä­ti­gun­gen des Geahn­ten, ergänz­te Aspek­te, Ein­übung in eine frem­de Men­ta­li­tät. Vor allem: Berich­te aus der Fer­ne, zu denen man sich nicht ver­hal­ten muß. Wie ich schon schrieb (und der Sicher­heits­be­ra­ter, der mei­nen Bei­trag gele­sen hat­te, bestä­tig­te die­se Sicht­wei­se fast schon emo­tio­nal): Isra­el braucht uns nicht.

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Sams­tag , 29. Oktober

1999 erreich­te der dama­li­ge Außen­mi­nis­ter Josch­ka Fischer auf dem Son­der­par­tei­tag der Grü­nen im Mai die Zustim­mung sei­ner Par­tei zum Angriff der Nato auf Ser­bi­en und zum Ein­marsch in den Koso­vo. Er argu­men­tier­te damals auf der meta­po­li­tisch jahr­zehn­te­lang vor­be­rei­te­ten Grund­la­ge, daß es nie wie­der zu Faschis­mus und zu Ausch­witz kom­men dürfe.

Meta­po­li­ti­sche Vor­be­rei­tung bedeu­te­te in die­sem Fall, daß die­se Begrif­fe los­ge­löst von ihrer his­to­ri­schen Ein­bet­tung in eine Epo­che zu Chif­fren gewor­den waren. Ihre Wir­kung beruh­te nicht auf Nach­voll­zieh­bar­keit eines statt­haf­ten Ver­gleichs, son­dern auf scho­ckie­ren­der Über­wäl­ti­gung und der Nicht­hin­ter­frag­bar­keit eines Glaubenssatzes.

Nur von der zivil­re­li­giö­sen Auf­la­dung sol­cher kol­lek­ti­ver deut­scher Schuld her ist zu erklä­ren, wie der dis­si­den­te Jour­na­list Juli­an Rei­chelt mit dem Ver­weis auf die Bom­bar­die­rung deut­scher Städ­te die Bom­bar­die­rung des Gaza-Strei­fens durch Isra­el recht­fer­tigt. Am 25. Okto­ber kom­men­tier­te Rei­chelt im Sen­der NIUS:

Bri­ten und Ame­ri­ka­ner hiel­ten es für gebo­ten und mora­lisch ver­tret­bar, den Wil­len der deut­schen Zivil­be­völ­ke­rung durch Flä­chen­bom­bar­de­ments von Städ­ten zu bre­chen. Sie nah­men den Tod hun­dert­tau­sen­der Zivi­lis­ten nicht nur in Kauf, sie ver­ur­sach­ten ihn ganz bewusst, weil sie der (rich­ti­gen) Über­zeu­gung waren, dass es ein befrei­tes und fried­li­ches Euro­pa nur geben kön­ne, wenn Deutsch­land in jeder Hin­sicht gebro­chen wäre.

Rei­chelt steht mit die­ser Argu­men­ta­ti­on nicht nur jen­seits roter Lini­en, die das Kriegs­völ­ker­recht mar­kiert (wobei gleich ange­merkt sei, daß sich der­je­ni­ge, der kann, was er will, um die­ses Recht noch nie groß scher­te); er über­nahm die­sen Offen­ba­rungs­eid vom ehe­ma­li­gen israe­li­schen Pre­mier­mi­nis­ter Naf­ta­li Ben­nett, der bereits am 13. Okto­ber die Fra­ge eines Jour­na­lis­ten nach zivi­len Opfern im Gaza-Strei­fen mit den Wor­ten zurückwies:

Fra­gen Sie mich ernst­haft wei­ter nach paläs­ti­nen­si­schen Zivi­lis­ten? Haben Sie nicht gese­hen, was los ist? Wir bekämp­fen Nazis.

Und wei­ter:

Als Groß­bri­tan­ni­en im Zwei­ten Welt­krieg die Nazis bekämpft hat, hat auch kei­ner gefragt, was in Dres­den los ist. Die Nazis haben Lon­don ange­grif­fen und ihr habt Dres­den ange­grif­fen. Des­halb: Schan­de über Sie, wenn Sie mit die­sem fal­schen Nar­ra­tiv weitermachen.

Ich bin mir nicht sicher, wie wir­kungs­voll die­se Absi­che­rungs­chif­fren heu­te noch sind und ob nicht “Dres­den” als Wort doch einen ande­ren Bei­klang hat als den, der Rei­chelt und Ben­nett im Ohr sit­zen mag. Flo­renz und Elbe und “Wie liegt die Stadt so wüst” klin­gen mit.

Alte Hebel, die so spie­lend ange­setzt wer­den konn­ten und funk­tio­nier­ten, sind jedoch lang­le­bi­ges Gerät. Und so hat ges­tern der israe­li­sche Außen­mi­nis­ter Eli Cohen die (wie­der­um nicht bin­den­de) Reso­lu­ti­on der UN-Voll­ver­samm­lung, die­sen Auf­ruf zur Scho­nung der Zivil­be­völ­ke­rung und zu einem Ende der Kämp­fe, mit den­sel­ben Ver­wei­sen zurückgewiesen.

Wir leh­nen den ver­ab­scheu­ungs­wür­di­gen Ruf der UN-Gene­ral­ver­samm­lung nach einem Waf­fen­still­stand ent­schie­den ab. Isra­el beab­sich­tigt, die Hamas zu eliminieren.

