Letzten Freitag habe ich diesen Film nach längerer Zeit wieder gesehen, zusammen mit identitären Aktivisten, gefolgt von einer fruchtbaren Diskussion im Anschluß. Über den Roman von Ray Bradbury hat Kubitschek in Wien ausführlich gesprochen. Was hat es nun mit der Verfilmung auf sich, der die “Aktion 451” ein paar ikonische Bilder entlehnt hat?
Fahrenheit 451 ist im Werk Truffauts in mehrfacher Hinsicht eine Ausnahme und wird in der Regel auch nicht zu seinen Meisterwerken gezählt. Der Regisseur selbst war mit dem Film nicht besonders glücklich. Er war der einzige, den er außerhalb Frankreichs, nämlich in England gedreht hat, und dies in einer Sprache, die er nicht beherrschte, was ihm die Schauspielerführung erheblich erschwerte. Hinzu kamen seine grundsätzliche Abneigung gegen das Science-Fiction-Genre und seine stetig eskalierenden Reibereien mit Oskar Werner, die auch zum dauerhaften persönlichen Bruch zwischen den beiden Männern führten.
Hingerissen von dem Film war hingegen Wim Wenders, der ihn 2005 in der Süddeutschen Zeitung mit glühenden Worten pries:
Ich muss zugeben, dass es kaum einen Film von François Truffaut gibt, den ich nicht aus dem einen oder anderen Grund großartig finde und den ich Ihnen nicht bedingungslos ans Herz legen würde. Aber bei “Fahrenheit 451” kenne ich einfach keine Zurückhaltung mehr.
Ein jeder, der Bücher liebt und leidenschaftlich liest, muss von Ray Bradburys Roman ohnehin gefangen genommen sein. Aber wie Truffaut sich dieser Science-Fiction-Geschichte angenommen hat, und wie er von diesem Feuerwehrmann namens Guy Montag erzählt, der kein Feuer mehr löschen, sondern stattdessen Brände stiften und Bücher verbrennen soll, das hat mich beim ersten Sehen mit offenem Mund dasitzen lassen, und seitdem habe ich mir keine Gelegenheit entgehen lassen, den Film wieder und wieder zu sehen.
Er hob besonders die “wundersame Vielschichtigkeit” des Spiels von Oskar Werner hervor: “… wie er spricht und sich bewegt, das ist absolut einmalig.”
Was ihm den Film aber “unersetzlich” gemacht habe, sei seine Schlußsequenz:
Auf dieser Insel, diesem geheimen Zufluchtsort im Wald, zu dem sich Montag am Ende rettet, repräsentiert jeder Bewohner “ein Buch”, das er, oder sie, auswendig gelernt hat und so also weitergeben kann, auch wenn einmal alle Bücher vernichtet worden sind.
In der Tat ist es vor allem Oskar Werner, der Fahrenheit 451 Leben einhaucht und den Film auch heute noch zu einem unvergeßlichen Erlebnis macht. Die Diskrepanzen zwischen Regisseur und Hauptdarsteller sind im fertigen Werk nicht mehr wahrnehmbar, und in der Tat hat es davon profitiert, daß sich Werner letzten Endes durchgesetzt hat.
In einem 1981 geführten Interview (abgedruckt in dem Buch Monsieur Truffaut, wie haben Sie das gemacht?) erklärte Truffaut, daß er sich Montag als eine völlig unauffällige Alltagsfigur vorgestellt habe, während Werner die Rolle “auf ganz besondere Weise spielen wollte”.
Er weigerte sich, den Durchschnittstypen zu spielen, der mir vorschwebte. Dieser Konflikt ist ein wenig in den Film eingeflossen, seine seltsame Art war nicht von mir gewollt. Ich will gar nicht einmal sagen, daß er im Unrecht war, aber hier haben wir es mit einem typischen Fall von Antagonismus zwischen der Vision des Regisseurs und der des Hauptdarstellers zu tun.
Die “seltsame Art” ist nun genau das, was die Figur Montags im Film so anziehend macht. Bereits im ersten Moment, in dem man ihn sieht, spürt man, daß dieser eine “Feuerwehrmann” in der schwarzen Uniform anders ist als die anderen.
