Hagen, Siegfried, Diversity – eine Debatte

Vor ein paar Wochen war Götz Kubitschek in Wien und nutzte die Gelegenheit zu einer Podiumsdiskussion über die Meriten und Mängel des Films Hagen - Im Tal der Nibelungen des Duos Cyrill Boss und Philipp Stennert, den er letzten Monat auf diesem Blog vehement verteidigt hat, insbesondere gegen jene Unkenrufe, die den Film schon allein wegen seiner "Diversity"-Würze komplett ablehnen.

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

Zu die­sen zählt Mar­tin Sell­ner, der es nach eige­ner Aus­kunft kei­ne Vier­tel­stun­de im Kino aus­ge­hal­ten hat, und ins­be­son­de­re vom Anblick von Sieg­frieds “Gang aus Talahons und Afri­ka­nern” in die Flucht geschla­gen wurde.

Zu den “Multikulti”-Einsprengseln kämen noch “Femi­nis­mus und ‘Krie­ge­rin­nen’ über­all” sowie eine optisch unpas­sen­de Kriem­hild. Des­halb “kei­ner­lei Immersi­on” für Sell­ner, der auf­rief, die­se “Geld­ver­schwen­dung” und gene­rell “woken Blöd­sinn, wo ihr ihn treffft”, zu boykottieren.

Lei­der konn­te Sell­ner aus gesund­heit­li­chen Grün­den nicht an der Dis­kus­si­on teil­neh­men, und so geriet sie zur Dop­pel­con­fe­rence zwi­schen Kubit­schek und mir.

Ich ste­he lang­wei­li­ger­wei­se genau in der Mit­te zwi­schen bei­den. Sell­ners Ein­wän­de kann ich durch­aus nach­voll­zie­hen, zumal auch mei­ne Schmerz­gren­ze gegen­über dümm­li­chen ideo­lo­gi­schen Ein­spreng­seln inzwi­schen außer­or­dent­lich nied­rig ist.

Die Zwi­schen­schnit­te, in denen die Afri­ka­ner aus Sieg­frieds selt­sa­mem Mul­ti­kul­ti-Raub­rit­ter­hau­fen her­vor­ge­ho­ben wer­den, sind rein selbst­zweck­haf­te Quo­ten­zu­ta­ten. Es ist sinn­los, dar­über zu spe­ku­lie­ren, wie groß die Wahr­schein­lich­keit ist, daß sich im Mit­tel­al­ter der eine oder ande­re Mohr an den Rhein ver­irrt hat, denn aus “his­to­ri­schen” Grün­den sind die­se Herr­schaf­ten nicht in die­sem Film drinnen.

Ähn­lich bescheu­ert und unglaub­wür­dig wirkt ein klei­nes, reso­lu­tes Kampf­weib aus Hagens Mann­schaft, das glück­li­cher­wei­se in der Schlacht gegen die Sach­sen ziem­lich rasch nach Wal­hal­la beför­dert wird. Die halb-fan­tas­ti­schen Wal­kü­ren auf Island hin­ge­gen gefie­len mir recht gut, sie sind erha­ben und unheim­lich, wie Dra­chen und Zwer­ge “alte Wesen”, wie es im Film heißt. Hier tritt das Motiv von den “krie­ge­ri­schen Frau­en” mit vol­ler mytho­lo­gi­scher Berech­ti­gung auf.

Der Ele­fant im Raum ist gewiß die Beset­zung der Kriem­hild mit der Schau­spie­le­rin Lil­ja van der Zwaag, die offen­sicht­lich asia­ti­sche Gesichts­zü­ge trägt und optisch in kei­ner Wei­se zu ihren Bluts­ver­wand­ten paßt, oder über­haupt in das gesam­te Ambi­en­te. Von ihrem hol­län­di­schen Nach­na­men aus­ge­hend, ver­mu­te ich eine teil­wei­se indo­ne­si­sche Abstam­mung. Auch mich hat das so gestört, daß es mein emo­tio­na­les “Ein­tau­chen” in den Film nach­hal­tig sabo­tiert hat. Zuviel “sus­pen­si­on of dis­be­lief” wird hier für mei­nen Geschmack gefordert!

