Nun kann ich ihre langjährige Faszination verstehen: Es handelt sich um ein sehr dunkles, sehr komplexes, sehr eigenwilliges, sehr verstörendes Werk, in dessen Zentrum eine der eigenartigsten Gestalten der Weltliteratur steht.
Abel Tiffauges, ein großer, kräftiger Automechaniker mit einem Gesicht, das derart abstoßend und häßlich ist, daß er selbst es am liebsten die Toilette hinunterspülen möchte, ist einerseits ein scheinbar tumber, grobschlächtiger Außenseiter (ein “Monstrum”) mit einer derben, animalischen Körperlichkeit, andererseits ein in sich gekehrter, anarchisch-dämonischer Existenzphilosoph mit ausgeprägtem Sinn für das Schöne, dem vor der Nichtigkeit des Daseins graut.
Geprägt durch seine Schulzeit in einem streng katholischen Internat, das mit harter, geradezu sadistischer Hand geführt wurde, ist er mehr oder weniger ein Pädophiler (oder zumindest eine seltene Sonderform davon), der entdeckt, daß ihm das Heben und Tragen von kleinen Jungen euphorische, ekstatische Glücksgefühle verschafft.
1940 gerät er in deutsche Kriegsgefangenschaft und wird nach Ostpreußen verschickt, wo er Bekanntschaft mit zwei “Ogern” macht: Der eine ist Hermann Göring, der am Reichsjägerhof Rominten Treibjagden und Trinkgelage veranstaltet, der andere der SS-Mann Raufeisen, Herr von Schloß Kaltenborn, einer fiktiven Napola-Schule, in der eine “reinrassige” Krieger-Elite herangezüchtet werden soll. Tiffauges, selbst eine ausgesprochen “un-arische” Gestalt, wird nun zum von seiner “phorischen Sehnsucht” geblendeten “Erlkönig” oder Christophorus, der blonde Jungen zwecks Zwangsrekrutierung in das SS-Schloß entführt, während die Rote Armee unerbittlich vorrückt und die ostpreußische Apokalypse bevorsteht.

Von seinem “Helden” Tiffauges berichtet er gegen Ende des Romans, daß er “nur noch Ostpreußen gehörte, diesem Land, das ringsum zusammenbrach; doch bis er wieder im Schloss war, verfolgte ihn das Bild des Erlkönigs, wie er im Moor ruht, unter einer schweren Schlammschicht geborgen vor aller Unbill der Menschen und der Zeit”. Ein grimmiges deutsch-französisches Märchen, ein makabrer Mythos des 20. Jahrhunderts, meisterhaft mäandernd erzählt.
Michel Tournier: Der Erlkönig, 425 Seiten, 25 €, hier bestellen.
Lernen - Gott sei gedankt für die Existenz des nunmehr 83jährigen Filmemachers Werner Herzog. Dieser Mann hat die Füße (die gerne wandern) auf der Erde, den Kopf dem Kosmos zugewandt und das Herz am rechten Fleck. In ihm vereinen sich bodenständige, unaufgeregte Vernunft und Menschlichkeit, poetische Inspiration und eine endlose Fähigkeit, über die Wunder und Rätsel dieser Welt zu staunen.
Dieser schmale, erquickende, ideenreiche Band nähert sich seinem im Titel gestellten Thema mit derselben “ekstatischen” Herangehensweise, mit der Herzog seine Filme dreht, aus denen er reichlich zitiert.

“Wahrheit”, schreibt Herzog,
erscheint mir nicht als Fixstern in der Ferne, wo sie verankert ist, die irgendwann erreichbar ist. Wahrheit scheint mir eher als eine immerwährende Bemühung, sich ihr anzunähern. Als Bewegung auf sie zu, als ungewisse Reise, als Suche voll Mühe und Vergeblichkeit. Aber diese Fahrt ins Ungewisse, in das Dämmern eines großen, endlosen Waldes, gibt uns Sinn und Würde, sie ist es, die uns von den Kühen auf der Erde unterscheidet.
Genau so denke auch ich!
Werner Herzog: Die Zukunft der Wahrheit, 112 Seiten, 22,00 €, hier bestellen.
Schauen - Es ist mit seinen 960 Seiten und den Abmessungen 29 x 25, 4 x 6,3 cm das wahrscheinlich dickste und schwerste Buch, das ich je in den Händen gehalten habe. In der Tat ist es so schwer und dick, daß man sich damit einen Bruch heben oder einen Dackel erschlagen könnte (bitte nicht). Schlicht betitelt Der deutsche Film enthält dieser Doppelziegelstein rund 2700 Fotos aus den Archiven der Deutschen Kinemathek, die die gesamte Filmgeschichte Deutschlands von 1895–2024 (unterteilt in zwölf Epochen) optisch abdecken.

Mit anderen Worten handelt es sich hier um ein Mega-Museum in Buchgestalt, eine Enzyklopädie, eine Retrospektive, die auch eine deutsche Nationalkontinuität über viele historische Brüche hinweg erzählt. Die begleitenden Texte, verfaßt von rund 50 Autoren (Löwenanteil Rainer Rother, Rolf Aurich, Jörg Schöning), sind von schwankender Qualität, erfüllen aber durchweg ihren informativen Zweck. Gelegentlich hat sich, wie leider inzwischen überall, die häßliche, sabbernd kretinöse Schreibweise “Darsteller:innen” eingenistet; dergleichen wird von mir mit schwarzer Tusche ausgemerzt.
Hier gibt es endlose ungesehene und selten gezeigte Dinge zu entdecken, selbst für Kenner der Materie!
Der deutsche Film. Aus den Archiven der Deutschen Kinemathek, 960 Seiten, 98 €, hier bestellen.

RMH
Danke auch für diese Empfehlungen. Ist der Film "Der Unhold" auch ansehbar?
Kositza: absolut.
ML: Für einen Schlönmuff-Film ist es richtig gut, allerdings wurde die Figur des Abel erheblich verändert und an den Schauspieler John Malkovich angepaßt. Ansonsten Top-Besetzung.