Woran liegt es? An der Art, wie er seine großen melancholischen Augen senkt, wie seine Körperhaltung einen subtilen Vorbehalt auszudrücken scheint, während er dabei ist, eine Wohnung zu stürmen, die Bücher enthält, so als schäme er sich insgeheim für sein Tun? Oder ist es generell seine sensible, feinsinnige und dabei durchaus männliche Physiognomie, die im deutlichen Kontrast zum “Bösewichtgesicht” seines von Anton Diffring gespielten Kollegen steht?
Ein weiterer Streitpunkt zwischen Truffaut und Werner war das Verhältnis Montags zu der jungen Lehrerin Clarisse (im Buch ein sechzehnjähriges Mädchen), die ebenso wie seine gehirngewaschene Frau Linda (im Roman: Mildred), der regelmäßig von einer medizinischen Spezialeinheit der Magen ausgepumpt werden muß, wenn sie mal wieder eine Überdosis Psychopharmaka geschluckt hat, von Julie Christie (“Lara” aus Dr. Schiwago) gespielt wird. Truffaut wollte, daß Montags Verhältnis zu Clarisse “unschuldig und keusch” bleibt, während Werners Spiel eine knospende Romanze ansteuert (was noch in Spurenelementen im Film zu spüren ist).
Truffaut und Werner hatten bereits 1962 in dem Film Jules und Jim zusammengearbeitet, der beiden den internationalen Durchbruch brachte. Die deutsche Fassung ist unglücklicherweise dadurch beeinträchtigt, daß Oskar Werner sich nicht selbst synchronisiert hat. Ähnlich wie in Herzogs Aguirre, in dem Klaus Kinski in der Nachsynchronisation durch Gerd Martienzen ersetzt wurde, fehlt hier schmerzlich zum Gesicht die unverwechselbare Stimme mit dem geradezu magischen Timbre, die Werner zum wohl idealen Rezitator von Rilke-Gedichten gemacht hat.
Die beiden Männer hatten einiges gemeinsam. Sie waren beide mit abwesenden Vätern und lieblosen Müttern unter der Obhut ihrer Großmütter aufgewachsen, der 1932 geborene Truffaut als uneheliches (Teil-)Adoptivkind, der zehn Jahre ältere Werner (Geburtsname Oskar Josef Bschließmayer) als Scheidungskind. Sie wuchsen beide in eher bescheidenen Verhältnissen auf, Werner in Wien-Gumpendorf in einem eher proletarischen Milieu, während Truffauts Großmutter mütterlicherseits einer “verarmten” bzw. “verbürgerlichten” Adelsfamilie entstammte und bei ihrem Enkelsohn die Liebe zu Büchern und Musik förderte.
Beide waren “schwierige Kinder” und Schulabbrecher, beide waren leidenschaftliche Autodidakten, die zeitlebens an einem hohen Bildungsideal festhielten. Truffauts “alter ego” Antoine Doinel aus seinem gefeierten Debütfilm Sie küßten und sie schlugen ihn (Les quatre-cent coups, 1959) ist ein jugendlicher Delinquent, der heimlich seinem literarischen Idol Balzac Altäre baut (und mit einer unachtsam positionierten Kerze beinah einen Wohnungsbrand auslöst).
Werner, der bereits mit 19 Jahren ein festes Engagement am Wiener Burgtheater bekommen hatte, war ein entschiedener Feind des modernen “Regietheaters”, das die Klassiker, die er auswendig kannte, vulgarisierte, entstellte und politisierte. Diesbezüglich aufschlußreich ist sein grandioses “letztes Interview”, das man in vier Teilen auf Youtube anhören kann und in dem sich etliche heute “politisch unkorrekte” Perlen finden.
Ein seltsamer Zufall wollte es, daß beide im Jahr 1984 frühzeitig verstarben, Truffaut am 21. Oktober, Oskar Werner nur zwei Tage später am 23. Oktober.
Gemeinsam hatten Truffaut und Werner auch eine Abneigung gegen Uniformen, Militär und Krieg. In dem bereits erwähnten Interview äußerte Truffaut, der nach einem Desertionsversuch unehrenhaft aus der französischen Armee entlassen wurde, daß ihn “diese Feuerwehrleute, die alle gleich angezogen waren”, kolossal deprimierten.
Oskar Werner für seinen Teil war ein überzeugter Pazifist, stolz darauf, daß es ihm gelungen war, sich während des Zweiten Weltkriegs vor dem Wehrmachts- und Kriegsdienst weitgehend zu drücken. 1945 desertierte er und versteckte sich mit seiner Familie im Wiener Wald in Baden bei Wien.
