Weihnachten: Lichtmesz empfiehlt

Lesen - Matthes & Seitz haben dieses Jahr eine Neuausgabe (keine Neuübersetzung) des legendären Romans Der Erlkönig von Michel Tournier herausgebracht, der 1972 zum ersten Mal in deutscher Sprache erschienen ist. Seit Jahren stand er auf meiner Leseliste, nicht zuletzt, weil mich Ellen Kositza darauf neugierig gemacht hatte.

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

Nun kann ich ihre lang­jäh­ri­ge Fas­zi­na­ti­on ver­ste­hen: Es han­delt sich um ein sehr dunk­les, sehr kom­ple­xes, sehr eigen­wil­li­ges, sehr ver­stö­ren­des Werk, in des­sen Zen­trum eine der eigen­ar­tigs­ten Gestal­ten der Welt­li­te­ra­tur steht.

Abel Tif­f­au­ges, ein gro­ßer, kräf­ti­ger Auto­me­cha­ni­ker mit einem Gesicht, das der­art absto­ßend und häß­lich ist, daß er selbst es am liebs­ten die Toi­let­te hin­un­ter­spü­len möch­te, ist einer­seits ein schein­bar tum­ber, grob­schläch­ti­ger Außen­sei­ter (ein “Mons­trum”) mit einer der­ben, ani­ma­li­schen Kör­per­lich­keit, ande­rer­seits ein in sich gekehr­ter, anar­chisch-dämo­ni­scher Exis­tenz­phi­lo­soph mit aus­ge­präg­tem Sinn für das Schö­ne, dem vor der Nich­tig­keit des Daseins graut.

Geprägt durch sei­ne Schul­zeit in einem streng katho­li­schen Inter­nat, das mit har­ter, gera­de­zu sadis­ti­scher Hand geführt wur­de, ist er mehr oder weni­ger ein Pädo­phi­ler (oder zumin­dest eine sel­te­ne Son­der­form davon), der ent­deckt, daß ihm das Heben und Tra­gen von klei­nen Jun­gen eupho­ri­sche, eksta­ti­sche Glücks­ge­füh­le verschafft.

1940 gerät er in deut­sche Kriegs­ge­fan­gen­schaft und wird nach Ost­preu­ßen ver­schickt, wo er Bekannt­schaft mit zwei “Ogern” macht: Der eine ist Her­mann Göring, der am Reichs­jä­ger­hof Rom­in­ten Treib­jag­den und Trink­ge­la­ge ver­an­stal­tet, der ande­re der SS-Mann Rauf­ei­sen, Herr von Schloß Kal­ten­born, einer fik­ti­ven Napo­la-Schu­le, in der eine “rein­ras­si­ge” Krie­ger-Eli­te her­an­ge­züch­tet wer­den soll. Tif­f­au­ges, selbst eine aus­ge­spro­chen “un-ari­sche” Gestalt, wird nun zum von sei­ner “pho­ri­schen Sehn­sucht” geblen­de­ten “Erl­kö­nig” oder Chris­to­pho­rus, der blon­de Jun­gen zwecks Zwangs­re­kru­tie­rung in das SS-Schloß ent­führt, wäh­rend die Rote Armee uner­bitt­lich vor­rückt und die ost­preu­ßi­sche Apo­ka­lyp­se bevorsteht.

Der eigent­li­che “Oger” ist am Ende der “Füh­rer” oder der Natio­nal­so­zia­lis­mus selbst, gezeich­net als ver­füh­re­risch schil­lern­der Todes­kult, der die Idee der Unschuld zur Idee der “Rein­heit” per­ver­tiert hat und sei­ne Jugend in den Fleisch­wolf des Krie­ges treibt. Tour­nier (1924–2016) war ein glü­hen­der Ger­ma­no­phi­ler im Sti­le der Madame de Staël, der zwar wuß­te, daß im Natio­nal­so­zia­lis­mus viel deut­sche Roman­tik steck­te, aber auch, daß Deutsch­land und die deut­sche Roman­tik mehr sind, viel mehr sind als der Nationalsozialismus.