Ich weiß, es ist man­chen pein­lich, der­glei­chen anzu­spre­chen, und wir sind sozi­al dar­auf dres­siert, uns eng­stir­nig, unfein und klein­lich vor­zu­kom­men und uns davor zu fürch­ten, des “Ras­sis­mus” bezich­tigt zu wer­den, wenn wir es tun.

Aber wir haben es hier offen­sicht­lich mit einer bewuß­ten Cas­ting-Ent­schei­dung “gegen den Strich” des Stof­fes und sei­ne tra­dier­te Iko­no­gra­phie zu tun, die offen­bar eben­so Selbst­zweck ist (also nichts Sub­stan­ti­el­les zur Figur oder zur Geschich­te bei­trägt), wie die gele­gent­lich im Hin­ter­grund vor­bei­hu­schen­den Afri­ka­ner. Man wer­fe mir also nicht vor, daß mir auf­fällt, was den Fil­me­ma­chern auf kei­nen Fall ent­gan­gen sein kann und dem sie den Vor­zug gege­ben haben.

Dabei rede ich hier wohl­ge­merkt nicht “glat­ten” oder kli­schier­ten Beset­zun­gen das Wort. Im 2004 fürs Fern­se­hen gedreh­te, diver­si­ty­frei­en “Nibelungen”-Zweiteiler von Uli Edel (“Der Baa­der-Mein­hof-Kom­plex”), der eher der Wäl­sun­gen­sa­ge (und ein biß­chen Wag­ner) als dem Nibe­lun­gen­lied folgt, wird bei­spiels­wei­se Brun­hild von einer ame­ri­ka­ni­schen Schau­spie­le­rin deut­scher und skan­di­na­vi­scher Her­kunft namens Krist­an­na Loken gespielt, die aus­sieht wie ein Top­mo­del und alle “nord­o­phi­len” Ansprü­che erfüllt: Groß, blond und blauäugig.

Sie wirkt aber (für mein Emp­fin­den zumin­dest) viel zu nied­lich, zu hübsch und zu gefäl­lig für die Rol­le, die im neu­en “Hagen”-Film mit der däni­schen Schau­spie­le­rin Rosa­lin­de Myns­ter weit­aus “rau­her” und über­zeu­gen­der besetzt ist.

In der anschlie­ßen­den Publi­kums­dis­kus­si­on unter­stütz­te ein Teil­neh­mer Sell­ners Boy­kott­auf­ruf mit einem, wie ich den­ke, gewich­ti­gen Argu­ment: Cas­tings die­ser Art haben auch den Zweck, “mul­ti­kul­tu­rel­le” Dar­stel­lun­gen his­to­ri­scher oder mythi­scher Stof­fe zu “nor­ma­li­sie­ren”: heu­ti­ge und künf­tig pro­jek­tier­te demo­gra­phi­sche Zusam­men­set­zun­gen sol­len in der Ver­gan­gen­heit wider­ge­spie­gelt wer­den, um den fal­schen Ein­druck zu erzeu­gen, daß “es immer schon so war”. Im anglo­pho­nen Bereich hat das schon extre­me Züge ange­nom­men: Von einem indi­schen Sir Gawain bis hin zu einem schwarz­afri­ka­ni­schen Achil­les oder gar einer schwarz­afri­ka­ni­schen Anne Boleyn.

Das läuft eine gro­be Ver­fäl­schung der Geschich­te und der Über­lie­fe­rung hin, und soll wohl auch ver­hin­dern, daß wei­ße Men­schen die­se Geschich­ten nicht nur zur Unter­hal­tung kon­su­mie­ren, son­dern sie auch als Teil ihrer eth­no­kul­tu­rel­len Iden­ti­tät betrach­ten. Die­se Stra­te­gie der “mul­ti­kul­tu­rel­len” Wür­ze ist nun nicht all­zu neu – sie fin­det sich bereits 2011 in der Mar­vel-Comics-Ver­fil­mung Thor, in der der nor­di­sche Gott Heim­dall, der Wäch­ter der Regen­bo­gen­brü­cke Bif­rost, von einem schwar­zen Schau­spie­ler dar­ge­stellt wird.