Diese Haltung spiegelt sich in einer seiner berühmtesten Filmszenen wider. Als junger Hauptmann in G. W. Pabsts Führerbunkerdrama Der letzte Akt (1955), der vor Hitler selbst gegen die sinnlose Verheizung von Menschenleben im eingekesselten Berlin protestiert, stirbt er mit folgenden Worten auf den Lippen:
Hauptmann Wüst: Weißt du, was der Frieden ist? Wenn ihr ihn habt, laßt ihn euch nie mehr wegnehmen. Seid wachsam.
Junger Soldat: Jawoll, Herr Hauptmann.
Hauptmann Wüst: Sag nicht “Jawoll”. Sag nie wieder “Jawoll”. Damit hat der ganze Mist angefangen. Seid wachsam.
Klar, das ist eine recht dick und deutlich aufgetragene moralische “Message”. Sie hatte im Jahr 1955 aber doch mehr Gewicht als sie heute haben mag, und jedes Mal, wenn ich diese Szene sehe, erschüttert sie mich zutiefst.
Der, wenn man so will, “kulturkonservative” Werner war zwar kein “Linker”, aber doch ein entschiedener Antifaschist. Als junger Mann hatte er in Wien mit Entsetzen die “Reichskristallnacht” miterlebt; in seinen späten Jahren organisierte er Gedenkfeiern für die Opfer des Nationalsozialismus, komplett aus eigener Initiative und ohne Unterstützung durch den österreichischen Staat, der mit der organisierten “Vergangenheitsbewältigung” erst Ende der achtziger Jahre so richtig loslegen sollte.
Der “antifaschistische” Subtext von Fahrenheit 451 beschränkt sich jedoch keineswegs auf diese biographischen Hintergründe des Hauptdarstellers.
Bücherverbrennungen (in Jules und Jim in eingeblendeten Dokumentaraufnahmen präsent) werden bis heute primär mit den öffentlichen “Aktionen wider den undeutschen Geist” von nationalsozialistischen Studenten assoziiert, die hauptsächlich im Mai 1933 stattfanden (es handelte sich entgegen landläufiger Vorstellung nicht um eine Dauerveranstaltung des Dritten Reichs). Das war 1966 nicht anders. Die schwarzen Uniformen der “Feuerwehrmänner” im Film erinnern bewußt an die SS, an Mussolinis camicie nere und Mosleys Blackshirts (wie gesagt handelt es sich hierbei um eine britische Produktion).
Die “Vereinnahmung” Montags durch die Aktivisten der Casa-Pound-Bewegung, die meines Wissens die ersten waren, die Roman und Film “von rechts” gekapert haben, hat also auch einen paradoxen Zug. Ich vermute stark, daß die italienischen Neofaschisten im Gegensatz zu Truffaut die Uniformen aus dem Film ziemlich schmuck finden. Nichtsdestotrotz identifizieren sie sich mit dem “Ketzer” Montag, einer Art “Gestapo-Mann”, der zur “Resistance” wechseln will, zum Teil wohl aus dem einfachen Grund, daß im liberalen bzw. globalistischen Staat “rechte” Literatur und “rechtes” Denken als anrüchig, häretisch und proto-kriminell gelten, boykottiert und zum Teil verboten werden.
Ray Bradbury, selbst eher ein Konservativer und “Reaktionär”, betonte, daß sein Roman weniger das Problem der Zensur und der “Freiheit” als der Verdummung der Massen durch Fernsehen, Radio und andere Medien zum Thema hatte: “I wasn’t worried about freedom, I was worried about people turned into morons by TV.”
Wir hatten niemals Zensur in diesem Land, wir haben nie Bücher verbrannt. Es gab zeitweilige Ausrutscher wie McCarthy, als bestimmte Bücher aus den Regalen verschwanden. Und Eisenhower sagte: Stellt die Bücher wieder hinein. Ich bekomme ständig Briefe von Lehrern, in denen sie mir mitteilen, daß meine Bücher vorübergehend verboten wurden. Ich antworte: Macht euch nichts draus, stellt sie einfach wieder ins Regal. (…) Ihr stellt sie immer wieder zurück, sie nehmen sie immer wieder weg, und schließlich gewinnt ihr.
