Wiederbegegnung mit dem Film “Fahrenheit 451” von 1966

Wer ist der Mann im schwarzen Rollkragenpulli, mit hingebungsvoll-vergeistigtem Gesichtsausdruck und einem Buch in der Hand, mit dessen Konterfei sich die rechte Studenteninitative "Aktion 451" schmückt? Es ist der österreichische Schauspieler Oskar Werner (1922-1984) in der Rolle des Feuerwehrmanns Montag aus dem Film Fahrenheit 451, 1966 inszeniert von dem französischen Nouvelle-Vague-Regisseur François Truffaut.

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

Letz­ten Frei­tag habe ich die­sen Film nach län­ge­rer Zeit wie­der gese­hen, zusam­men mit iden­ti­tä­ren Akti­vis­ten, gefolgt von einer frucht­ba­ren Dis­kus­si­on im Anschluß. Über den Roman von Ray Brad­bu­ry hat Kubit­schek in Wien aus­führ­lich gespro­chen. Was hat es nun mit der Ver­fil­mung auf sich, der die “Akti­on 451” ein paar iko­ni­sche Bil­der ent­lehnt hat?

Fah­ren­heit 451 ist im Werk Truf­f­auts in mehr­fa­cher Hin­sicht eine Aus­nah­me und wird in der Regel auch nicht zu sei­nen Meis­ter­wer­ken gezählt. Der Regis­seur selbst war mit dem Film nicht beson­ders glück­lich. Er war der ein­zi­ge, den er außer­halb Frank­reichs, näm­lich in Eng­land gedreht hat, und dies in einer Spra­che, die er nicht beherrsch­te, was ihm die Schau­spie­ler­füh­rung erheb­lich erschwer­te. Hin­zu kamen sei­ne grund­sätz­li­che Abnei­gung gegen das Sci­ence-Fic­tion-Gen­re und sei­ne ste­tig eska­lie­ren­den Rei­be­rei­en mit Oskar Wer­ner, die auch zum dau­er­haf­ten per­sön­li­chen Bruch zwi­schen den bei­den Män­nern führten.

Hin­ge­ris­sen von dem Film war hin­ge­gen Wim Wen­ders, der ihn 2005 in der Süd­deut­schen Zei­tung mit glü­hen­den Wor­ten pries:

Ich muss zuge­ben, dass es kaum einen Film von Fran­çois Truf­f­aut gibt, den ich nicht aus dem einen oder ande­ren Grund groß­ar­tig fin­de und den ich Ihnen nicht bedin­gungs­los ans Herz legen wür­de. Aber bei “Fah­ren­heit 451” ken­ne ich ein­fach kei­ne Zurück­hal­tung mehr.

Ein jeder, der Bücher liebt und lei­den­schaft­lich liest, muss von Ray Brad­bu­rys Roman ohne­hin gefan­gen genom­men sein. Aber wie Truf­f­aut sich die­ser Sci­ence-Fic­tion-Geschich­te ange­nom­men hat, und wie er von die­sem Feu­er­wehr­mann namens Guy Mon­tag erzählt, der kein Feu­er mehr löschen, son­dern statt­des­sen Brän­de stif­ten und Bücher ver­bren­nen soll, das hat mich beim ers­ten Sehen mit offe­nem Mund dasit­zen las­sen, und seit­dem habe ich mir kei­ne Gele­gen­heit ent­ge­hen las­sen, den Film wie­der und wie­der zu sehen.

Er hob beson­ders die “wun­der­sa­me Viel­schich­tig­keit” des Spiels von Oskar Wer­ner her­vor: “… wie er spricht und sich bewegt, das ist abso­lut einmalig.”

Was ihm den Film aber “uner­setz­lich” gemacht habe, sei sei­ne Schlußsequenz:

Auf die­ser Insel, die­sem gehei­men Zufluchts­ort im Wald, zu dem sich Mon­tag am Ende ret­tet, reprä­sen­tiert jeder Bewoh­ner “ein Buch”, das er, oder sie, aus­wen­dig gelernt hat und so also wei­ter­ge­ben kann, auch wenn ein­mal alle Bücher ver­nich­tet wor­den sind.

In der Tat ist es vor allem Oskar Wer­ner, der Fah­ren­heit 451 Leben ein­haucht und den Film auch heu­te noch zu einem unver­geß­li­chen Erleb­nis macht. Die Dis­kre­pan­zen zwi­schen Regis­seur und Haupt­dar­stel­ler sind im fer­ti­gen Werk nicht mehr wahr­nehm­bar, und in der Tat hat es davon pro­fi­tiert, daß sich Wer­ner letz­ten Endes durch­ge­setzt hat.

In einem 1981 geführ­ten Inter­view (abge­druckt in dem Buch Mon­sieur Truf­f­aut, wie haben Sie das gemacht?) erklär­te Truf­f­aut, daß er sich Mon­tag als eine völ­lig unauf­fäl­li­ge All­tags­fi­gur vor­ge­stellt habe, wäh­rend Wer­ner die Rol­le “auf ganz beson­de­re Wei­se spie­len wollte”.

Er wei­ger­te sich, den Durch­schnitts­ty­pen zu spie­len, der mir vor­schweb­te. Die­ser Kon­flikt ist ein wenig in den Film ein­ge­flos­sen, sei­ne selt­sa­me Art war nicht von mir gewollt. Ich will gar nicht ein­mal sagen, daß er im Unrecht war, aber hier haben wir es mit einem typi­schen Fall von Ant­ago­nis­mus zwi­schen der Visi­on des Regis­seurs und der des Haupt­dar­stel­lers zu tun.

Die “selt­sa­me Art” ist nun genau das, was die Figur Mon­tags im Film so anzie­hend macht. Bereits im ers­ten Moment, in dem man ihn sieht, spürt man, daß die­ser eine “Feu­er­wehr­mann” in der schwar­zen Uni­form anders ist als die anderen.

Wor­an liegt es? An der Art, wie er sei­ne gro­ßen melan­cho­li­schen Augen senkt, wie sei­ne Kör­per­hal­tung einen sub­ti­len Vor­be­halt aus­zu­drü­cken scheint, wäh­rend er dabei ist, eine Woh­nung zu stür­men, die Bücher ent­hält, so als schä­me er sich ins­ge­heim für sein Tun? Oder ist es gene­rell sei­ne sen­si­ble, fein­sin­ni­ge und dabei durch­aus männ­li­che Phy­sio­gno­mie, die im deut­li­chen Kon­trast zum “Böse­wicht­ge­sicht” sei­nes von Anton Diff­ring gespiel­ten Kol­le­gen steht?

Ein wei­te­rer Streit­punkt zwi­schen Truf­f­aut und Wer­ner war das Ver­hält­nis Mon­tags zu der jun­gen Leh­re­rin Cla­ris­se (im Buch ein sech­zehn­jäh­ri­ges Mäd­chen), die eben­so wie sei­ne gehirn­ge­wa­sche­ne Frau Lin­da (im Roman: Mild­red), der regel­mä­ßig von einer medi­zi­ni­schen Spe­zi­al­ein­heit der Magen aus­ge­pumpt wer­den muß, wenn sie mal wie­der eine Über­do­sis Psy­cho­phar­ma­ka geschluckt hat, von Julie Chris­tie (“Lara” aus Dr. Schi­wa­go) gespielt wird. Truf­f­aut woll­te, daß Mon­tags Ver­hält­nis zu Cla­ris­se “unschul­dig und keusch” bleibt, wäh­rend Wer­ners Spiel eine knos­pen­de Roman­ze ansteu­ert (was noch in Spu­ren­ele­men­ten im Film zu spü­ren ist).

Truf­f­aut und Wer­ner hat­ten bereits 1962 in dem Film Jules und Jim zusam­men­ge­ar­bei­tet, der bei­den den inter­na­tio­na­len Durch­bruch brach­te. Die deut­sche Fas­sung ist unglück­li­cher­wei­se dadurch beein­träch­tigt, daß Oskar Wer­ner sich nicht selbst syn­chro­ni­siert hat. Ähn­lich wie in Her­zogs Aguir­re, in dem Klaus Kin­ski in der Nach­syn­chro­ni­sa­ti­on durch Gerd Mar­tien­zen ersetzt wur­de, fehlt hier schmerz­lich zum Gesicht die unver­wech­sel­ba­re Stim­me mit dem gera­de­zu magi­schen Tim­bre, die Wer­ner zum wohl idea­len Rezi­ta­tor von Ril­ke-Gedich­ten gemacht hat.

