Ich war bereits Bonelli-“Fan”, bevor er 2020 zu einem der wichtigsten prominenten Coronamaßnahmen-Kritiker in Österreich avancierte, und dies schon während des ersten Lockdowns im März/April 2020. Da ich ihm bereits vorher vertraut hatte, vertraute ich ihm auch diesmal, wobei er freilich nur einen Verdacht bestätigte, den ich auch schon gefaßt hatte.
Obwohl auch er während des pandemischen Spuks gehörig unter Beschuß geriet, ist es ihm gelungen, nicht “gecancelt” zu werden und sich zumindest am Rande des “Mainstreams” erfolgreich zu behaupten.
Seine Bücher sind Beststeller, werden auf den von mir so geliebten Straßenbahnbildschirmen beworben, und er hat auch keine Schwierigkeiten, öffentlich aufzutreten, wie etwa Anfang November im Thalia in Wien Mitte, wo er sein neuestes Buch Die Kunst des Ankommens vorstellte.
Darin geht es um “Heimatsuche” im vor allem seelischen, “inneren” Sinn. Er hält den Verlust von Heimat, die Unfähigkeit, “anzukommen” und sich zu binden für eine Signatur unserer Zeit und unserer “kranken Welt”. Dabei betont er jedoch stets, ganz im Sinne seines Buches Selber schuld, die Eigenverantwortung des Einzelnen für seine Misere und den Weg aus ihr.
Bonelli nennt drei entscheidende Punkte, die notwendig sind, um unseren “Platz im Leben” zu finden: Beruf, Partnerschaft und unser Verhältnis zu Gott.
Wie ein moderner Josef Pieper (Bonelli erwähnt ihn gelegentlich) entwirft er dabei eine praktisch anwendbare Tugend- und Lasterlehre, die helfen soll, die Hindernisse zu überwinden, die diesem dreifachen “Ankommen” im Wege stehen: die “Bauchgefühle” “Angst, Gier und Geilheit”, die Verdrehung des “Kopfes” durch “Ideologie und Manipulation”, und schließlich die Trägheit des “Herzens” oder des Willens, das Richtige zu tun, obwohl man es als solches erkannt hat.
Die beiden großen Vorzüge Bonellis sind seine Menschenkenntnis und seine aufrichtige Empathie (beides zeigt sich auch in seinem freundlichen, feinen Humor). Seine Bücher sind gespickt mit “Fallbeispielen” aus seiner psychiatrischen Praxis, die erschaudern machen: Teilweise, weil man sich selbst peinlich darin wiedererkennt, teilweise, weil man einen Einblick bekommt, daß es immer noch einen Grad verworrener und haarsträubender geht. Mindestens kann man daran ablesen, wie “normal” das Leiden an Beruf, Beziehungen und dem Sinn des eigenen Lebens inzwischen geworden ist.
Abgesehen von seinem katholisch grundierten Wertkonservativismus ist seine Erfahrung, was der Seele der Menschen schädlich oder gedeihlich ist, die wesentliche Grundlage seiner Erkenntnisse und Ansichten über den Zustand unserer Gesellschaft. Sein politischer Kompaß hingegen ist eher schwach entwickelt und bewegt sich in einem ziemlich konventionellen, “liberalen” Rahmen, wobei er sich, dem Ethos seines Berufes folgend, leidlich um Neutralität bemüht.
Ich bin zwar ein bißchen jünger als Bonelli (Jahrgang 1968), aber ich erkenne in seinem Denken deutlich die handelsüblichen weltanschaulichen Koordinaten wieder, mit denen man in Österreich in den achtziger Jahren aufgewachsen ist. In Die Kunst des Ankommens nennt er beispielweise ernsthaft so schale moderne Heiligenbildchen wie Gandhi, Martin Luther King und Nelson Mandela als Vorbilder, klischierte “Social Justice Warrior”-Ikonen, um die sich verzerrende Mythologien ranken, die er nicht in Frage stellt. In diesem Rahmen gehört wohl auch die häufige Bezugnahme auf den Nationalsozialismus, dem er immerhin stets den Kommunismus als artverwandt an die Seite stellt.
Ich denke, Bonelli ist im Kern ein unpolitischer Mensch. Seinen Zugang zur Wirklichkeit erlangt vor allem über das, was er in seiner täglichen Praxis vor sich hat. Er sieht, wie die Genderideologie die Beziehungen zwischen Männern und Frauen vergiftet, wie “Corona” und andere Krisen und ideologische Offensiven Familien spalten, Menschen ausgrenzen und die Gesellschaft “toxisch” machen, er sieht eine Epidemie des “Narzissmus”, wie schon Christopher Lasch in den siebziger Jahren.