Truffaut schließlich beteuerte, daß ihn an dem Stoff in erster Linie die Chance gereizt hatte, einen Film nur über Bücher machen zu können. Fahrenheit 451 ist das Werk eines Bibliophilen, eine romantische Hommage an die Objekte seines Entzückens, die er (offenbar, zumindest teilweise) unter sehr persönlichen Gesichtspunkten ausgewählt und ins Bild gerückt hat.
Ein Beispiel: Als Montag schließlich gezwungen wird, seine eigenen Bücher zu verbrennen, hält Truffaut recht lange die Kamera auf brennende Seiten aus Plexus von Henry Millers, einem “Skandalautors”, der zu seiner Zeit öfter Schwierigkeiten mit der Zensur seiner erotischen (und zum Teil handfest pornographischen) Werke hatte (die heute keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervorlocken würden und wohl auch nicht mehr viel gelesen werden).
Ein Zitat Truffauts über Miller aus dem Jahr 1975 verdeutlicht gut seinen Zugang zur Literatur überhaupt: “Ich gehöre zu den Tausenden von Lesern, die vom Werk Henry Millers nicht nur fasziniert waren, sondern denen es auch geholfen hat, zu leben.”
Seiner Aufsatzsammlung Die Filme meines Lebens stellte Truffaut ein Zitat aus Millers Die Bücher meines Lebens voran: “Diese Bücher lebten und sprachen zu mir.” Dieser Satz wird im Film wörtlich von der alten Frau gesprochen, die es in der wohl stärksten Szene des Films vorzieht, sich selbst, gleich einem buddhistischen Mönch, mitsamt ihren Büchern zu verbrennen, ehe es die Feuerwehrmänner tun, die eben (der Kommandant mit gierig leuchtenden Augen) ihre geheime Schatzkammer geplündert, zerfleddert und mit Kerosin getränkt haben. (Truffaut hat mit Absicht eine rundliche, ein wenig clownesk aussehende Schauspielerin gewählt, um bestimmte “heroische” Klischees zu vermeiden).
Truffaut mochte “politische” Filme grundsätzlich nicht – ein Umstand, der ihm schließlich die Verachtung seines Freundes und Nouvelle-Vague-Weggefährten Jean-Luc Godard eintrug, der sich seit Ende der sechziger Jahre immer tiefer in einen verqueren, publikumsfeindlichen Linksradikalismus hineinbohrte. Mit seinem sehr persönlichen Zugang entschärfte Truffaut nicht nur die totalitäre Dystopie der Vorlage, sondern auch Bradburys “kulturpessimistische” Kritik (die wiederum eng mit seinem Anti-Totalitarismus zusammenhing).
Das spiegelt sich auch wider in diversen Rezensionen, die man etwa auf Wikipedia zitiert findet: Das Lexikon des internationalen Films nennt den Film eine “persönliche Utopie” sowie eine “Hommage an die Literatur und an die abendländische Kultur generell”; die Filmhistoriker Hahn und Jansen konstatierten, es fehle “der düstere, furchterregende Anstrich zukünftiger Unmenschlichkeit”, fanden aber auch, daß die Flucht Montags “sinnlos” sei, denn “sie weist keinen Weg in eine andere Zukunft” (ist das wirklich der Fall?). Der Evangelische Filmbeobachter bemäkelte 1967, daß der Film “jedes politische oder gesellschaftliche Engagement vermissen läßt” (was wohl stimmt, und was den Film vor dem schnellen Altern bewahrt hat).
Entscheidend für die Akzentverschiebung zwischen Buch und Film war wohl die Tatsache, daß Truffaut als passionierter Cinephiler keinen notwendigen Widerspruch zwischen einer Kultur des Bildes (Film, Fernsehen, Comics) und einer Kultur des Wortes sah:
1966, als ich den Film gedreht habe, sah man noch nicht so viel fern wie heute, es wurde noch nicht so viel über das Fernsehen geredet, so daß die Kritik sicher noch nicht sehr profund sein konnte. Ich denke, damals fing man gerade erst an, die literarische Kultur gegenüber den audiovisuellen Medien zu verteidigen. Aber ich selbst habe mir darüber keine Gedanken gemacht. Mein Interesse rührte daher, daß ich immer schon ein Freund von Büchern war. Aber es gab bei mir nie einen Konflikt zwischen Literatur und Film.