Denn so sei die Welt auch mit den Nazis und der Ter­ror­mi­liz Isla­mi­scher Staat (IS) ver­fah­ren. Des­halb sei die Reso­lu­ti­on ein „dunk­ler Tag für die UN und für die Mensch­heit“, der mit Schan­de in die Geschich­te ein­ge­hen wer­de. (Deutsch­land ent­hielt sich.)

Las ges­tern im neu­en Heft der noch wenig bekann­ten Zeit­schrift CRISIS, einem erst im Vor­jahr gegrün­de­ten “Jour­nal für christ­li­che Kul­tur”. Ver­ant­wort­li­cher Redak­teur ist Gre­gor Fern­bach, der auch den Ver­lag Hagia Sophia betreibt. Dort wird unter ande­rem das Werk des rus­si­schen Phi­lo­so­phen Iwan Iljin gepflegt.

Unse­re Leser haben vor allem nach sei­ner zen­tra­len Schrift Über den gewalt­sa­men Wider­stand gegen das Böse gegrif­fen, und natür­lich ist in der neu­en Aus­ga­be ein Bei­trag über die Gedan­ken­füh­rung die­ses Buches ent­hal­ten. Denn CRISIS 6 beschäf­tigt sich mit dem The­ma “Krieg”.

Das Heft ist in mehr­fa­cher Hin­sicht inter­es­sant. Ich mag es, wenn nicht kom­men­tiert, son­dern zusam­men­ge­tra­gen wird, wenn man etwas lernt und erfährt.

So war mir unter ande­rem die Ver­tie­fung der Glau­bens­spal­tung in der Ukrai­ne nicht bewußt, obwohl ich frü­her in Dör­fern war, in denen neben der Ukrai­nisch-Ortho­do­xen Kir­che (UOK) auch eine grie­chisch-katho­li­sche Kir­che stand. Die­se vor allem west­ukrai­ni­sche Abspal­tung rührt aus dem Jahr 1596, in dem sich die­ser Teil der alten Kie­wer Rus dem pol­nisch-litaui­schen Bund unter­warf und kirch­lich Kon­stan­ti­no­pel ver­ließ und Rom aner­kann­te. Die Lit­ur­gie blieb orthodox.

2018 kam es zu einem zwei­ten Schis­ma, näm­lich zur Grün­dung eines eigen­stän­di­gen, vom rus­si­schen Patri­ar­chat unab­hän­gi­gen ortho­do­xen Kir­chen­tums der Ukrai­ne. Die bei Ruß­land ver­blie­be­ne Ortho­do­xie (die UOK) lös­te sich 2022 eben­falls von Mos­kau – ein tak­ti­scher Schritt, der jedoch nichts aus­trug: Seit Dezem­ber ist sie fak­tisch ver­bo­ten, bekam sofort die Nut­zungs­rech­te im welt­be­rühm­ten Kie­wer Höh­len­klos­ter ent­zo­gen und wird seit Juni auch aus den letz­ten, ihr ver­blie­be­nen Klau­sen und Kir­chen vertrieben.

Im CRI­SIS-Heft schrei­ben Mat­thi­as Matus­sek und die Jour­na­lis­tin Nina Byzan­ti­nia über die­se Vor­gän­ge. Letz­te­re spielt mit ihrem Ver­such, der katho­lisch-grie­chi­schen Kir­che eine inten­si­ve Kon­takt­schuld zum Drit­ten Reich nach­zu­wei­sen, mit dem Feu­er. Man muß nicht tief gra­ben, um Ver­stri­ckun­gen auf allen Sei­ten zu finden.

Dezi­diert ist der Bei­trag Ben­ja­min Kai­sers, der von Eng­land aus mit­ar­bei­tet und sei­nen Bei­trag “Der geis­ti­ge Kampf” mit den Sät­zen beginnt, daß ein tota­ler Krieg tobe, von dem jeder ein­zel­ne betrof­fen sei: Es sei ein Krieg, in dem die eine Sei­te macht­voll behaup­te, daß der Mensch sein kön­ne und sol­le wie Gott, wäh­rend die ande­re Sei­te in die­sem geis­ti­gen Kampf die hei­li­gen Zei­chen auf­ge­rich­tet hal­te oder wie­der auf­rich­te – und zwar zunächst und vor allem in sich selbst.

Sei­en noch der lan­ge, grund­le­gen­de Bei­trag des mir bis­her nicht bekann­ten Publi­zis­ten Wolf­gang Vasicek erwähnt, der den “Krieg als Ereig­nis” und sei­ne “Ein­gren­zung und Ent­gren­zung” sehr kennt­nis­reich und lek­tü­re­ge­sät­tigt behan­delt, außer­dem das Edi­to­ri­al, das die Tra­di­ti­on einer “Seg­nung der Waf­fen” aus­leuch­tet, und das Inter­view mit Ulri­ke Gué­rot, das von Redak­teu­rin Bei­le Ratut geführt wird.

CRISIS ver­folgt einen kon­se­quent christ­li­chen, vor allem ortho­do­xen und west-kri­ti­schen Kurs. Das ist im deutsch­spra­chi­gen Raum eine Lücke, und sie wird nun gefüllt. Heft 6 ist soeben erschie­nen, umfaßt 88 Sei­ten, kos­tet 12.50 € und kann hier bestellt wer­den. Auch ein Abon­ne­ment kann man dort zeichnen.

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

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