Das alles wäre einen eige­nen Arti­kel wert. Eigent­lich woll­te ich in Anbe­tracht des “Hagen”-Films nicht all­zu vie­le Wor­te über das The­ma ver­lie­ren als nötig. Er schrammt in die­ser Hin­sicht gera­de noch am Ran­de des Erträg­li­chen vor­bei, mit einem Hauch von “uncan­ny val­ley” durch die zeit­geist­kon­for­men Bei­mi­schun­gen. Man kann sie wie Kubit­schek hineh­men, akzep­ta­bel fin­den, aber haben sie auch einen posi­ti­ven Wert, sind sie “gut”? Das wird wohl nie­mand behaupten.

Nun aber genug geme­ckert. Hat “Hagen” auch Meri­ten, und was wären die­se? Kubit­schek hob her­vor, daß es doch bemer­kens­wert sei, daß im Jahr 2024 ein Film über die­sen urdeut­schen Stoff gedreht wird, der nicht nur nicht völ­lig schlecht ist, son­dern Moti­ve behan­delt und wie­der auf­le­ben läßt, die durch­aus etwas mit “uns” Deut­schen zu tun haben.

In sei­ner Bespre­chung schrieb er:

Staats­rai­son [Hagen] gegen strah­len­de Ver­dich­tung [Sieg­fried]: Ich wer­be sehr dafür, das, was in die­sem Film auf­ein­an­der­prallt, so zu sehen, zu spü­ren und zu durch­den­ken. Man kann an sol­chen Fil­men gan­ze The­men­strän­ge knüp­fen – Staat, Dienst, Loya­li­tät, Per­sön­lich­keit, Cha­ris­ma, Mythos und­so­wei­ter. (…) Die­se Män­ner, Hel­den, Typen, sind kei­ne Frem­den. Wir alle sind mehr als tau­send Jah­re alt.

Wie sehe ich das sel­ber, abge­se­hen von der lei­di­gen “Diversity”-Debatte? Der zumin­dest optisch schö­ne Film hat mir auch aus ande­ren Grün­den nicht all­zu gro­ße Freu­de berei­tet. Kriem­hilds Rol­le ist nicht nur unpas­send besetzt, son­dern auch schwach gespielt und bekommt vom Dreh­buch wenig Futter.

Aus der Idee, daß Hagen Kriem­hild liebt, machen die Regis­seu­re nicht sehr viel, es gibt wenig Span­nung zwi­schen den bei­den Cha­rak­te­ren, und was da ist, wird insze­na­to­risch und schau­spie­le­risch eher unge­schickt ausgedrückt.

Wozu ist die­se uner­füll­te und unaus­ge­spro­che­ne Lie­be über­haupt da, wenn sie nicht dazu ver­wen­det wird, Hagens Res­sen­ti­ment gegen Sieg­fried anzu­hei­zen? Nur um Hagens Selbst­ver­leug­nung im Diens­tes des Staa­tes zu zei­gen? Hier hät­te man ein explo­si­ve­res und kom­ple­xe­res Gemisch zusam­men­brau­en kön­nen – man höre sich etwa an, was Micha­el Köhl­mei­er in sei­ner Fas­sung allein im Expo­sé aus die­ser Kon­stel­la­ti­on herausholt.

Ähn­li­ches gilt für die Figur Brun­hilds, deren Poten­ti­al kaum aus­ge­schöpft wird. Sobald sie in Worms ange­kom­men ist und ihre Auf­ga­be als “Wun­der­waf­fe” gegen die Hun­nen erfüllt hat, ver­kommt sie zuneh­mend zur schwei­gen­den Staf­fa­ge und zum blo­ßen “plot point”: Sie und Sieg­fried begin­nen heim­lich und ehe­bre­che­risch ihrer alten Lei­den­schaft zu frö­nen, was schließ­lich zur Ent­schei­dung führt, ihn zu töten, da er auch dadurch die Ord­nung des Hofes gefähr­det, indem er Gun­ther zum Hahn­rei macht.

