Mit dem Wahlabend am Sonntag stellt sich nun die Frage welche Erwartungen man nach diesem „ruckeligen Wahlkampf“ (Chrupalla im ARD-Interview) noch haben durfte. Nach Sichtung zahlreicher O‑Töne in den Interviews des Wahlabends und dem Buschfunk der Partei scheint sich mit den 15,9% des Wahlabends doch überwiegend Erleichterung einzustellen. Angesichts des sinkenden Trends in den Umfragen, seit einem halben Jahr, und Werten von zuletzt 14%, scheint die Partei noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen zu sein.
Die 15,9% könnten womöglich auch ein realistischeres Bild vom festen Wählerpotential der AfD darstellen. Es läßt sich nun präziser feststellen, wo die Partei tatsächlich steht.
Die 20% +X aus den Umfragen des Vorjahres sind überwiegend Ausdruck eines Mobilisierungsmaximum, dass durch das Momentum von Stimmung, politische Lage, Exklusivstellung im Protestmilieu und Schwäche der Anderen begünstigt wurde. Das Jahr 2023 hat zumindest demoskopisch gezeigt, dass die AfD auch Zugriff auf bislang unerschlossene Milieus und ungebundene Wechselwähler haben kann.
Mit einem 15,9% Sockel kann man auch diese Zielmarken wieder ins Visier nehmen. Auch in absoluten Stimmen konnte die AfD deutlich zulegen und trotz der traditionell geringeren Wahlbeteiligung bei Europawahlen, sogar das bundesweit stärkste Ergebnis von 2017 (5,8 Mio Stimmen) mit knapp 500.000 Stimmen übertrumpfen.
Bereits im Februar dieses Jahres habe ich in einem Artikel von sinkenden Umfragewerten bei einer gleichzeitig steigenden Normalisierung der AfD geschrieben. Schon frühere Studien haben gezeigt, daß die anfängliche Protestwählerthese nicht mehr haltbar ist. Die AfD bildet Schritt für Schritt ein eigenständiges Milieu, welches die Existenz der Partei im demokratischen Spektrum rechts der Mitte als normal voraussetzt und zugleich vor medialer Diffamierung und gegnerischen Kampagnen immunisiert ist.
82% der AfD-Anhänger geben an, dass es ihnen egal ist ob die Partei in Teilen als „rechtsextrem“ gilt, solange sie die richtigen Themen anspricht. 51% sagen, dass ihre Wahlentscheidung für die AfD inzwischen Ausdruck von Überzeugung ist und nicht nur von Protestmotiven geleitet wird – ein Plus von 15%. In den Daten von Forschungsgruppe Wahlen geben in einer fast identischen Fragestellung sogar 70% an, dass sie die AfD vor allem wegen ihrer politischen Forderungen wählen.
Unter diesen Gesichtspunkten ist die Partei als Ganzes in eine neue transformative Phase getreten, in der umso mehr um programmatische Profilierung, Kompetenzerweiterung, Aufbau eines strategischen Zentrums, kommunikative Professionalisierung und auch Personalaufbau geht.
Bei den soziodemographischen Daten zeigte sich einerseits ein weiterer Ausbau in den AfD-Kernmilieus. 33% (+10%) unter den Arbeitern, 22% (+9%) in der Altersgruppe 35–44 Jahre. Ebenso stark bleiben die Werte im ländlichen Raum.
Unterdurchschnittlich kommt die Partei weiterhin in der Generation 60+ und in westdeutschen Großstädten an. Neu ist jedoch der hohe Zuspruch unter Jungwählern. Hier kann die AfD 11% zulegen und ist damit neben der Union die stärkste Kraft bei den 16–24-Jährigen. Nur auf die Sonstigen verteilen sich noch mehr Jungwähler.
Derartige Entwicklungen konnten schon aus vergangenen Studien, Befragungen und Wahlsimulationen in den letzten Monaten entnommen werden. Und auch viele Wahlkämpfer berichten von einem enorm gewachsenen Zuspruch von jungen Menschen an den Infoständen.
Lange Zeit stellte sich die Frage, wo die AfD noch am ehesten unausgeschöpfte Wählerpotentiale über die Altersstrukturen anzapfen könnte. Sowohl unter den jungen Leuten als auch der 60+ Generation gab es stets nur unterdurchschnittliche Ergebnisse. Mit dem letzten Wahlsonntag dürfte diese Frage klar beantwortet worden sein. Doch der Erfolg bei den Jungwählern stellt auch der AfD einen Auftrag, wie dieser neu hinzugewonnene Wählerblock kongruent repräsentiert werden kann (habituell, personell und kommunikativ).
Die AfD konnte in allen 400 Kreisen und Städten Stimmenzuwächse verzeichnen. Am stärksten sticht dabei einmal mehr der Osten heraus. Hier ist die AfD mit 29% der Stimmen mit deutlichem Abstand zur stärksten Kraft geworden. In den 69 der 75 Wahlkreise im Osten wurde die AfD stärkste Kraft. Auch bei den zeitgleich stattgefundenen Kommunalwahlen bildet die AfD nun in 50 von 75 Kreistagen und kreisfreien Städten die stärkste Fraktion.