Die bei­den Män­ner hat­ten eini­ges gemein­sam. Sie waren bei­de mit abwe­sen­den Vätern und lieb­lo­sen Müt­tern unter der Obhut ihrer Groß­müt­ter auf­ge­wach­sen, der 1932 gebo­re­ne Truf­f­aut als unehe­li­ches (Teil-)Adoptivkind, der zehn Jah­re älte­re Wer­ner (Geburts­na­me Oskar Josef Bschließ­may­er) als Schei­dungs­kind. Sie wuch­sen bei­de in eher beschei­de­nen Ver­hält­nis­sen auf, Wer­ner in Wien-Gum­pen­dorf in einem eher pro­le­ta­ri­schen Milieu, wäh­rend Truf­f­auts Groß­mutter müt­ter­li­cher­seits einer “ver­arm­ten” bzw. “ver­bür­ger­lich­ten” Adels­fa­mi­lie ent­stamm­te und bei ihrem Enkel­sohn die Lie­be zu Büchern und Musik förderte.

Bei­de waren “schwie­ri­ge Kin­der” und Schul­ab­bre­cher, bei­de waren lei­den­schaft­li­che Auto­di­dak­ten, die zeit­le­bens an einem hohen Bil­dungs­ide­al fest­hiel­ten. Truf­f­auts “alter ego” Antoine Doi­n­el aus sei­nem gefei­er­ten Debüt­film Sie küß­ten und sie schlu­gen ihn (Les quat­re-cent coups, 1959) ist ein jugend­li­cher Delin­quent, der heim­lich sei­nem lite­ra­ri­schen Idol Bal­zac Altä­re baut (und mit einer unacht­sam posi­tio­nier­ten Ker­ze bei­nah einen Woh­nungs­brand auslöst).

Wer­ner, der bereits mit 19 Jah­ren ein fes­tes Enga­ge­ment am Wie­ner Burg­thea­ter bekom­men hat­te, war ein ent­schie­de­ner Feind des moder­nen “Regie­thea­ters”, das die Klas­si­ker, die er aus­wen­dig kann­te, vul­ga­ri­sier­te, ent­stell­te und poli­ti­sier­te. Dies­be­züg­lich auf­schluß­reich ist sein gran­dio­ses “letz­tes Inter­view”, das man in vier Tei­len auf You­tube anhö­ren kann und in dem sich etli­che heu­te “poli­tisch unkor­rek­te” Per­len finden.

Ein selt­sa­mer Zufall woll­te es, daß bei­de im Jahr 1984 früh­zei­tig ver­star­ben, Truf­f­aut am 21. Okto­ber, Oskar Wer­ner nur zwei Tage spä­ter am 23. Oktober.

Gemein­sam hat­ten Truf­f­aut und Wer­ner auch eine Abnei­gung gegen Uni­for­men, Mili­tär und Krieg. In dem bereits erwähn­ten Inter­view äußer­te Truf­f­aut, der nach einem Deser­ti­ons­ver­such uneh­ren­haft aus der fran­zö­si­schen Armee ent­las­sen wur­de, daß ihn “die­se Feu­er­wehr­leu­te, die alle gleich ange­zo­gen waren”, kolos­sal deprimierten.

Oskar Wer­ner für sei­nen Teil war ein über­zeug­ter Pazi­fist, stolz dar­auf, daß es ihm gelun­gen war, sich wäh­rend des Zwei­ten Welt­kriegs vor dem Wehr­machts- und Kriegs­dienst weit­ge­hend zu drü­cken. 1945 deser­tier­te er und ver­steck­te sich mit sei­ner Fami­lie im Wie­ner Wald in Baden bei Wien.

Die­se Hal­tung spie­gelt sich in einer sei­ner berühm­tes­ten Film­sze­nen wider. Als jun­ger Haupt­mann in G. W. Pabsts Füh­rer­bun­ker­dra­ma Der letz­te Akt (1955), der vor Hit­ler selbst gegen die sinn­lo­se Ver­hei­zung von Men­schen­le­ben im ein­ge­kes­sel­ten Ber­lin pro­tes­tiert, stirbt er mit fol­gen­den Wor­ten auf den Lippen:

Haupt­mann Wüst: Weißt du, was der Frie­den ist? Wenn ihr ihn habt, laßt ihn euch nie mehr weg­neh­men. Seid wachsam.

Jun­ger Sol­dat: Jawoll, Herr Hauptmann.

Haupt­mann Wüst: Sag nicht “Jawoll”. Sag nie wie­der “Jawoll”. Damit hat der gan­ze Mist ange­fan­gen. Seid wachsam.

Klar, das ist eine recht dick und deut­lich auf­ge­tra­ge­ne mora­li­sche “Mes­sa­ge”. Sie hat­te im Jahr 1955 aber doch mehr Gewicht als sie heu­te haben mag, und jedes Mal, wenn ich die­se Sze­ne sehe, erschüt­tert sie mich zutiefst.

Der, wenn man so will, “kul­tur­kon­ser­va­ti­ve” Wer­ner war zwar kein “Lin­ker”, aber doch ein ent­schie­de­ner Anti­fa­schist. Als jun­ger Mann hat­te er in Wien mit Ent­set­zen die “Reichs­kris­tall­nacht” mit­er­lebt; in sei­nen spä­ten Jah­ren orga­ni­sier­te er Gedenk­fei­ern für die Opfer des Natio­nal­so­zia­lis­mus, kom­plett aus eige­ner Initia­ti­ve und ohne Unter­stüt­zung durch den öster­rei­chi­schen Staat, der mit der orga­ni­sier­ten “Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung” erst Ende der acht­zi­ger Jah­re so rich­tig los­le­gen sollte.

Der “anti­fa­schis­ti­sche” Sub­text von Fah­ren­heit 451 beschränkt sich jedoch kei­nes­wegs auf die­se bio­gra­phi­schen Hin­ter­grün­de des Hauptdarstellers.

Bücher­ver­bren­nun­gen (in Jules und Jim in ein­ge­blen­de­ten Doku­men­tar­auf­nah­men prä­sent) wer­den bis heu­te pri­mär mit den öffent­li­chen “Aktio­nen wider den undeut­schen Geist” von natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Stu­den­ten asso­zi­iert, die haupt­säch­lich im Mai 1933 statt­fan­den (es han­del­te sich ent­ge­gen land­läu­fi­ger Vor­stel­lung nicht um eine Dau­er­ver­an­stal­tung des Drit­ten Reichs). Das war 1966 nicht anders. Die schwar­zen Uni­for­men der “Feu­er­wehr­män­ner” im Film erin­nern bewußt an die SS, an Mus­so­li­nis camicie nere und Mos­leys Black­shirts (wie gesagt han­delt es sich hier­bei um eine bri­ti­sche Produktion).

Die “Ver­ein­nah­mung” Mon­tags durch die Akti­vis­ten der Casa-Pound-Bewe­gung, die mei­nes Wis­sens die ers­ten waren, die Roman und Film “von rechts” geka­pert haben, hat also auch einen para­do­xen Zug. Ich ver­mu­te stark, daß die ita­lie­ni­schen Neo­fa­schis­ten im Gegen­satz zu Truf­f­aut die Uni­for­men aus dem Film ziem­lich schmuck fin­den. Nichts­des­to­trotz iden­ti­fi­zie­ren sie sich mit dem “Ket­zer” Mon­tag, einer Art “Gesta­po-Mann”, der zur “Resis­tance” wech­seln will, zum Teil wohl aus dem ein­fa­chen Grund, daß im libe­ra­len bzw. glo­ba­lis­ti­schen Staat “rech­te” Lite­ra­tur und “rech­tes” Den­ken als anrü­chig, häre­tisch und pro­to-kri­mi­nell gel­ten, boy­kot­tiert und zum Teil ver­bo­ten werden.

Ray Brad­bu­ry, selbst eher ein Kon­ser­va­ti­ver und “Reak­tio­när”, beton­te, daß sein Roman weni­ger das Pro­blem der Zen­sur und der “Frei­heit” als der Ver­dum­mung der Mas­sen durch Fern­se­hen, Radio und ande­re Medi­en zum The­ma hat­te: “I was­n’t worried about free­dom, I was worried about peo­p­le tur­ned into morons by TV.”

Wir hat­ten nie­mals Zen­sur in die­sem Land, wir haben nie Bücher ver­brannt. Es gab zeit­wei­li­ge Aus­rut­scher wie McCar­thy, als bestimm­te Bücher aus den Rega­len ver­schwan­den. Und Eisen­hower sag­te: Stellt die Bücher wie­der hin­ein. Ich bekom­me stän­dig Brie­fe von Leh­rern, in denen sie mir mit­tei­len, daß mei­ne Bücher vor­über­ge­hend ver­bo­ten wur­den. Ich ant­wor­te: Macht euch nichts draus, stellt sie ein­fach wie­der ins Regal. (…) Ihr stellt sie immer wie­der zurück, sie neh­men sie immer wie­der weg, und schließ­lich gewinnt ihr.