Die Not­wen­dig­keit, Sieg­fried zu ver­ra­ten und sich per Meu­chel­mord sei­ner zu ent­le­di­gen, taucht in der vor­lie­gen­den Fas­sung aller­dings etwas abrupt und eilig erzählt auf, und das hat viel damit zu tun, daß der im Ori­gi­nal­stoff trei­ben­de Cha­rak­ter der gede­mü­tig­ten und betro­ge­nen Brun­hild fast völ­lig unter den Tisch fällt. Da auch Hagens eige­ne sub­jek­ti­ve Moti­va­ti­on, Sieg­fried zu töten, nicht genug unter­füt­tert wird, wur­den hier vie­le Chan­cen einer packen­den dra­ma­ti­schen Zuspit­zung verabsäumt.

Und dies ist nur eines von vie­len losen Enden, die mich am Dreh­buch gestört haben. Aller­dings mag dies damit zu tun haben, daß die Kino­ver­si­on stark gekürzt ist. Der Film wird nächs­tes Jahr in einer ver­län­ger­ten Fas­sung als sechs­tei­li­ge Serie auf RTL+ her­aus­kom­men, wobei ich nicht eru­ie­ren konn­te, ob sie die gan­ze Geschich­te bis zum bit­te­ren Ende in der Etzels­hal­le erzäh­len oder nur der Kino­fas­sung mehr Fleisch geben wird (ver­mut­lich letz­te­res, da sie dem Roman von Wolf­gang Hohl­bein folgt).

Grund­sätz­lich befür­wor­te ich natür­lich das freie Spiel mit den Figu­ren der Nibe­lun­gen­sa­ge. Seit es den Stoff gibt, ist er in flie­ßen­der Bewe­gung, und dies gewähr­leis­tet, daß er leben­dig bleibt. Dabei wird natür­lich jede neue Bear­bei­tung vom Geist ihrer Zeit beein­flußt sein.

Auch der berühm­te mit­tel­hoch­deut­sche Text aus dem Hoch­mit­tel­al­ter ist kei­ne “end­gül­ti­ge” oder “kano­ni­sche” Fas­sung, son­dern sei­ner­seits eine Bear­bei­tung und Kom­bi­na­ti­on von älte­ren Über­lie­fe­run­gen. Der Faden wur­de im 19. Jahr­hun­dert, als das Nibe­lun­gen­lied zum “Natio­nal­epos” der Deut­schen erklärt wur­de, wei­ter­ge­spon­nen, etwa von Fried­rich Heb­bel, vor allem aber von Richard Wag­ner mit sei­ner bahn­bre­chen­den Opern-Tetralogie.

Das gilt auch für die bis­lang vier deut­schen Film­ver­sio­nen des Stof­fes (sieht man von einer TV-Pro­duk­ti­on des Stü­ckes von Heb­bel aus dem Jahr 1967 ab), deren immer noch gewal­tigs­te der inzwi­schen hun­dert Jah­re alte epi­sche Stumm­film von Fritz Lang ist, der Zwei­tei­ler Sieg­fried und Kriem­hilds Rache - kei­ne blo­ße “Ver­fil­mung”, son­dern ein eigen­stän­di­ges, moder­nes Kunst­werk, das immer noch Gän­se­haut zu erzeu­gen ver­mag und dem Mythos auch im Bereich des Films neu­es, bis heu­te andau­ern­des Leben einhauchte.

Ste­phan Grun­dy, ein ame­ri­ka­ni­scher Autor (und Asatru-Anhän­ger), der dicke Fan­ta­sy-Roma­ne über Sieg­fried und Hagen geschrie­ben hat, bemerk­te im Vor­wort zu einer ande­ren, sehr gelun­ge­nen Nach­er­zäh­lung von Baal Mül­ler (2004):

Die Neu­er­zäh­lung eines so aus­ge­dehn­ten Sagen­krei­ses wie dem der Nibe­lun­gen gleicht der Wie­der­her­stel­lung eines zer­sprun­ge­nen Mosa­iks, die sich allein von dem ver­schwom­me­nen und unter­bro­che­nen Umriß des Ori­gi­nals an der Wand und den For­men und Far­ben der davor am Boden lie­gen­den Stein­chen lei­ten läßt. Der Autor muß die Lini­en so gut wie mög­lich nach­zeich­nen und nach sei­nem Ermes­sen das Feh­len­de ergänzen.

Dies gel­te auch schon für die Ver­fas­ser des Nibe­lun­gen­lieds, der Wäl­sun­gen­sa­ge und der Thidrekssaga.