Diese Sätze sind vielleicht ein wenig überraschend, entsprechen jedoch den Tatsachen. Neil Postmans berühmtes Buch Wir amüsieren uns zu Tode sollte erst 1984 erscheinen; Bradbury war weitsichtig genug, daß ihm bereits 1953, als sein Roman erstmalig erschien, das Fernsehen als geistige Bedrohung erschien.
In der Tat wirkt der (pseudo-)interaktive Bildschirm, der im Wohnzimmer der Montags in Truffauts Film steht, heute auffallend klein, während er in Bradburys Roman bereits eine ganze Wand ausfüllt. 1966 mag er vielleicht noch wie ein Riese erschienen sein. Kaum vorstellbar war zu diesem Zeitpunkt die Allgegenwart von Bildschirmen durch Computer, Laptops und Smartphones, die “smarter” sind als die allermeisten ihrer Besitzer und wohl kaum zur Steigerung ihrer Intelligenz und Bildung beitragen.
Die Rolle von Postman spielen heute Digitalisierungskritiker wie Manfred Spitzer, die von den liberalen Medien als alarmistische “Panikmacher” verspottet werden. Von einer schädlichen Wirkung der Massenmedien und des Internetkonsums will man heute nichts mehr hören, obwohl sie in einer Weise unseren Alltag und unsere Freizeitgestaltung dominieren, wie dies 1953 und sogar noch 1966 nicht der Fall war. Und dies gänzlich ohne Bücherverbrennungen oder auch nur ‑verbote.
Eine Schicht unter Bradburys Kritik an der Massenkultur liegt aber noch ein viel älterer kulturkritischer Strang, von dem man keineswegs sagen kann, daß er obsolet geworden sei: Die Welt von Film und Roman ist eine Welt des “letzten Menschen”, der mit Drogen und seichter Unterhaltung infantil gehalten und “glücklich” gemacht wird, ähnlich, wie es Huxley in Schöne neue Welt beschrieben und wie es Yuval Harari für die Massen an “nutzlosen Essern” in der nahen Zukunft (und eigentlich schon Gegenwart) vorgesehen hat.
Bücher werden in der Welt von Fahrenheit 451 nicht nur deswegen als Gefahr betrachtet, weil sie kritische Gedanken wecken, sondern auch und vor allem, weil sie die Menschen “unglücklich” und “antisozial” machen, Emotionen und Leidenschaften zu entfachen vermögen und damit potentiell das Individuum und die Gesellschaft destabilisieren könnten – eine Idee, die im Zentrum des Films Equilibrium (2002) steht, der sich eine Menge von Bradbury abgeschaut hat.
Das wird deutlich in einer Schlüsselszene, in der Montag die Freundinnen seiner Frau schockt, als er mit einem Buch in einem roten Einband in der Hand ins Zimmer tritt, als wäre es eine Waffe oder ein obszöner Gegenstand, und dann auch noch zum allgemeinen Horror der Anwesenden daraus zu rezitieren beginnt. Im Roman ist es ein Gedicht von Matthew Arnold, im Film eine Passage aus David Copperfield. Eine der anwesenden Freundinnen Lindas/Mildreds wird davon derart erschüttert, daß sie in Tränen ausbricht: “Ich kann diese Gefühle nicht ertragen! Ich habe alle diese Dinge vergessen!”
Das erinnert an den viel (und fast schon zu Tode) zitierten Satz von Kafka: “Ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.”
Die Gesellschaftsordnung in Fahrenheit 451 baut ähnlich wie jene in Schöne neue Welt auf der Vorstellung auf, kollektives “Glück” sei technokratisch durch die Befriedigung von Bedürfnissen und die Stilllegung von Affekten zu erschaffen; sowohl Huxley als auch Bradbury waren der Ansicht, daß dadurch wesentliche Dimensionen des Menschseins unterdrückt und verkrüppelt werden.
Trotz der “faschistischen” Optik, die hierarchische Strukturen impliziert, ist die Diktatur in Fahrenheit 451 eine dezidiert egalitäre, somit also “linke”, was im Roman in einem langen Monolog von Montags Vorgesetztem Beatty (im Film ist er namenlos und erheblich weniger schlau und bedrohlich) deutlich zum Ausdruck kommt:
Wir müssen alle gleich sein. Nicht frei und gleich geboren, wie es in der Verfassung heißt, sondern gleich gemacht. Jeder ein Abklatsch des andern, dann sind sie alle glücklich, denn es gibt nichts Überragendes mehr, vor dem man den Kopf einziehen müßte, nichts, was einen Maßstab abgäbe. Also! Ein Buch im Haus nebenan ist wie ein scharfgeladenes Gewehr. Man vernichte es. Man entlade die Waffe. Man reiße den Geist ab.