Truf­f­aut schließ­lich beteu­er­te, daß ihn an dem Stoff in ers­ter Linie die Chan­ce gereizt hat­te, einen Film nur über Bücher machen zu kön­nen. Fah­ren­heit 451 ist das Werk eines Biblio­phi­len, eine roman­ti­sche Hom­mage an die Objek­te sei­nes Ent­zü­ckens, die er (offen­bar, zumin­dest teil­wei­se) unter sehr per­sön­li­chen Gesichts­punk­ten aus­ge­wählt und ins Bild gerückt hat.

Ein Bei­spiel: Als Mon­tag schließ­lich gezwun­gen wird, sei­ne eige­nen Bücher zu ver­bren­nen, hält Truf­f­aut recht lan­ge die Kame­ra auf bren­nen­de Sei­ten aus Ple­xus von Hen­ry Mil­lers, einem “Skan­dal­au­tors”, der zu sei­ner Zeit öfter Schwie­rig­kei­ten mit der Zen­sur sei­ner ero­ti­schen (und zum Teil hand­fest por­no­gra­phi­schen) Wer­ke hat­te (die heu­te kei­nen Hund mehr hin­ter dem Ofen her­vor­lo­cken wür­den und wohl auch nicht mehr viel gele­sen werden).

Ein Zitat Truf­f­auts über Mil­ler aus dem Jahr 1975 ver­deut­licht gut sei­nen Zugang zur Lite­ra­tur über­haupt: “Ich gehö­re zu den Tau­sen­den von Lesern, die vom Werk Hen­ry Mil­lers nicht nur fas­zi­niert waren, son­dern denen es auch gehol­fen hat, zu leben.”

Sei­ner Auf­satz­samm­lung Die Fil­me mei­nes Lebens stell­te Truf­f­aut ein Zitat aus Mil­lers Die Bücher mei­nes Lebens vor­an: “Die­se Bücher leb­ten und spra­chen zu mir.” Die­ser Satz wird im Film wört­lich von der alten Frau gespro­chen, die es in der wohl stärks­ten Sze­ne des Films vor­zieht, sich selbst, gleich einem bud­dhis­ti­schen Mönch, mit­samt ihren Büchern zu ver­bren­nen, ehe es die Feu­er­wehr­män­ner tun, die eben (der Kom­man­dant mit gie­rig leuch­ten­den Augen) ihre gehei­me Schatz­kam­mer geplün­dert, zer­fled­dert und mit Kero­sin getränkt haben. (Truf­f­aut hat mit Absicht eine rund­li­che, ein wenig clow­nesk aus­se­hen­de Schau­spie­le­rin gewählt, um bestimm­te “heroi­sche” Kli­schees zu vermeiden).

Truf­f­aut moch­te “poli­ti­sche” Fil­me grund­sätz­lich nicht – ein Umstand, der ihm schließ­lich die Ver­ach­tung sei­nes Freun­des und Nou­vel­le-Vague-Weg­ge­fähr­ten Jean-Luc Godard ein­trug, der sich seit Ende der sech­zi­ger Jah­re immer tie­fer in einen ver­que­ren, publi­kums­feind­li­chen Links­ra­di­ka­lis­mus hin­ein­bohr­te. Mit sei­nem sehr per­sön­li­chen Zugang ent­schärf­te Truf­f­aut nicht nur die tota­li­tä­re Dys­to­pie der Vor­la­ge, son­dern auch Brad­bu­rys “kul­tur­pes­si­mis­ti­sche” Kri­tik (die wie­der­um eng mit sei­nem Anti-Tota­li­ta­ris­mus zusammenhing).

Das spie­gelt sich auch wider in diver­sen Rezen­sio­nen, die man etwa auf Wiki­pe­dia zitiert fin­det: Das Lexi­kon des inter­na­tio­na­len Films nennt den Film eine “per­sön­li­che Uto­pie” sowie eine “Hom­mage an die Lite­ra­tur und an die abend­län­di­sche Kul­tur gene­rell”; die Film­his­to­ri­ker Hahn und Jan­sen kon­sta­tier­ten, es feh­le “der düs­te­re, furcht­erre­gen­de Anstrich zukünf­ti­ger Unmensch­lich­keit”, fan­den aber auch, daß die Flucht Mon­tags “sinn­los” sei, denn “sie weist kei­nen Weg in eine ande­re Zukunft” (ist das wirk­lich der Fall?). Der Evan­ge­li­sche Film­be­ob­ach­ter bemä­kel­te 1967, daß der Film “jedes poli­ti­sche oder gesell­schaft­li­che Enga­ge­ment ver­mis­sen läßt” (was wohl stimmt, und was den Film vor dem schnel­len Altern bewahrt hat).

Ent­schei­dend für die Akzent­ver­schie­bung zwi­schen Buch und Film war wohl die Tat­sa­che, daß Truf­f­aut als pas­sio­nier­ter Cine­phi­ler kei­nen not­wen­di­gen Wider­spruch zwi­schen einer Kul­tur des Bil­des (Film, Fern­se­hen, Comics) und einer Kul­tur des Wor­tes sah:

1966, als ich den Film gedreht habe, sah man noch nicht so viel fern wie heu­te, es wur­de noch nicht so viel über das Fern­se­hen gere­det, so daß die Kri­tik sicher noch nicht sehr pro­fund sein konn­te. Ich den­ke, damals fing man gera­de erst an, die lite­ra­ri­sche Kul­tur gegen­über den audio­vi­su­el­len Medi­en zu ver­tei­di­gen. Aber ich selbst habe mir dar­über kei­ne Gedan­ken gemacht. Mein Inter­es­se rühr­te daher, daß ich immer schon ein Freund von Büchern war. Aber es gab bei mir nie einen Kon­flikt zwi­schen Lite­ra­tur und Film.

Die­se Sät­ze sind viel­leicht ein wenig über­ra­schend, ent­spre­chen jedoch den Tat­sa­chen. Neil Post­mans berühm­tes Buch Wir amü­sie­ren uns zu Tode soll­te erst 1984 erschei­nen; Brad­bu­ry war weit­sich­tig genug, daß ihm bereits 1953, als sein Roman erst­ma­lig erschien, das Fern­se­hen als geis­ti­ge Bedro­hung erschien.

In der Tat wirkt der (pseudo-)interaktive Bild­schirm, der im Wohn­zim­mer der Mon­tags in Truf­f­auts Film steht, heu­te auf­fal­lend klein, wäh­rend er in Brad­bu­rys Roman bereits eine gan­ze Wand aus­füllt. 1966 mag er viel­leicht noch wie ein Rie­se erschie­nen sein. Kaum vor­stell­bar war zu die­sem Zeit­punkt die All­ge­gen­wart von Bild­schir­men durch Com­pu­ter, Lap­tops und Smart­phones, die “smar­ter” sind als die aller­meis­ten ihrer Besit­zer und wohl kaum zur Stei­ge­rung ihrer Intel­li­genz und Bil­dung beitragen.

Die Rol­le von Post­man spie­len heu­te Digi­ta­li­sie­rungs­kri­ti­ker wie Man­fred Spit­zer, die von den libe­ra­len Medi­en als alar­mis­ti­sche “Panik­ma­cher” ver­spot­tet wer­den. Von einer schäd­li­chen Wir­kung der Mas­sen­me­di­en und des Inter­net­kon­sums will man heu­te nichts mehr hören, obwohl sie in einer Wei­se unse­ren All­tag und unse­re Frei­zeit­ge­stal­tung domi­nie­ren, wie dies 1953 und sogar noch 1966 nicht der Fall war. Und dies gänz­lich ohne Bücher­ver­bren­nun­gen oder auch nur ‑ver­bo­te.

Eine Schicht unter Brad­bu­rys Kri­tik an der Mas­sen­kul­tur liegt aber noch ein viel älte­rer kul­tur­kri­ti­scher Strang, von dem man kei­nes­wegs sagen kann, daß er obso­let gewor­den sei: Die Welt von Film und Roman ist eine Welt des “letz­ten Men­schen”, der mit Dro­gen und seich­ter Unter­hal­tung infan­til gehal­ten und “glück­lich” gemacht wird, ähn­lich, wie es Hux­ley in Schö­ne neue Welt beschrie­ben und wie es Yuval Hara­ri für die Mas­sen an “nutz­lo­sen Essern” in der nahen Zukunft (und eigent­lich schon Gegen­wart) vor­ge­se­hen hat.