Von sei­nem “Hel­den” Tif­f­au­ges berich­tet er gegen Ende des Romans, daß er “nur noch Ost­preu­ßen gehör­te, die­sem Land, das rings­um zusam­men­brach; doch bis er wie­der im Schloss war, ver­folg­te ihn das Bild des Erl­kö­nigs, wie er im Moor ruht, unter einer schwe­ren Schlamm­schicht gebor­gen vor aller Unbill der Men­schen und der Zeit”. Ein grim­mi­ges deutsch-fran­zö­si­sches Mär­chen, ein maka­brer Mythos des 20. Jahr­hun­derts, meis­ter­haft mäan­dernd erzählt.

Michel Tour­nier: Der Erl­kö­nig, 425 Sei­ten, 25 €, hier bestel­len.

 

Ler­nen - Gott sei gedankt für die Exis­tenz des nun­mehr 83jährigen Fil­me­ma­chers Wer­ner Her­zog. Die­ser Mann hat die Füße (die ger­ne wan­dern) auf der Erde, den Kopf dem Kos­mos zuge­wandt und das Herz am rech­ten Fleck. In ihm ver­ei­nen sich boden­stän­di­ge, unauf­ge­reg­te Ver­nunft und Mensch­lich­keit, poe­ti­sche Inspi­ra­ti­on und eine end­lo­se Fähig­keit, über die Wun­der und Rät­sel die­ser Welt zu staunen.

Die­ser schma­le, erqui­cken­de, ideen­rei­che Band nähert sich sei­nem im Titel gestell­ten The­ma mit der­sel­ben “eksta­ti­schen” Her­an­ge­hens­wei­se, mit der Her­zog sei­ne Fil­me dreht, aus denen er reich­lich zitiert.

The­men, die er unter ande­rem streift: Künst­li­che Intel­li­genz und ihre Fähig­keit, Gedich­te zu schrei­ben, Elon Musk und sei­ne Mars-Visio­nen, Rei­sen ins Welt­all, Amund­sens und Scotts Expe­di­tio­nen zum Nord­pol, die Trä­nen, die über den Tod von Prin­zes­sin Dia­na ver­gos­sen wur­den, Ver­dis Oper Die Macht des Schick­sals, japa­ni­sche Agen­tu­ren, die auf Bestel­lung Freun­de und “Ver­wand­te” lie­fern, die Geschichts­fäl­schun­gen des Ram­ses II., Ent­füh­run­gen durch Ali­ens, Höh­len­ma­le­rei­en, Albi­no-Kro­ko­di­le, todes­sehn­süch­ti­ge Pin­gui­ne, Mike Tysons Begeis­te­rung für mero­wi­ni­gi­sche Köni­ge, Fake News über Kai­ser Nero und, und, und.

“Wahr­heit”, schreibt Herzog,

erscheint mir nicht als Fix­stern in der Fer­ne, wo sie ver­an­kert ist, die irgend­wann erreich­bar ist. Wahr­heit scheint mir eher als eine immer­wäh­ren­de Bemü­hung, sich ihr anzu­nä­hern. Als Bewe­gung auf sie zu, als unge­wis­se Rei­se, als Suche voll Mühe und Ver­geb­lich­keit. Aber die­se Fahrt ins Unge­wis­se, in das Däm­mern eines gro­ßen, end­lo­sen Wal­des, gibt uns Sinn und Wür­de, sie ist es, die uns von den Kühen auf der Erde unterscheidet.

Genau so den­ke auch ich!

Wer­ner Her­zog: Die Zukunft der Wahr­heit, 112 Sei­ten, 22,00 €, hier bestel­len.

 

Schau­en - Es ist mit sei­nen 960 Sei­ten und den Abmes­sun­gen ‎ 29 x 25, 4 x 6,3 cm das wahr­schein­lich dicks­te und schwers­te Buch, das ich je in den Hän­den gehal­ten habe. In der Tat ist es so schwer und dick, daß man sich damit einen Bruch heben oder einen Dackel erschla­gen könn­te (bit­te nicht). Schlicht beti­telt Der deut­sche Film ent­hält die­ser Dop­pel­zie­gel­stein rund 2700 Fotos aus den Archi­ven der Deut­schen Kine­ma­thek, die die gesam­te Film­ge­schich­te Deutsch­lands von 1895–2024 (unter­teilt in zwölf Epo­chen) optisch abdecken.