Beattys Plädoyer für die Vernichtung von Büchern beinhaltet auch ein “politisch korrektes”, proto-“wokes” Argument, das heute an Virulenz gewonnen hat. Bücher dürfen seiner Meinung nach auf keinen Fall Minderheiten beleidigen, um allgemeinen Friede-Freude-Eierkuchen zumindest zu fingieren. Dabei sei zu beachten: “Je größer die Bevölkerung, um so mehr Minderheiten”!
Je größer der Markt, Montag, umso weniger darf man sich auf umstrittene Fragen einlassen, merk dir das! Auch die mindeste Minderheit muß geschont werden. Schriftsteller, voller boshafter Einfälle, schließt eure Schreibmaschinen ab! (…) Du mußt begreifen, bei der Ausdehnung unserer Kulturwelt kann keinerlei Beunruhigung der Minderheiten geduldet werden. (…) Farbige nehmen Anstoß an “Klein Sambo”. Man verbrenne es. Den Weißen ist “Onkel Toms Hütte” ein Dorn im Auge. Man verbrenne es. (…) Seelenfrieden, Montag. Gemütsruhe, Montag. Nur kein Ärgernis. [Im Film werden zwei andere Beispiele genannt: “Robinson Crusoe” mochten nach Auskunft des Kommandanten die Farbigen nicht, und Nietzsche “mochten die Juden nicht.” – ML]
Heute können wir den Trend beobachten, daß immer mehr Bücher vergangener Zeiten, in denen als “sensibel” eingestufte Wörter und Passagen vorkommen, zwar nicht verboten oder verbrannt, aber, was vielleicht noch schlimmer ist, umgeschrieben und verfälscht werden, vor allem im anglophonen Raum: So werden inzwischen “gesäuberte” Versionen von Romanen und Erzählungen von Mark Twain, Joseph Conrad, Agatha Christie, Ian Fleming, Roald Dahl oder P. G. Wodehouse angeboten, wobei ganz besonders das “N‑Wort” und artverwandtes Vokabular ins Visier der Zensoren geraten sind.
Der Grund dafür ist nicht ganz derselbe wie zu Bradburys Zeiten: Die “woke” Klitterung von Büchern aus der Vergangenheit steht im Kontext einer Multikulturalisierungspolitik, in denen geschützte Minderheiten einen sakrosankten Status erhalten und durch Blasphemie-Gesetze (“Haßrede”) zu tabuisierten Entitäten erhoben werden sollen (in einer Neuverfilmung aus dem Jahr 2018 wurde Montag übrigens mit einem schwarzen Schauspieler besetzt).
Das Argument der “Aufwiegelung”, etwa zum “Rassenhaß”, wird freilich immer noch ins Feld geführt, um gegen Bücher und Autoren vorzugehen, dies allerdings immer nur in eine politische Richtung, während das Regime von Fahrenheit 451 den Dissens in allen Richtungen stilllegen möchte. Es möchte nicht bloß kontroverse Bücher verbieten, sondern die Kontroverse an sich, und damit auch das Buch oder die Idee des Buches an sich.
Deshalb vernichtet es in seinem Hygienewahn auch Bücher, die als “harmlos” gelten. Wie groß ist zum Beispiel die Gefahr, daß jemand durch die Leküre von Don Quichotte, dessen Hauptfigur durch romantische Lektüren in Wahnvorstellungen verfiel, auf subversive oder rebellische Gedanken kommt?
Ebenso wie den “politischen” Aspekt hat Truffaut auch das “Science-Fiction”-Element des Stoffes heruntergedimmt: Ähnlich wie in Kubricks Uhrwerk Orange, der ein paar Jahre später ebenfalls in England und weitgehend an “brutalistischen” Originalschauplätzen gedreht wurde, erscheint das “Futuristische” vor allem in Form von spielerischen Verfremdungen der Gegenwart.