Bücher wer­den in der Welt von Fah­ren­heit 451 nicht nur des­we­gen als Gefahr betrach­tet, weil sie kri­ti­sche Gedan­ken wecken, son­dern auch und vor allem, weil sie die Men­schen “unglück­lich” und “anti­so­zi­al” machen, Emo­tio­nen und Lei­den­schaf­ten zu ent­fa­chen ver­mö­gen und damit poten­ti­ell das Indi­vi­du­um und die Gesell­schaft desta­bi­li­sie­ren könn­ten – eine Idee, die im Zen­trum des Films Equi­li­bri­um (2002) steht, der sich eine Men­ge von Brad­bu­ry abge­schaut hat.

Das wird deut­lich in einer Schlüs­sel­sze­ne, in der Mon­tag die Freun­din­nen sei­ner Frau schockt, als er mit einem Buch in einem roten Ein­band in der Hand ins Zim­mer tritt, als wäre es eine Waf­fe oder ein obs­zö­ner Gegen­stand, und dann auch noch zum all­ge­mei­nen Hor­ror der Anwe­sen­den dar­aus zu rezi­tie­ren beginnt. Im Roman ist es ein Gedicht von Matthew Arnold, im Film eine Pas­sa­ge aus David Cop­per­field. Eine der anwe­sen­den Freun­din­nen Lindas/Mildreds wird davon der­art erschüt­tert, daß sie in Trä­nen aus­bricht: “Ich kann die­se Gefüh­le nicht ertra­gen! Ich habe alle die­se Din­ge vergessen!”

Das erin­nert an den viel (und fast schon zu Tode) zitier­ten Satz von Kaf­ka: “Ein Buch muß die Axt sein für das gefro­re­ne Meer in uns.”

Die Gesell­schafts­ord­nung in Fah­ren­heit 451 baut ähn­lich wie jene in Schö­ne neue Welt auf der Vor­stel­lung auf, kol­lek­ti­ves “Glück” sei tech­no­kra­tisch durch die Befrie­di­gung von Bedürf­nis­sen und die Still­le­gung von Affek­ten zu erschaf­fen; sowohl Hux­ley als auch Brad­bu­ry waren der Ansicht, daß dadurch wesent­li­che Dimen­sio­nen des Mensch­seins unter­drückt und ver­krüp­pelt werden.

Trotz der “faschis­ti­schen” Optik, die hier­ar­chi­sche Struk­tu­ren impli­ziert, ist die Dik­ta­tur in Fah­ren­heit 451 eine dezi­diert ega­li­tä­re, somit also “lin­ke”, was im Roman in einem lan­gen Mono­log von Mon­tags Vor­ge­setz­tem Beat­ty (im Film ist er namen­los und erheb­lich weni­ger schlau und bedroh­lich) deut­lich zum Aus­druck kommt:

Wir müs­sen alle gleich sein. Nicht frei und gleich gebo­ren, wie es in der Ver­fas­sung heißt, son­dern gleich gemacht. Jeder ein Abklatsch des andern, dann sind sie alle glück­lich, denn es gibt nichts Über­ra­gen­des mehr, vor dem man den Kopf ein­zie­hen müß­te, nichts, was einen Maß­stab abgä­be. Also! Ein Buch im Haus neben­an ist wie ein scharf­ge­la­de­nes Gewehr. Man ver­nich­te es. Man ent­la­de die Waf­fe. Man rei­ße den Geist ab.

Beat­tys Plä­doy­er für die Ver­nich­tung von Büchern beinhal­tet auch ein “poli­tisch kor­rek­tes”, proto-“wokes” Argu­ment, das heu­te an Viru­lenz gewon­nen hat. Bücher dür­fen sei­ner Mei­nung nach auf kei­nen Fall Min­der­hei­ten belei­di­gen, um all­ge­mei­nen Frie­de-Freu­de-Eier­ku­chen zumin­dest zu fin­gie­ren. Dabei sei zu beach­ten: “Je grö­ßer die Bevöl­ke­rung, um so mehr Minderheiten”!

Je grö­ßer der Markt, Mon­tag, umso weni­ger darf man sich auf umstrit­te­ne Fra­gen ein­las­sen, merk dir das! Auch die min­des­te Min­der­heit muß geschont wer­den. Schrift­stel­ler, vol­ler bos­haf­ter Ein­fäl­le, schließt eure Schreib­ma­schi­nen ab! (…) Du mußt begrei­fen, bei der Aus­deh­nung unse­rer Kul­tur­welt kann kei­ner­lei Beun­ru­hi­gung der Min­der­hei­ten gedul­det wer­den. (…) Far­bi­ge neh­men Anstoß an “Klein Sam­bo”. Man ver­bren­ne es. Den Wei­ßen ist “Onkel Toms Hüt­te” ein Dorn im Auge. Man ver­bren­ne es. (…) See­len­frie­den, Mon­tag. Gemüts­ru­he, Mon­tag. Nur kein Ärger­nis. [Im Film wer­den zwei ande­re Bei­spie­le genannt: “Robin­son Cru­soe” moch­ten nach Aus­kunft des Kom­man­dan­ten die Far­bi­gen nicht, und Nietz­sche “moch­ten die Juden nicht.” – ML]

Heu­te kön­nen wir den Trend beob­ach­ten, daß immer mehr Bücher ver­gan­ge­ner Zei­ten, in denen als “sen­si­bel” ein­ge­stuf­te Wör­ter und Pas­sa­gen vor­kom­men, zwar nicht ver­bo­ten oder ver­brannt, aber, was viel­leicht noch schlim­mer ist, umge­schrie­ben und ver­fälscht wer­den, vor allem im anglo­pho­nen Raum: So wer­den inzwi­schen “gesäu­ber­te” Ver­sio­nen von Roma­nen und Erzäh­lun­gen von Mark Twa­in, Joseph Con­rad, Aga­tha Chris­tie, Ian Fle­ming, Roald Dahl oder P. G. Wode­house ange­bo­ten, wobei ganz beson­ders das “N‑Wort” und art­ver­wand­tes Voka­bu­lar ins Visier der Zen­so­ren gera­ten sind.

Der Grund dafür ist nicht ganz der­sel­be wie zu Brad­bu­rys Zei­ten: Die “woke” Klit­te­rung von Büchern aus der Ver­gan­gen­heit steht im Kon­text einer Mul­ti­kul­tu­ra­li­sie­rungs­po­li­tik, in denen geschütz­te Min­der­hei­ten einen sakro­sank­ten Sta­tus erhal­ten und durch Blas­phe­mie-Geset­ze (“Haß­re­de”) zu tabui­sier­ten Enti­tä­ten erho­ben wer­den sol­len (in einer Neu­ver­fil­mung aus dem Jahr 2018 wur­de Mon­tag übri­gens mit einem schwar­zen Schau­spie­ler besetzt).

Das Argu­ment der “Auf­wie­ge­lung”, etwa zum “Ras­sen­haß”, wird frei­lich immer noch ins Feld geführt, um gegen Bücher und Autoren vor­zu­ge­hen, dies aller­dings immer nur in eine poli­ti­sche Rich­tung, wäh­rend das Regime von Fah­ren­heit 451 den Dis­sens in allen Rich­tun­gen still­le­gen möch­te. Es möch­te nicht bloß kon­tro­ver­se Bücher ver­bie­ten, son­dern die Kon­tro­ver­se an sich, und damit auch das Buch oder die Idee des Buches an sich.

Des­halb ver­nich­tet es in sei­nem Hygie­ne­wahn auch Bücher, die als “harm­los” gel­ten. Wie groß ist zum Bei­spiel die Gefahr, daß jemand durch die Lekü­re von Don Qui­chot­te, des­sen Haupt­fi­gur durch roman­ti­sche Lek­tü­ren in Wahn­vor­stel­lun­gen ver­fiel, auf sub­ver­si­ve oder rebel­li­sche Gedan­ken kommt?

Eben­so wie den “poli­ti­schen” Aspekt hat Truf­f­aut auch das “Science-Fiction”-Element des Stof­fes her­un­ter­ge­dimmt: Ähn­lich wie in Kubricks Uhr­werk Oran­ge, der ein paar Jah­re spä­ter eben­falls in Eng­land und weit­ge­hend an “bru­ta­lis­ti­schen” Ori­gi­nal­schau­plät­zen gedreht wur­de, erscheint das “Futu­ris­ti­sche” vor allem in Form von spie­le­ri­schen Ver­frem­dun­gen der Gegenwart.