Eine beson­ders fas­zi­nie­ren­de Deu­tung, die ver­mut­lich auch Wolf­gang Hohl­bein und somit den neu­en Film beein­flußt hat, stammt von Joa­chim Fernau.

Dis­teln für Hagen von 1966 erzählt das Nibe­lun­gen­lied nicht bloß nach, son­dern prüft und inter­pre­tiert kri­tisch Zei­le für Zei­le, in einem stän­di­gen Dia­log “von Autor zur Autor” mit dem unbe­kann­ten Ver­fas­ser, des­sen Inten­tio­nen und see­li­sche Dis­po­si­ti­on Fer­n­au zu ergrün­den versucht.

Sei­ne The­se ist, daß dem Autor, der bereits ein christ­li­cher Deut­scher und kein heid­ni­scher Ger­ma­ne mehr war, der alte Sagen­stoff “pein­lich” gewe­sen sei, und er dar­um zu Über­ma­lun­gen gegrif­fen habe, unter denen immer noch die ursprüng­li­chen, rohe­ren Erzäh­lun­gen durchscheinen.

Das betrifft vor allem zwei Moti­ve: Aus Sieg­fried, dem Aben­teu­rer und Rauf­bold zwei­fel­haf­ter Her­kunft (bei Wag­ner ist er nach dem Vor­bild der Wäl­sun­gen­sa­ge Frucht eines Inzests zwi­schen Bru­der und Schwes­ter), der einen Dra­chen erschla­gen haben will und der den Nibe­lun­gen­schatz ver­mut­lich durch nack­te Gewalt in Besitz genom­men hat, wird ein edler Königs­sohn aus Xan­ten (ein “run­ning gag” des Buches ist, daß Sieg­fried im Lau­fe des Nibe­lun­gen­lie­des immer wie­der an sei­ner angeb­li­chen Hei­mat vor­bei­kommt, aber nicht auf die Idee ver­fällt, sei­nen Eltern mal einen Besuch abzustatten).

Und damit die­se idea­le Licht­ge­stalt nicht getrübt wird, muß der Dich­ter auch sämt­li­che Spu­ren ver­wi­schen, die dar­auf hin­wei­sen, daß Sieg­fried und Brun­hild ein Lie­bes­ver­hält­nis hat­ten, ehe es den Hel­den nach Worms ver­schlug. Dies ist jedoch in Fern­aus Augen nur teil­wei­se gelun­gen; immer wie­der blitzt die unter­schla­ge­ne Wahr­heit, wie sie in ande­ren Quel­len geschrie­ben steht, zwi­schen den Zei­len auf.

Mit die­sem Zau­ber­stab erklärt Fer­n­au schlüs­sig eini­ge inhalt­li­che Rät­sel und Ver­ren­kun­gen des Tex­tes. Brun­hilds mör­de­ri­scher Haß auf Sieg­fried, der schließ­lich zu sei­nem Tod führt, bekommt eine wuch­ti­ge Tie­fen­di­men­si­on, sobald man davon aus­geht, daß die von Odin/Wotan zum blo­ßen Men­schen degra­dier­te Wal­kü­re nicht nur in ihrer Ehre gekränkt wur­de, weil sie der tarn­be­kapp­te Held im Wett­kampf und im Bett stell­ver­tre­tend für Gun­ther bezwun­gen hat, son­dern daß sie auch noch als roman­tisch lie­ben­de Frau gede­mü­tigt und betro­gen wurde.

Fer­n­au sieht in die­sen Ver­än­de­rung des Ur-Stoffs eine deut­sche, all­zu­deut­sche Ten­denz am Werk:

Wenn das Leben bro­delt und kocht, zuckt und schil­lert, dampft und stinkt, dann befällt unser Herz Beklem­mung und Scham. Die deut­sche See­le ist unfä­hig, auf dem Mist­hau­fen des Lebens – und das Leben IST ein damp­fen­der Mist­hau­fen – zu blü­hen. “Makel” ist für sie etwas Töd­li­ches gewor­den. Sie kann ihn nicht bewäl­ti­gen, nicht belä­cheln, nicht ver­ste­hen, nicht verzeihen.