So ist etwa die Schwebebahn, in der sich Montag und Clarisse täglich treffen, kein Set, sondern eine damals tatsächlich existierende Teststrecke in der Nähe von Orléans. Der furchterregende Roboterhund aus Bradburys Roman, der Montags innere Wandlung zu “wittern” beginnt, ist völlig verschwunden, und wurde (wenig überzeugend) durch eine Feuerwehrrutschstange ersetzt, die sich zunehmend weigert, Montag “nach oben” zu befördern (alles an dieser “Feuerwehr” ist verkehrt herum). Der einzige nennenswerte “Special Effect” ist ein kleiner Trupp von Blue-Screen-“Raketenmännern”, die auf der Suche nach dem flüchtigen Montag durch die Landschaft düsen.
Hinzu kommen Elemente, die dem Film bewußt etwas Kindliches, Märchenhaftes verleihen: Das knallrote, dach- und sitzlose Feuerwehrauto sieht in den Totalen aus wie ein Spielzeug, die stramm kerzengerade auf ihm stehenden Feuerwehrmänner wirken wie Zinnfiguren, die anachronistisch altmodischen Telefone scheinen aus den zehner und zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts zu stammen.
Alfred Hitchcock, Truffauts großer Lehrmeister, den er im Vorjahr ausgiebig interviewt hatte, ist in etlichen visuell fulminanten (hinter der Kamera stand ein Meister, Nicolas Roeg, der später ins Regiefach wechselte), thrillerartigen Szenen sowie einer Traumsequenz, die an Vertigo (1958) erinnert, deutlich präsent.
Die mitreißende Orchestermusik stammt (unverkennbar) von Hitchcocks Hauskomponist Bernard Herrmann und erzeugt Momente von schockhafter, überwältigender emotionaler Intensität. Truffaut nannte sie “eine Art Opéra barbare”, die dem Film, den er eher “ein wenig ironisch, ein wenig kindlich” anlegen wollte, “etwas Großes, Gewichtiges” verleiht.
Groß, gewichtig, und doch gleichzeitig ironisch und kindlich ist auch die von Wim Wenders zu Recht gerühmte, unvergeßliche Schlußsequenz. Obwohl die “Büchermenschen”, die Waldgänger, die ihre Lieblingsbücher auswendig gelernt und sich damit gleichermaßen in sie verwandelt haben, auch bei Bradbury vorkommen, so erhalten sie erst in der Truffaut’schen Fassung ihre volle poetische Kraft und Ausgestaltung.
Die Bücher, denen Montag in Gestalt von vorwiegend skurrilen und exzentrischen Gestalten begegnet, als wäre er eine Art Alice im Wunderland (Tweedledum und Tweedledee treten auf als Jane Austens Stolz und Vorurteil, “Band eins und zwei”), sind vor allem Werke aus dem 19. Jahrhundert: von Stendhal, Stevenson, Dickens, Emily Brontë, Byron, Lewis Carroll, also allesamt tote weiße Männer und Frauen.
Aber auch Der Fürst von Machiavelli, Platons Der Staat, Becketts Warten auf Godot, Bradburys Mars-Chroniken (verkörpert von einem jungen Mann mit flammend rotem Haar) tauchen auf, und leider auch ein ziemlich dummes Buch, Sartres Überlegungen zur Judenfrage, verkörpert von einer lächelnden blonden Studentin mit Kurzhaarschnitt.
In der letzten Szene des Films sieht man die Büchermenschen, wie sie vor sich hin murmelnd und memorierend aneinander vorbeispazieren, jeder in sein eigenes “Buch”, also in sich selbst, vertieft. Nur Montag, der “Anfänger”, der noch auswendig lernt, hält noch ein physisches Exemplar in den Händen, Edgar Allan Poes Tales of Mystery and Imagination. Schneeflocken rieseln herab (zufällig schneite es an diesem Drehtag, der auch Julie Christies Geburtstag war), während die Stimmen in verschiedenen Sprachen einander überlagern.
Was man hier sieht, ist eine eher lose Gemeinschaft, die sich eher zufällig und ohne vorgefaßten Plan zusammengefunden hat. Sie erinnert an die Figuren des “Außenseiters” und “Einzelgängers” in Botho Strauß’ Essay Anschwellender Bocksgesang, die der Autor “rechts” verortete, und die geradezu perfekt zu Truffauts Version von Bradburys Stoff passen:
Der Rechte – in der Richte: ein Außenseiter. Das, was ihn zutiefst von der problematischen Welt trennt, ist ihr Mangel an Passion, ihre frevelhafte Selbstbezogenheit, ihre ebenso lächerliche wie widerwärtige Vergesellschaftung des Leidens und des Glückens.