So ist etwa die Schwe­be­bahn, in der sich Mon­tag und Cla­ris­se täg­lich tref­fen, kein Set, son­dern eine damals tat­säch­lich exis­tie­ren­de Test­stre­cke in der Nähe von Orlé­ans. Der furcht­erre­gen­de Robo­ter­hund aus Brad­bu­rys Roman, der Mon­tags inne­re Wand­lung zu “wit­tern” beginnt, ist völ­lig ver­schwun­den, und wur­de (wenig über­zeu­gend) durch eine Feu­er­wehr­rutsch­stan­ge ersetzt, die sich zuneh­mend wei­gert, Mon­tag “nach oben” zu beför­dern (alles an die­ser “Feu­er­wehr” ist ver­kehrt her­um). Der ein­zi­ge nen­nens­wer­te “Spe­cial Effect” ist ein klei­ner Trupp von Blue-Screen-“Raketenmännern”, die auf der Suche nach dem flüch­ti­gen Mon­tag durch die Land­schaft düsen.

Hin­zu kom­men Ele­men­te, die dem Film bewußt etwas Kind­li­ches, Mär­chen­haf­tes ver­lei­hen: Das knall­ro­te, dach- und sitz­lo­se Feu­er­wehr­au­to sieht in den Tota­len aus wie ein Spiel­zeug, die stramm ker­zen­ge­ra­de auf ihm ste­hen­den Feu­er­wehr­män­ner wir­ken wie Zinn­fi­gu­ren, die ana­chro­nis­tisch alt­mo­di­schen Tele­fo­ne schei­nen aus den zeh­ner und zwan­zi­ger Jah­ren des 20. Jahr­hun­derts zu stammen.

Alfred Hitch­cock, Truf­f­auts gro­ßer Lehr­meis­ter, den er im Vor­jahr aus­gie­big inter­viewt hat­te, ist in etli­chen visu­ell ful­mi­nan­ten (hin­ter der Kame­ra stand ein Meis­ter, Nico­las Roeg, der spä­ter ins Regie­fach wech­sel­te), thril­ler­ar­ti­gen Sze­nen sowie einer Traum­se­quenz, die an Ver­ti­go (1958) erin­nert, deut­lich präsent.

Die mit­rei­ßen­de Orches­ter­mu­sik stammt (unver­kenn­bar) von Hitch­cocks Haus­kom­po­nist Ber­nard Herr­mann und erzeugt Momen­te von schock­haf­ter, über­wäl­ti­gen­der emo­tio­na­ler Inten­si­tät. Truf­f­aut nann­te sie “eine Art Opé­ra bar­ba­re”, die dem Film, den er eher “ein wenig iro­nisch, ein wenig kind­lich” anle­gen woll­te, “etwas Gro­ßes, Gewich­ti­ges” verleiht.

Groß, gewich­tig, und doch gleich­zei­tig iro­nisch und kind­lich ist auch die von Wim Wen­ders zu Recht gerühm­te, unver­geß­li­che Schluß­se­quenz. Obwohl die “Bücher­men­schen”, die Wald­gän­ger, die ihre Lieb­lings­bü­cher aus­wen­dig gelernt und sich damit glei­cher­ma­ßen in sie ver­wan­delt haben, auch bei Brad­bu­ry vor­kom­men, so erhal­ten sie erst in der Truffaut’schen Fas­sung ihre vol­le poe­ti­sche Kraft und Ausgestaltung.

Die Bücher, denen Mon­tag in Gestalt von vor­wie­gend skur­ri­len und exzen­tri­schen Gestal­ten begeg­net, als wäre er eine Art Ali­ce im Wun­der­land (Tweed­ledum und Tweed­le­dee tre­ten auf als Jane Aus­tens Stolz und Vor­ur­teil, “Band eins und zwei”), sind vor allem Wer­ke aus dem 19. Jahr­hun­dert: von Stendhal, Ste­ven­son, Dickens, Emi­ly Bron­të, Byron, Lewis Car­roll, also alle­samt tote wei­ße Män­ner und Frauen.

Aber auch Der Fürst von Machia­vel­li, Pla­tons Der Staat, Becketts War­ten auf Godot, Brad­bu­rys Mars-Chro­ni­ken (ver­kör­pert von einem jun­gen Mann mit flam­mend rotem Haar) tau­chen auf, und lei­der auch ein ziem­lich dum­mes Buch, Sar­tres Über­le­gun­gen zur Juden­fra­ge, ver­kör­pert von einer lächeln­den blon­den Stu­den­tin mit Kurzhaarschnitt.

In der letz­ten Sze­ne des Films sieht man die Bücher­men­schen, wie sie vor sich hin mur­melnd und memo­rie­rend anein­an­der vor­bei­spa­zie­ren, jeder in sein eige­nes “Buch”, also in sich selbst, ver­tieft. Nur Mon­tag, der “Anfän­ger”, der noch aus­wen­dig lernt, hält noch ein phy­si­sches Exem­plar in den Hän­den, Edgar Allan Poes Tales of Mys­tery and Ima­gi­na­ti­on. Schnee­flo­cken rie­seln her­ab (zufäl­lig schnei­te es an die­sem Dreh­tag, der auch Julie Christies Geburts­tag war), wäh­rend die Stim­men in ver­schie­de­nen Spra­chen ein­an­der überlagern.

Was man hier sieht, ist eine eher lose Gemein­schaft, die sich eher zufäl­lig und ohne vor­ge­faß­ten Plan zusam­men­ge­fun­den hat. Sie erin­nert an die Figu­ren des “Außen­sei­ters” und “Ein­zel­gän­gers” in Botho Strauß’ Essay Anschwel­len­der Bocks­ge­sang, die der Autor “rechts” ver­or­te­te, und die gera­de­zu per­fekt zu Truf­f­auts Ver­si­on von Brad­bu­rys Stoff passen:

Der Rech­te – in der Rich­te: ein Außen­sei­ter. Das, was ihn zutiefst von der pro­ble­ma­ti­schen Welt trennt, ist ihr Man­gel an Pas­si­on, ihre fre­vel­haf­te Selbst­be­zo­gen­heit, ihre eben­so lächer­li­che wie wider­wär­ti­ge Ver­ge­sell­schaf­tung des Lei­dens und des Glückens.

Die­ser “Rech­te” ist eine poe­ti­sche, wie auch eine durch die Poe­sie erzeug­te Figur:

Es han­delt sich um einen ande­ren Akt der Auf­leh­nung: gegen die Total­herr­schaft der Gegen­wart, die dem Indi­vi­du­um jede Anwe­sen­heit von unauf­ge­klär­ter Ver­gan­gen­heit, von geschicht­li­chem Gewor­den­sein, von mythi­scher Zeit rau­ben und aus­mer­zen will. Anders als die lin­ke, Heils­ge­schich­te par­odie­ren­de Phan­ta­sie malt sich die rech­te kein künf­ti­ges Welt­reich aus, bedarf kei­ner Uto­pie, son­dern sucht den Wie­der­an­schluß an die lan­ge Zeit, die unbe­weg­te, ist ihrem Wesen nach Tief­en­erin­ne­rung und inso­fern eine reli­giö­se oder pro­to­po­li­ti­sche Initia­ti­on. Sie ist immer und exis­ten­ti­ell eine Phan­ta­sie des Ver­lus­tes und nicht der (irdi­schen) Ver­hei­ßung. Eine Phan­ta­sie also des Dich­ters, von Homer bis Hölderlin.

Und der Weg zu die­ser Initia­ti­on führt über die Dichter:

Dabei: so vie­le wun­der­ba­re Dich­ter, die noch zu lesen sind – so viel Stoff und Vor­bild­lich­keit für einen jun­gen Men­schen, um ein Ein­zel­gän­ger zu wer­den. Man muß nur wäh­len kön­nen; das ein­zi­ge, was man braucht, ist der Mut zur Sezes­si­on, zur Abkehr vom Main­stream. Ich bin davon über­zeugt, daß die magi­schen Orte der Abson­de­rung, daß ein ver­spreng­tes Häuf­lein von inspi­rier­ten Nicht­ein­ver­stan­de­nen für den Erhalt des all­ge­mei­nen Ver­stän­di­gungs­sys­tems uner­läß­lich ist.

Viel­leicht hat­te Botho Strauß (Jahr­gang 1944) Truf­f­auts Fah­ren­heit 451 vor Augen, als er dies schrieb, und ähn­li­che Emp­fin­dun­gen wie der ein­gangs zitier­te Wim Wen­ders (Jahr­gang 1945), als er die­se Sze­nen zum ers­ten Mal sah.