Es ist wirk­lich alles, alles, alles berück­sich­tigt: Tech­nik und Kunst, Poli­tik und Wirt­schaft, Block­bus­ter und Autoren­film, das Kai­ser­reich, die Wei­ma­rer Repu­blik, das Drit­te Reich und die DDR, “Papas Kino” und der “Neue Deut­sche Film”, Stumm­film­ex­pres­sio­nis­mus und “Ber­li­ner Schu­le”, Kame­ra­leu­te, Kom­po­nis­ten, Cut­ter, Schau­spie­ler und Regis­seu­re (von Hen­ny Por­ten bis Nina Hoss, von Fritz Lang bis Otto Waal­kes, von Wolf­gang Staud­te bis Chris­toph Schlin­gen­sief, von Ernst Lubit­sch bis Hans-Jür­gen Syber­berg, von Hans Albers bis August Diehl, von Veit Har­lan bis Chris­ti­an Pet­zold, von Hel­ma San­ders-Brahms bis Hape Ker­ke­ling, um nur ein paar äußerst dis­pa­ra­te Klam­mern auf­zu­span­nen), Film­pla­ka­te, Werk­fo­tos, Sto­ry­boards und Skiz­zen, Dreh­buch­aus­zü­ge, Kostümentwürfe…

Mit ande­ren Wor­ten han­delt es sich hier um ein Mega-Muse­um in Buch­ge­stalt, eine Enzy­klo­pä­die, eine Retro­spek­ti­ve, die auch eine deut­sche Natio­nal­kon­ti­nui­tät über vie­le his­to­ri­sche Brü­che hin­weg erzählt. Die beglei­ten­den Tex­te, ver­faßt von rund 50 Autoren (Löwen­an­teil Rai­ner Rother, Rolf Aurich, Jörg Schö­ning), sind von schwan­ken­der Qua­li­tät, erfül­len aber durch­weg ihren infor­ma­ti­ven Zweck. Gele­gent­lich hat sich, wie lei­der inzwi­schen über­all, die häß­li­che, sab­bernd kre­tin­öse Schreib­wei­se “Darsteller:innen” ein­ge­nis­tet; der­glei­chen wird von mir mit schwar­zer Tusche ausgemerzt.

Hier gibt es end­lo­se unge­se­he­ne und sel­ten gezeig­te Din­ge zu ent­de­cken, selbst für Ken­ner der Materie!

Der deut­sche Film. Aus den Archi­ven der Deut­schen Kine­ma­thek, 960 Sei­ten, 98 €, hier bestel­len.

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

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Kommentare (2)

RMH

9. Dezember 2025 11:31

Danke auch für diese Empfehlungen. Ist der Film "Der Unhold" auch ansehbar? 

Kositza: absolut.

ML: Für einen Schlönmuff-Film ist es richtig gut, allerdings wurde die Figur des Abel erheblich verändert und an den Schauspieler John Malkovich angepaßt. Ansonsten Top-Besetzung.

H. M. Richter

9. Dezember 2025 12:36

Tournier ist natürlich immer eine Empfehlung. Insbesondere „Der Erlkönig“ in der 1972 erschienenen Übersetzung Hellmut Wallers, die 1983 auch die Leserschaft in der DDR mit einer Lizenzausgabe des Aufbau-Verlages erreichte.
 
Ich bedauere sehr, daß Tourniers Tagebücher bisher nicht auf Deutsch erschienen sind, verspreche ich mir doch einiges davon. Lediglich SINN UND FORM brachte vor etlichen Jahren davon erste Ausschnitte, die Lust auf mehr machten.
 
Er ließ mich einmal wissen, daß sein letzter Roman in Leipzig handeln werde. Ihn interessierte zunehmend das Androgyne und er sah im Umfeld der dortigen Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) den geeigneten Handlungsraum dafür. Die Vorstellung elektrisierte mich sogleich, doch sein Tod verhinderte die rechtzeitige Umsetzung des Buchprojektes. Mir ist nicht bekannt, ob dieses Vorhaben über Vorarbeiten hinausging, ob vielleicht sogar noch ein unvollendetes Manuskript irgendwo auf Veröffentlichung wartet.
 
Nehmen wir stattdessen vorerst weiter vorlieb mit seinen bereits veröffentlichten Schriften. Gerade auch in dieser Adventszeit.