Dieser “Rechte” ist eine poetische, wie auch eine durch die Poesie erzeugte Figur:
Es handelt sich um einen anderen Akt der Auflehnung: gegen die Totalherrschaft der Gegenwart, die dem Individuum jede Anwesenheit von unaufgeklärter Vergangenheit, von geschichtlichem Gewordensein, von mythischer Zeit rauben und ausmerzen will. Anders als die linke, Heilsgeschichte parodierende Phantasie malt sich die rechte kein künftiges Weltreich aus, bedarf keiner Utopie, sondern sucht den Wiederanschluß an die lange Zeit, die unbewegte, ist ihrem Wesen nach Tiefenerinnerung und insofern eine religiöse oder protopolitische Initiation. Sie ist immer und existentiell eine Phantasie des Verlustes und nicht der (irdischen) Verheißung. Eine Phantasie also des Dichters, von Homer bis Hölderlin.
Und der Weg zu dieser Initiation führt über die Dichter:
Dabei: so viele wunderbare Dichter, die noch zu lesen sind – so viel Stoff und Vorbildlichkeit für einen jungen Menschen, um ein Einzelgänger zu werden. Man muß nur wählen können; das einzige, was man braucht, ist der Mut zur Sezession, zur Abkehr vom Mainstream. Ich bin davon überzeugt, daß die magischen Orte der Absonderung, daß ein versprengtes Häuflein von inspirierten Nichteinverstandenen für den Erhalt des allgemeinen Verständigungssystems unerläßlich ist.
Vielleicht hatte Botho Strauß (Jahrgang 1944) Truffauts Fahrenheit 451 vor Augen, als er dies schrieb, und ähnliche Empfindungen wie der eingangs zitierte Wim Wenders (Jahrgang 1945), als er diese Szenen zum ersten Mal sah.
Und über diese Brücke hinweg können wir Rechten (in der Richte? Die Nachhut der Geschichte?) getrost beanspruchen, daß nicht nur das Buch, sondern auch der Film heute “uns” gehört.
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Fahrenheit 451, eines der Bücher das man lesen muß, ist in einer schönen Ausgabe hier zu haben.
Um die Bild- und Text-Sprache des Romans herum hat Antaios den Sammelband Das Buch im Haus nebenan herausgegeben. Darin erzählen neun Autoren am Beispiel von je fünf Büchern, wie die Lektüre ihr Leben prägte. Hier einsehen und bestellen – signiert von Kositza und Kubitschek!
Maiordomus
@¦Lichtmesz. Ich treffe mich mit Ihnen wie mit kaum einem Publizisten bei der kulturhistorisch und kulturpolitischen Vertiefung von grossen Filmen;, von denen ich den hier gewürdigten aus Altersgründen bereits bei Uraufführung in meinem Land gesehen habe. Mein grösstes Theater-Erlebnis am Fernsehen, auch live kaum mehr je erreicht, war am Osterabend 1964 die ARD-Ausstrahlung einer Theaterauffzeichnung von "Torquato Tasso" von JWG mit Oskar Werner in der Titelrolle. Ich komme nicht umhin zu sagen: der wohl beste Tasso des 20. Jahrhunderts. Diesen Aufführungsstil können Sie bei heutigen Theatern vergessen, und einen Oskar Werner, den wiedergeborenen Tasso, wird es nie wieder geben. Sein Grab in Balzers FL bleibt aber nichtsdestotrotz aufgehoben. @Lichtmesz. Sie sprachen mal bei einem unvergesslichen Treffen der SiN-Leserschaft mit Frau CS in der Schweiz, thematisch und logistisch genau richtig organisiert; demgegenüber war die Schweiz-Reise von MS leider überflüssig wie ein Kropf; erst recht in einer Rebbauerngemeinde, wo die Leute nie anders als patriotisch gestimmt haben; war dort sogar mal selber, wie ein weiterer Gesinnungsfreund, Bundesfeierredner zum Tag der Heimat. Vgl. noch Blocher über den Kontakt mit "Rechtsextremen".