Und über die­se Brü­cke hin­weg kön­nen wir Rech­ten (in der Rich­te? Die Nach­hut der Geschich­te?) getrost bean­spru­chen, daß nicht nur das Buch, son­dern auch der Film heu­te “uns” gehört.

– – –

Fah­ren­heit 451, eines der Bücher das man lesen muß, ist in einer schö­nen Aus­ga­be hier zu haben.

Um die Bild- und Text-Spra­che des Romans her­um hat Antai­os den Sam­mel­band Das Buch im Haus neben­an her­aus­ge­ge­ben. Dar­in erzäh­len neun Autoren am Bei­spiel von je fünf Büchern, wie die Lek­tü­re ihr Leben präg­te. Hier ein­se­hen und bestel­len – signiert von Kositza und Kubitschek!

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

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Kommentare (25)

Maiordomus

6. April 2024 12:51

@¦Lichtmesz. Ich treffe mich mit Ihnen wie mit kaum einem Publizisten bei der kulturhistorisch und kulturpolitischen Vertiefung von grossen Filmen;, von denen ich den hier gewürdigten aus Altersgründen bereits bei Uraufführung in meinem Land gesehen habe. Mein grösstes Theater-Erlebnis am Fernsehen, auch live kaum mehr je erreicht, war am Osterabend 1964 die ARD-Ausstrahlung einer Theaterauffzeichnung von "Torquato Tasso" von JWG mit Oskar Werner in der Titelrolle. Ich komme nicht umhin zu sagen: der wohl beste Tasso des 20. Jahrhunderts. Diesen Aufführungsstil können Sie bei heutigen Theatern vergessen, und einen Oskar Werner, den wiedergeborenen Tasso, wird es nie wieder geben. Sein Grab in Balzers FL bleibt aber nichtsdestotrotz aufgehoben. @Lichtmesz. Sie sprachen mal bei einem unvergesslichen Treffen der SiN-Leserschaft mit Frau CS in der Schweiz, thematisch und logistisch genau richtig organisiert; demgegenüber war die Schweiz-Reise von MS leider überflüssig wie ein Kropf; erst recht in einer Rebbauerngemeinde, wo die Leute nie anders als patriotisch gestimmt haben; war dort sogar mal selber, wie ein weiterer Gesinnungsfreund, Bundesfeierredner zum Tag der Heimat. Vgl. noch Blocher über den Kontakt mit "Rechtsextremen".  

Ordoliberal

6. April 2024 14:34

Es sind solche inspirierenden Texte wie dieser von Lichtmesz, die mich - obwohl als Libertärer kein Neuer Rechter - immer wieder zur Sezession zurückbringen. Aber vielleicht liegt es ja auch daran, dass es Friedrich Nietzsche war, der mich philosophisch entjungfert hat, und meine libertären Überzeugungen erst später von Wittgenstein und dem Doppelgestirn Hayek & Mises gebildet wurden.
Noch wahrscheinlicher ist allerdings, dass es wahr ist, was ich als junger Mann einmal meinem damaligen besten Freund in einem erleuchtungsartigen Moment während einer Bergwanderung gestanden habe: "Eigentlich interessiert mich im Leben nur Literatur, Film und Philosophie."

Nemo Obligatur

6. April 2024 18:46

@ Ordoliberal
"Eigentlich interessiert mich im Leben nur Literatur, Film und Philosophie."
Vielleicht kann man sagen "Kunst und Philosophie", damit hätten Sie dann vielleicht das Feld abgesteckt, auf dem sich der Geist Europas am stärksten manifestiert.
 
Was die politische Ausrichtung angeht: rechts, neurechts, libertär, liberal-konservativ, vielleicht sogar links-konservativ, da gibt es viele unterschiedlich "eingefärbte" Leser. Nur eines sollte man hier nicht sein: geistlos.
 
Mein Dank geht natürlich an ML für den nuancenreichen Artikel.

Klaus Kunde

6. April 2024 20:29

Reminiszenzen an längst vergangene Zeiten, in denen ich noch als Schüler mein Taschengeld in Kinos verballert habe. Am liebsten im alten Filmkunst 66 in der Bleibtreustraße mit dem leicht ranzigen Flair. Off- oder auch Programmkino, hier war man unter seinesgleichen, die der Wirklichkeit entrückten Cineasten, jung und alt, arm und reich. Sich anschließende Debattenkultur gegenüber mit ´ner Pizza vom Blech; die Abende wurden lang. Fahrenheit 451 dürfte ich dort so um 1971 gesehen haben, damals, mit siebzehn, als ich noch glaubte, es bliebe ewig Mai. Beeindruckend, sowohl die Story als auch ihr Protagonist, Oskar Werner. Sonderbar, es gab seinerzeit Filme, die brannten sich mir ein, auf Dauer, während heutzutage auch gute Produktionen, sich nach wenigen Tagen im Dunkel der Vergangenheit verlieren. Ich danke dem Autor für seine Mühe, mich in die ferne Vergangenheit zurückgeholt zu haben.

RMH

6. April 2024 20:44

"Vielleicht kann man sagen "Kunst und Philosophie", damit hätten Sie dann vielleicht das Feld abgesteckt, auf dem sich der Geist Europas am stärksten manifestiert." Wenn man Musik unter Kunst einordnet und die Naturwissenschaft als Teil der Philosphie ansieht, dann passt es.
Ich persönlich war vom Buch bereits stark beindruckt, als ich den Film überhaupt zum ersten mal gesehen habe und es war so, wie so oft bei Literaturverfilmungen von Büchern, wo man bereits eigene, starke innere Bilder hatte, dass man erst einmal ein bisschen fremdelt. Der wienernde, blonde O. Werner, den ich in Jules & Jim großartig fand, erinnerte mich unter der schwarzen Mütze optisch stellenweise fast an die Filmfigur des Michel (Emil im Original) aus Lönneberga und unter dem Fireman Montag hatte ich mir in meinem auf dem Buch basierenden "Kopfkino" einfach jemanden anderen vorgestellt. Trotzdem war am Ende des Films das Ganze für mich ok, aber bei einem Werk, bei dem es gerade um die gedruckte Manifestierung von Worten und Gedanken geht und der Freiheitswelt, die diese Manifestierungen ermöglichen, ist die Lektüre des Buches jederzeit jeder Verfilmung vorzuziehen. Möchte gar nicht wissen, wie die anderen Verfilmungen, die ich nicht kenne, aussehen, denn Truffaut und Werner haben am Ende einfach Gutes abgeliefert, wenn auch evtl. nicht ihr Bestes. Dank an M.L. für die sehr starke Rezension! Für die jungen Rechten gilt: Erst LESEN dann ggf. GLOTZEN. Glotzen ersetzt nicht die Lektüre, genauswenig wie I-Net Videos kein Grundlagenstudium ersetzen kann.

Laurenz

6. April 2024 21:35

Mußte diesen ML-Artikel erstmal wieder sacken lassen. Zumindest bei mir braucht es Zeit, bis sich dazu Haltung, Gedanken & Sätze zu solch einem Artikel formulieren. Auch wenn mir persönlich eine Welt ohne Bücher unvorstellbar erscheint, so brauchen WiR LESER uns nichts vorzumachen. Menschen lebten genauso -, wenn nicht gar glücklicher in Nicht-Schreib-Kulturen ohne Bücher. Die Überlegenheit einer Schreib-Kultur liegt vorwiegend im militärischen Bereich. Deswegen setzte sich die Schreib-Kultur wohl auch durch. Daher ist Ray Bradbury's Idee im Roman, nach dem Djihad gegen Bücher, Buchinhalte auswendig zu lernen, auch kein Geniestreich, sondern ergibt sich zwangsläufig in Nicht-Schreib-Kulturen. In Nicht-Schreib-Kulturen muß alles Wissen auswendig gelernt werden. Natürlich bringen uns Bücher & moderne Speicher, wie Rechner, weiter weg vom auswendig lernen. Ob das gut ist? Zumindest ist die Planung im Roman nicht irreal. Google schätzte 2010, daß es ca. 130 Mio. unterschiedliche Bücher gäbe. Überschaubar.

Laurenz

6. April 2024 21:56

@ML ... Nach Ihrer üblichen ausgiebigen Recherche, bleibt eigentlich wenig zu kommentieren. Mit Ihrem Verweis auf die Rede GKs wird damit das meiste gesagt sein. Nach dem Lesen Ihres Artikel schaute ich mir im Netz den Lebenslauf Werners an. Haben Sie eine Idee davon, wo Werner 1952 das Geld her hatte, den Bau Seiner Teixlburg (Teufelsburg) in Liechtenstein zu beginnen?
@Ordoliberal  ... Libertärer kein Neuer Rechter ... NeuRechte orientieren sich im wesentlichen an Realitäten. Damit haben Sie ja wenig zu tun. Kann es sein, daß Ihr Bezug zu Schnellroda sich daraus ergibt, daß hier viele Katholische Intellektuelle unterwegs sind? Als Libertärer sind Sie ja auch als Anhänger einer Religion unterwegs, deren Erlöser von Hayek & von Mises sind.
@Klaus Kunde ... Es ist viel leichter, sich in die Vergangenheit zu beamen, als in die Zukunft.