Der mit­tel­al­ter­li­che Dich­ter des Nibe­lun­gen­lie­des fühl­te nach Fer­n­au bereits genau so, und woll­te des­halb das “Unkraut” der Legen­de jäten:

Er woll­te der See­le einen makel­lo­sen Gar­ten her­rich­ten. Denn das ist es, was die See­le der Deut­schen braucht: das Makel­lo­se, nicht die Wahr­heit. Die Kraft, die sie auf­bringt, um sich das Neue zu erschaf­fen und zu glau­ben, wäre aller­dings groß genug, die alte Wahr­heit mit ihrem Mensch­lich-All­zu­mensch­li­chem zu lie­ben; aber sie kann nicht, sie kapi­tu­liert vor dem Toxin, dem Gift­stoff (des Unzu­läng­li­chen). Die See­le der Deut­schen besitzt kein Anti­to­xin, wie es fast alle ande­ren Völ­ker haben.

Der Nibe­lun­gen­dich­ter war ein gro­ßer Voll­stre­cker. Er grub die alte Wahr­heit wie eine unan­sehn­li­che Wur­zel ein und ließ dar­aus die tau­send­jäh­ri­ge Rose erblühen.

Was er an der Figur Sieg­frieds, des deut­schen Hel­den par excel­lence, “ver­deckt”, sind

… sein Treu­bruch, sei­ne Dop­pel­lie­be, sei­ne Flach­heit, sei­ne sitt­li­che Feig­heit, sei­ne Dum­me­jun­gen­haf­tig­keit, sein wir­res Her­um­schwim­men im Leben – in Wahr­heit lau­ter Züge geseg­ne­ter Mensch­lich­keit, die in Ver­bin­dung mit sei­ner gran­dio­sen Kühn­heit, Stär­ke und Schön­heit ein Bild ani­ma­lisch wil­der Schöp­fung ergeben.

So betracht, wäre die Fas­sung von Hohl­bein und Boss/Stennert mit dem räu­di­gen, sau­fen­den, impul­si­ven und im Wald vögeln­den Sieg­fried eine Art “back to roots” jen­seits der all­zu fei­nen und heh­ren Tün­che spä­te­rer Jahrhunderte.

Hagen, der sich selbst und die Bur­gun­der Schritt für Schritt in den Unter­gang führt, und dabei jede Flucht­mög­lich­keit vor die­sem Schick­sal sys­te­ma­tisch zunich­te macht, ist in Fern­aus Deu­tung das Gegen­bild zu die­sem chao­ti­schen, ani­ma­li­schen, kraft­strot­zen­den Leben, das Sieg­fried ver­kör­pert. Das “Deut­sche” an Hagen ist die Treue zur Idee, zum abs­trak­ten, makel­lo­sen Prinzip:

Hagen IST die Idee. Er ist das Prin­zip selbst. Er lebt in der rei­nen, der töd­lich lee­ren Idee. In der Idee als Ersatz für die Frau, die er nicht hat, für das Kind, das er nicht wünscht, für die Lie­be, die er nicht braucht, für das Lachen, das er nicht kennt, für das Genie­ßen der Gegen­wart, die für ihn eine Zeit­ver­geu­dung für die Zukunft ist. Die Käl­te, die Hagen ver­brei­tet, ist die Käl­te eines Lebens im luft­lee­ren Raum der Idee. (…) “Deutsch­land muß leben und wenn wir ster­ben müs­sen” – das ist das Dyna­mit, das Hagen mit sich her­um­trägt, das ist Cir­cu­lus-vitio­sus-Bekennt­nis, das von ihm stam­men könnte.

Kei­ner kann der Idee so treu sein wie der Deut­sche. Wo die Idee fehlt, schafft er sie. Wo sie nicht mög­lich ist, ist er nicht treu.

Der Autor selbst hat hier, wie Faust, zwei See­len in sei­ner Brust, denn bei aller Lie­be zu Deutsch­land und den Deut­schen, die als Grund­ton sei­ner bei ihrem Erschei­nen als “respekt­los” geschol­te­nen Bücher erklingt, und bei allem Ver­ständ­nis für das Stre­ben nach dem rei­nen Ide­al, spürt man, daß er selbst dem Leben, dem “Mist­hau­fen”, dem Mensch­li­chen den Vor­zug gibt. So äußert er sich auch eher abschät­zig über die Figur des Diet­rich von Bern, die ihm in ihrer ste­ri­len Makel­lo­sig­keit kon­stru­iert und lang­wei­lig erscheint.