Die prozentualen Stimmenzuwächse sind in nahezu allen Kreisen bei über +8%. Die AfD kann somit im Osten immer noch auf starke Mobilisierungsreserven zurückgreifen, die selbstverständlich auch Rückenwind für die anstehenden Landtagswahlen in Brandenburg, Thüringen und Sachsen geben.
Parallel dazu sind sowohl die Linkspartei als auch die Ampel-Parteien auf kommunaler Ebene vollends marginalisiert. Wo die Linkspartei im Osten immer noch eine sichere Bank hatte, die die West-Schwäche kompensieren konnte, sind die Ost-Stimmenanteile für die Linkspartei nun teilweise zweitstellig eingebrochen.
Dieses Vakuum scheint jetzt das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) zu füllen, die bundesweit aus dem Stand und nur ein halbes Jahr nach offizieller Parteigründung auf 6% der Stimmen kommt.
Für die CDU wird nun immer klarer, dass sie im Herbst nur noch mit Allparteien-Bündnissen und damit auch der Integration von BSW und/oder Linke eine Koalitionsmehrheit bekommen wird. Man scheint jedoch nicht bereit zu sein, dies auch der eigenen Basis zu erklären und somit wird der Preis, den die Partei für diese strategische Zerrissenheit zu zahlen hat von Tag zu Tag in die Höhe getrieben.
Generell scheinen sich die schlimmsten Erwartungen der AfD gegenüber dem BSW als Staubsauger innerhalb der eigenen Wählerschichten nicht bewahrheitet zu haben. Die Verluste sind mit 160.000 Stimmen, die 2019 noch AfD gewählt haben eher moderat. Dennoch lässt sich nicht mit absoluter Sicherheit überprüfen, ob das BSW zumindest Wähler aus dem AfD-Umfragehoch des Jahres 2023 ziehen konnte.
Das BSW ist in den meisten ostdeutschen Kreisen zweistellig. Das sind jedoch gleichzeitig jene Kreise wo auch die AfD die stärksten Zugewinne verzeichnen konnte. Dass das BSW die AfD-Mobilisierungsdynamiken signifikant bremsen würde, darf also bezweifelt werden.
Wie schon die ersten Studien gezeigt haben rekrutiert das BSW seine Wähler aus Linkspartei und SPD – ein Milieu mit traditionellen sozialdemokratischen Vorstellungen, welches zusätzlich von einer Protestszene getragen wird, die während Corona gegen die Maßnahmenpolitik auf die Straße gingen.
Zum BSW wird von meiner Seite aktuell an einer kleinen Artikelserie gearbeitet, die auch hier erscheinen wird.
Die Europawahl zeigt, dass sich mit dem Auftreten des BSW, die politischen Verhältnisse im Osten nun vollends verschieben werden. Das BSW scheint nicht für die vom Mainstream erhoffte AfD-Neutralisierung zu sorgen. Eher wird der Protestkuchen sogar noch vergrößert, und damit auch für die AfD ein möglicherweise wechselwilliges Potential im Nest des BSW warmgehalten wird.
Fazit: Der Wahlsonntag hat gezeigt, dass sich der AfD-Wählerraum sowohl in seinem Stamm als auch seinem Potential erweitert hat. Der elektorale Entwicklungssprung von der letzten Wahl auf Bundesebene (Bundestagswahl 2021) bis zur Europawahl ist enorm.
Die meisten in der Partei sind sich einig, dass der Europawahlkampf alles andere als optimal lief. Auch deswegen liegt das Ergebnis über den meisten Erwartungen. Es wird eine intensive Klausur erforderlich sein, in der vor allem auch die strukturellen Schwachpunkte in der Kampagnenfähigkeit der AfD zu analysieren sein werden.
Manche Akteure machen es sich bereits jetzt recht einfach, in dem sie wahlweise den Spitzenkandidaten Maximilian Krah oder die Bundesführung für ein Ergebnis unter 20% verantwortlich machen. Diese Schuldzuweisungen sind erleichternd, da sie sich der strukturellen und organisatorischen Herausforderungen leicht entziehen können.
Es fängt an bei einer Kampagne, die mit dem Titel „Europa neu denken“ sich kaum einen langweiligeren und generischen Slogan ausdenken konnte. Die Wahlplakate vermittelten visuell eher ein 80er Jahre Retro-Gefühl und hatten typographische Mängel. Es geht weiter mit Werbeanzeigen in denen die Aktionsaufforderung „Nicht AfD wählen“ lautete – gewiss ironisch und mit einer Prise Charme gemeint, aber kommunikativ dann doch ein ziemlicher Unfall.
Alice Weidel sprach in der gestrigen Pressekonferenz von einer zielgerichteten „Jungwähler-Kampagne“ – wo war diese? Ein paar Anime-Cartoons? Gerade in der Jungwähler-Ansprache wirkt die Parteikommunikation manchmal wie der 60+ Onkel auf der Familienfeier, der extra für seine Enkel drei neue Jugendwörter gelernt hat und jetzt Basecap und weite Hosen mit Sneakern trägt. Alles noch ein wenig unbeholfen.
lxndr
Laut Dimap, hat die AfD zwar an die BSW 140.000 Wähler abgegeben, aber von den Linken 150.000 wiederum gewonnen 🙂