Adler und Drache

7. April 2024 10:48

Starker Text! Vielen Dank! Im Vergleich Buch - Film ist es für mich einer der wenigen Fälle, in denen der Film besser abschneidet. Bradbury fehlt ein gewisser Biss, er ist Melancholiker, Zuckerbäcker und manchmal auch Surrealist (Mars-Chroniken!), aber fürs Dystopische geht ihm die nötige Scharfkantigkeit ab. 

Womöglich kann man für die Sezession nur gewonnen werden, wenn man sie ohnehin, auch welchen Gründen auch immer, von Anfang an in sich trägt. 
 

Maiordomus

7. April 2024 11:59

@Adler und Drache. Der fast einzige Filmemacher, der jeweils Romanautoren zu übertreffen wusste, war wohl Stanley Kubrick, am krassesten wohl mit Shining, aber selbst ein britischer Klassiker wie "Barry Lyndon" kommt an die Hintergründigkeit des Films nicht heran, am allerwenigsten das Original von Lolita von Nabokov gegen z.B. Peter Sellers und meine verstorbene Jahrgängerin Sue Lyon. Damals ging Erotik filmisch noch ohne Porno-Beigaben mit umso stärkerer Wirkung.
@ Ordoliberal. Über Ihre philosophische "Entjungferung" durch Nietzsche habe ich offenbar derart kritisch geantwortet, dass es nicht geschaltet werden konnte. Dass indes @Laurenz  Hayek nie im Original gelesen hat, dessen unübertreffliche Gedanken der Korrumpierung durch Sozialstaat als "Weg zur Knechtschaft" eine menschheitsgeschichtliche Leistung bleiben, wobei H. im Gegensatz zu Klima-Gläubigen nicht auf dem philosophisch-ethischen Niveau der Hexenprozesse argumentiert, eher in der Tradition der britisch-schottischen Aufklärung. Von Wirtschaft verstand er mehr als jeder Marxist.  
 

herbstlicht

7. April 2024 13:04

@Laurenz, 6. April 2024 21:35,m schrieb:»Bücher & moderne Speicher«
Mit etwas Praxis im Sichern von Daten sann ich hierüber schon im Zshg. mit GKs Artikel nach; es droht wohl weniger die Vernichtung der schriftlichen Tradition, als deren Ertränkung in einem Meer von Ramsch.  Ich denke da insbesondere an die unzählbaren Belege der Dummheit oder Unredlichkeit der Autoren im Web.  Dies hat, wohl ohne derartiges zu ahnen, Kurd Laßwitz mit seiner Universalbibliothek vorweggenomen.  Aber Laßwitz formuliert die Regel für den Umgang mit der "Universalbibliothek":
»Nur dürfen wir den festen Boden der Erfahrung nicht verlassen. Nicht in der Universalbibliothek müssen wir suchen, sondern den Band, dessen wir bedürfen, uns selbst herstellen in dauernder, ernster, ehrlicher Arbeit.<

Herr K aus O

7. April 2024 13:43

Den Film finde ich unfreiwillig komisch.

ML: Der Film ist voller absichtlicher Komik und Ironie. An welche Szene denken Sie hier z. B.?

Überhaupt hat Werner im Film nie so richtig brilliert, aber als Rezitator. Sein Christus Visionen haben mir persönlich diese Gedichte von Rilke überhaupt auch nur annähernd nahegebracht. ("Schau dieses Perlenkämpfen, wie das schäumt,schau dieses Perlendämpfen, wie sichs bäumt:Das ist der Weihrauch unsrer Kathedralen,der prickelnd sickert aus opalnen Schalen!")
Und dann noch die Balladen von Schiller und Goethe. Einmal von ihm gehört ist man von Kinski usw. geheilt. Perfektes Timing und eine Dynamik wie ein Jahrhundertpianist

Laurenz

7. April 2024 14:20

@Herbstlicht @L. ... auch in der Deutschen Bibliothek werden noch Mio. von Büchern auf ihre Digitalisierung warten. Meist wird ja nur gescannt. Sinnvoll wäre es, die Bücher einzulesen & neu zu formatieren. Vor allem kostbare, zB handgeschriebene Bücher brauchen dadurch nicht mehr aus der Konservierung geholt werden. Ich würde wahrscheinlich öfter mal ein Buch bei Antaios bestellen, wenn ich es digital kaufen könnte. Die Ramsch-Frage bleibt immer subjektiv. Es wird genügend Leser geben, die generell Philosophie als Ramsch erachten. Ihre Sorglosigkeit teile ich nicht. ML hat auf die im Grunde kriminelle Verfälschung von Büchern bereits hingewiesen. Das findet statt. In meinen Augen gehören Verfälscher & Denkmalschleifer hinter Schloß & Riegel. Hätten Sie Sich 2020 vorstellen können, daß man uns mit einer erlogenen Fakedemie & Mordspritzen heimsucht?

Umlautkombinat

7. April 2024 14:31

@Herbstlicht
 
> Universalbibliothek
 
Schoen, habe von Lasswitz bis jetzt nur die Kurzgeschichte https://de.wikisource.org/wiki/Auf_der_Seifenblase noch im Kopf. Ganz komplett ist der Ansatz natuerlich nicht, da Endlichkeit postuliert wird, wo in Wahrheit keine ist. Und wie schon richtig in der Geschichte selbst ausgedrueckt: Natuerlich ist nur Sagbares so erfassbar.

Ordoliberal

7. April 2024 14:58

1/3
@Maiordomus
Von Mises verachtete Nietzsche. Und ich kann verstehen, warum. Wittgenstein wiederum konnte weder mit Nietzsche (den er wohl gar nicht gelesen hat) noch mit Hayeks sozialphilosophischen Gedanken etwas anfangen. (Weswegen die beiden dieses Thema bei ihren privaten Treffen in Cambridge vermieden. Sie waren ja entfernte Cousins und kannten sich aus Wien.) Alle drei - ich zähle Hayek und Mises zusammen - sind philosophische Spezialisten: Wittgenstein für Sprachphilosophie, Nietzsche für Moralphilosophie, Hayek & Mises für Staatsphilosophie. Das jeweilig andere Gebiet interessiert sie nicht.

Ordoliberal

7. April 2024 14:59

2/3
@Maiordomus
Die Gemeinsamkeiten sind dennoch nicht zu übersehen: Alle drei sind Nominalisten und radikale Empiristen. Von Mises verachtete Platon nicht weniger, als Nietzsche es tat. Beide hielten ihn für ein geistiges Unglück. Man kann Wittgensteins Philosophie als Kampf gegen den Platonismus betrachten. Alle drei glaubten nicht an absolute Wahrheiten. Für alle drei waren Theorien nicht durch ihre Wahrheit, sondern durch ihre Nützlichkeit legitimiert. Alle drei waren Skeptiker, was die Möglichkeiten der Wissenschaft anging. Alle drei waren Pragmatisten. Wittgenstein erklärte Sprachbedeutung durch Handlung (meaning is use), von Mises entwarf eine Handlungstheorie als Grundlage seiner Sozialwissenschaft (Human Action), Nietzsches Moralphilosophie beruhte nicht auf einem Begriff der Wahrheit, sondern auf dem Begriff der schöpferischen Handlung (Mit dem Hammer philosophieren).

Ordoliberal

7. April 2024 15:02

3/3
@Maiordomus
Alle drei Philosophen hatte blinde Flecken in ihrer Weltsicht. 
Nietzsche konnte nicht sehen, dass auch Unternehmer schöpferisch tätig sind, dass ihre Produkte Epoche machende Kulturleistungen sein können, dass sie daher ebenfalls große Männer sein können. Er war eben ein pensionierter Beamter und Pfarrerssohn, dem das Wirtschaftsleben völlig fremd war.
Von Mises konnte die dem Menschen innewohnende Grausamkeit und Machtlust nicht sehen. Er hielt Menschen, die nicht mit anderen in freiwilligen Verträgen kooperieren, für dumm und nicht für böse. Und schon gar nicht für nützlich und unverzichtbar wie Nietzsche.
Wittgenstein hatte ganz naive moralische Überzeugungen, die sich auch auf seine politischen Ansichten übertrugen. Er las Tolstoi wie einen Heiligen. Das hatte wohl mit seiner Homosexualität zu tun, die er als Makel betrachtete.
Immerhin ergänzen sich die drei bei mir zu einem Weltbild, das es mir erlaubt, Menschen ernst zu nehmen, die in der Lage sind, Carl Schmitt, Martin Heidegger und Jesus Christus gleichzeitig für interessant zu halten.