Fer­n­au ent­wirft in sei­nem Buch eine außer­or­dent­lich tie­fe Kon­zep­ti­on des Gegen­sat­zes “Hagen” und “Sieg­fried”. Im aktu­el­len Film, des­sen Stär­ke das Wech­sel­spiel die­ser bei­den Figu­ren ist, fin­den sich davon allen­falls Spu­ren­ele­men­te. Aber immer­hin – sie fin­den sich.

Joa­chim Fern­aus Werk hat­te, nicht zuletzt über die Ver­mitt­lung sei­nes “Fans” Armin Moh­ler, gro­ßen Ein­fluß auf die “neue Rech­te” in Deutsch­land. Ich habe die­se Stel­len in Fern­aus Buch immer als Schlüs­sel zu der Fra­ge gele­sen, war­um die Deut­schen außer­stan­de sind, sich ihre “NS-Ver­gan­gen­heit” zu ver­zei­hen, war­um sie his­to­ri­sche Grau­ton­zeich­nung so schlecht ver­tra­gen, war­um der natio­nal­ma­so­chis­ti­sche Fla­gel­lan­tis­mus beson­ders bei ihnen so mar­kant aus­ge­prägt ist, war­um gera­de sie so unver­dros­sen, ver­bis­sen, sys­te­ma­tisch, “treu” und flei­ßig an ihrer eige­nen Abschaf­fung arbeiten.

Man sieht, daß Fern­aus “Bestands­auf­nah­me der deut­schen See­le” kei­nes­wegs in eine iden­ti­tä­re oder natio­na­lis­ti­sche Idyl­le führt, nach dem Mus­ter der Nibe­lun­gen­lied-Rezep­ti­on im 19. und frü­hen 20. Jahr­hun­dert. Was die Deut­schen nach Fer­n­au “brau­chen”, um zu blü­hen, ist ein zwei­schnei­di­ges Schwert, das ihnen selbst gefähr­lich wer­den kann. Bedie­nungs­an­lei­tun­gen, wie man wie­der “deutsch” in die­sem Sin­ne wird, lie­fert er dabei nicht.

Es ging ihm vor allem um die Selbst­er­kennt­nis, auch und gera­de der dunk­len und abgrün­di­gen Sei­ten, derer die­ses besieg­te, gebro­che­ne, von selbst ent­frem­de­te und in sich zer­ris­se­ne Volk bedarf:

Sie fürch­ten, daß “daz mae­re” noch nicht zu Ende ist? Ich fürch­te es auch, mei­ne Freun­de. Aber (..) Sie wer­den dem Schick­sal nicht ent­ge­hen. In Ihrer Brust tra­gen Sie es mit fort. Auch wenn sie die Fin­ger heben und abschwö­ren: Men­schen wie wir MACHEN nicht Geschich­te, sie SIND Geschich­te. Sie glau­ben nein? Sie mei­nen, Sie haben das, was not tut: die See­le aus dem Super­markt? Nichts von Sieg­fried, nichts von Kriem­hild, nichts von Gun­ther, nichts von Hagen? Die See­le ohne Preislage? (…)

Fürch­ten Sie sich denn vor dem Fazit der Bestands­auf­nah­me? Schreck­li­che Zuta­ten, sagen Sie? Ja, das ist wahr. Aber sei­en Sie ohne Sor­ge; wenn Sie wüß­ten, womit die Kuchen ande­rer Völ­ker geba­cken sind!

Fer­n­au schloß sein Buch mit einer Mah­nung, die noch heu­te gül­tig ist:

“Am deut­schen Wesen wird die Welt gene­sen” – nein, ganz sicher nicht. Aber wir, wir könn­ten dar­an genesen.

Wenn wir begrei­fen, was wir da hucke­pack tra­gen. Wenn wir auf­hö­ren, mit dem Frat­zen­schnei­den und sind, die wir sind. Der Herr der Welt will uns wie­der­erken­nen, wie er uns gemeint hat.

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

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