ML: Und nun bitte wieder zum Thema zurück!

Simplicius Teutsch

7. April 2024 15:34

Man weiß ja bald gar nicht mehr, was man alles lesen (und hören und schauen) soll, seitdem die alternativen Medien wie manchmal die Pilze im Frühherbst aus dem Boden sprießen. 
 
Aber @_Martin Lichtmesz ist immer wieder eine besonders unterhaltsame, ergiebige Lektüre für einen wie mich, weil er mich in der Regel dort abholt, wo ich stehe und dann doch zu Aussichten und Einsichten führt, wo ich mir sage, ja, stimmt, so schaut’s aus bzw. so hat es mal ausgeschaut. 
 
Okay, Fahrenheit 451 ist eine schon altbekannte Geschichte, aber es steckt viel Erkenntnis darin, und als ganz junger Student war ich einstmals davon so fasziniert, dass ich versucht habe, lange vor SiN, selber ein Buch auswendig zu lernen, doch dann nach der ersten Seite (des Auswendiglernens) bin ich irgendwie vom Klopfzeichen an der Tür meiner Studentenbude weggeholt worden.

kikl

7. April 2024 17:31

Aber wie Truffaut sich dieser Science-Fiction-Geschichte angenommen hat, und wie er von diesem Feuerwehrmann namens Guy Montag erzählt, der kein Feuer mehr löschen, sondern stattdessen Brände stiften und Bücher verbrennen soll, das hat mich beim ersten Sehen mit offenem Mund dasitzen lassen,...
Die Welt steht derzeit nicht nur im Film auf dem Kopf. Die Verfassungsschützer, die eigentliche die Verfassung beschützen sollten, bekämpfen die Opposition und Meinungsfreiheit. Die Wissenschaftler, die mit Vernunft das Dogma bekämpfen sollten, verkünden religiöse Dogmen als "die Wissenschaft" usw... 
Der Fanatismus der Erleuchteten, die sich im Besitze der unbestreitbaren Wahrheit wähnen, mündet im Kampf gegen "Desinformation" und "Fakenews". Das führt im letzten Schritt wieder zur Bücherverbrennung.
Einen ersten Höhepunkt der Gleichmacherei haben wir während der Corona-Diktatur erlebt. Wer die Segnungen der Impfung nicht besungen hat, wurde gesellschaftlich geächtet und bestraft. Grundrechte gab's nurmehr für Mitläufer. Der Film hält uns insofern den Spiegel vor.
Diejenigen, die ihr eigenes Antlitz in diesem Film erblicken sollten,  also Faeser, Paus, Haldenwang und Co. sind derart von sich selbst geblendet, dass sie zu keiner Einsicht fähig sind. Gnade uns Gott, wenn sie wegen eines Wahlsieges der "Rechten" zur Gewalt greifen sollten, um ihre Macht zu sichern.

herbstlicht

7. April 2024 20:22

@Laurenz, 7. April 2024 14:20, schrieb: »Hätten Sie Sich 2020 vorstellen können, ...«Schon; hatte schon in den Siebzigern, als Student der Physik, erlebt, wie Industrie und Staat in böser Eintracht die Leute ängstigten, täuschten und belogen: ohne massenweise AKW gehen die Lichter aus.

Ein gebuertiger Hesse

7. April 2024 20:31

Brillanter Aufsatz.
Meine Lieblingsszene aus dem Film war immer diese, der erste Dialog zwischen Montag und Clarisse, der "neuen" Frau, als die beiden aus ihrem Alltags-Zug gestiegen sind und nun zusammen ein paar Meter durch eine Vorstadt-Landschaft gehen. Everything is loaded with promise. Das Licht in der Szene ist der Hammer (danke, Nicholas Roeg) und ... wie wunderbar ist es, Oskar Werner in der dt. Synchronfassung selbst sprechen zu hören: https://www.youtube.com/watch?v=P3Kx-uiP0bY

Laurenz

7. April 2024 23:01

@ML ... Ich hatte mir extra noch mal Aguirre hier zum Vergleich reingezogen https://youtu.be/lGZTl7Yl_SE & hier in Englisch. https://youtu.be/ojwxrzmAkdA 
Gerd Martienzen trifft im Grunde die Deutsche Sprechweise Kinskis ziemlich gut, schon ein hervorragender Synchronsprecher, Er synchronisierte zB auch Louis de Funès, also fundamental im Diametralen. Ich gehe davon aus, Martienzen muß quasi zum üben, den Erdbeermund synchron mitgesprochen haben. Kinskis Sprach-Melodie kommt im Englischen nicht ganz so genial rüber, wie im Deutschen.

links ist wo der daumen rechts ist

7. April 2024 23:10

Ich freue mich immer über die durchdachten ML-Artikel und formuliere zwangsläufig für mich Fortschreibungen und Einwände.
Da ich aktuell im KH eine Gott sei Dank mild verlaufende Pankreatitis ausheile und morgen oder übermorgen entlassen werde, hoffe ich doch, daß der Artikel noch eine Zeitlang freigeschaltet bleibt; mit Kanülen in den Armen schreibt es sich unangenehm.
Stichworte zu einer kompakten Ergänzung:
Oskar Werner und die Verlorenheit in seinen (internat.) Filmproduktionen.
Dystopien. Unterschiedliche Interpretationen bei Briten, Amerikanern und Franzosen.
Erzählen - Text - Bild: wie finden wir Bildschirm-Menschen in die ursprüngliche Gemeinschaft zurück?
Lust an der Büchervertilgung: in einer Großstadt wie Wien wird jeden Tag mind. eine wiss. relevante Bibliothek entsorgt.
Und Truffauts Film selber: ein missglücktes Meisterwerk, sorry.

Maiordomus

8. April 2024 07:39

@ML. Ich glaube nicht, dass @Ordoliberal hier einfach so neben dem Thema ist. Grosse Filme lehren uns Klassiker lesen, so gar der Japaner Kurosawa Shakespeares King Lear, bloss Kafka wurde im Film noch nie geschafft, am allerwenigsten mit der neuesten Motorrad-Version eines physiognomischen Bubis. Bergman, Fellini, Bunuel, Kubrick, Antonioni, Visconti, de Sica, Truffault, Fritz Lang, Eisenstein, Tarkowsky lehren uns philosophieren, jeder dieser Filmemacher hätte auch den Literaturnobelpreis verdient, die Drehbücher v. Fellini sind zumal ein Genuss und unentbehrlich z.B. für Casanova, wo Einsiedeln aus Geldgründen nicht gedreht werden konnte, weil es wie Venedig hätte nachgebaut werden müssen usw. Bunuel nimmt es als Religionskritiker wohl jederhzeit mit Nietzsche auf, und die v. @O genannten Denker, zumal Wittgenstein, könnten via Filme vielleicht besser verstanden werden als durch Philosophie-Seminarien, denen nur sehr starke geprüfte Logiker gewachsen wären.  

Maiordomus

8. April 2024 07:51

@Herr K. aus O. Zweifelsfrei ist Oskar Werner als Filmschauspieler übertroffen worden, so z.B. von Werner Krauss, dem anderen ganz grossen österreichischen Theaterschauspieler seines Jahrhunderts, der einem sogar den "Paracelsus" von G. W. Pabst (1943) geniessbar macht, über alles immer noch einer der besseren deutschen Historienfilme, in Sachen "gut gemacht" in der fellinesken Rekonstruktion der Atmosphäre einer spätmittelalterlichen Kleinstadt (wird nie "Basel" genannt!) im deutschen Film bis heute unerreicht, vgl. auch das Können von Harlan, einen künstlerischen, nicht geistigen Paten von Kubrick, der in dessen Familie einheiratete.  
Aber: Oskar Werner war ein Mime auf der Bühne, der Karajan der Rezitation bzw. Präsentation nicht nur von Goethe und Schiller, vgl. Karajans "Verhältnis" zu Beethoven. Der Film gehörte einfach dazu, ohne den Film schafft heute kein Schauspieler mehr Weltruhm. Ohne den Film hätte JWG aus Weimar recht: "Dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze."

Adler und Drache

8. April 2024 08:18

@links ist da wo der daumen rechts ist
Gute Genesung!

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