Auch in seinem neuen Buch schreibt er viel über das, was er “Wokeness-Bewegung” und “Cancel Culture” nennt. Beides sieht er als Anzeichen von “Herzlosigkeit”, in dem Sinne, daß es ist grausam ist, Menschen wegen abweichender Meinungen sozial und beruflich zu vernichten. So geschehen mit Bonellis Freund Clemens Arvay, der sich letztes Jahr das Leben genommen hat.
Er lokalisiert diese Problematik im Bereich der “Kopf”-Hindernisse: “Intellektuelle Faulheit”, “Denkverbote” und “Ideologien”, die “den Verstand verdrehen” und den “Realitätssinn” trüben:
Sie schaffen eine mentale Umgebung, in der bestimmte Gedanken und Fragen als unzulässig gelten, weil sie nicht in das vorgegebene Weltbild passen. Diese Denkverbote verhindern eine offene Auseinandersetzung mit der Realität und führen dazu, daß Menschen in ihrer Gedankenblase leben, in der nur die eigenen Überzeugungen bestätigt werden.
Das Kapitel, das für “uns Rechte” wohl am meisten relevant ist, trägt den Titel “Im Sog der Ungewissheit: Die verlorene Heimat”. Hier hat er eine recht düstere, extreme Figur aus dem Fundus von Film und Literatur als beispielhaft gewählt: “Travis Bickle”, den “Taxi Driver” aus dem Kultfilm von Martin Scorsese und Paul Schrader, der “für seine radikale Darstellung von Heimatlosigkeit, Entwurzelung, Isolation und Gewalt gefeiert wird.”
Auch den Begriff “Heimat” konzipiert Bonelli vor allem psychologisch, nicht etwa als Ort oder als Kultur (was aus dieser Sicht nur zweitrangig wäre):
Der Begriff Heimat steht für ein Gefühl von Zugehörigkeit, Verbundenheit und Sicherheit, das sich durch wiederholte Prägung in bestimmten sozialen Umfeldern entwickelt: die emotionale, präreflexive Vorstellung einer heilen Welt, eines paradiesischen Zustandes, eines gelobten Landes. Umgekehrt ist der Verlust dieser Heimat verbunden mit tiefer Verlorenheit und Unsicherheit: das Gefühl einer gefallenene, unsicheren und verlorenen Welt.
“Heimat” sowohl im seelischen als auch örtlichen, kulturellen und spirituellen Sinn spielt natürlich im rechten Spektrum eine große Rolle. Es ist das, was Identitäre mit “Identität” meinen, mit besonderer Betonung der ethnokulturellen Zugehörigkeit und Verbundenheit. Das geht über die Kritik an Multikulturalismus und Einwanderungpolitik, die sowohl Einheimische als auch Zuwanderer entwurzelt und entfremdet (auch der Attentäter von Magdeburg war eine Art orientalischer Travis Bickle), weit hinaus, bis hin zur Generalfrage, inwiefern die Moderne und die technische Zivilisation an sich entwurzelnd und “herzlos” sind.
“Heimatlosigkeit” kann nach Bonelli auch durch ein “Klima der sozialen Ausgrenzung” entstehen.
Der Travis Bickle von heute tut sich schwer mit einem Gefühl der Zugehörigkeit zu einer gefühlskalten Gesellschaft, die ständig moralisiert, spaltet und Andersdenkende abwertet und diffamiert. Begriffe, die er sein Leben lang verwendet hat, werden geächtet und fallen einer humorlosen Sprachpolizei zum Opfer. (…) Wenn Travis es gar wagt, eine andere Meinung zu vertreten oder an traditionellen Werten festzuhalten, läuft er Gefahr, unbarmherzig abgewertet oder ausgegrenzt zu werden. (…) Das großartige Konzept der offenen Gesellschaft ist für ihn nur noch eine herzlose Worthülse, die mit ideologisch einseitigen Inhalten gefüllt ist. In seiner Wahrnehmung werden unter dem Deckmantel von Toleranz und Vielfalt keine Abweichungen von den herrschenden Ideologien geduldet. (…) Er sieht seine Meinungsfreiheit zunehmend bedroht, indem er immer weitere Teile seiner Wahrnehmungen (…) in immer größeren Bereichen nicht mehr formulieren darf.
Während der “Flüchtlingskrise” und “Corona” haben unzählige “normale” Menschen, die alles andere als “Travis Bickles” sind, diese Erfahrung gemacht. Sie haben zu einem Phänomen geführt, das Caroline Sommerfeld und ich unserem Buch Mit Linken leben (2017) als eine der wesentlichsten “Bruchlinien” innerhalb unserer Gesellschaft identifizierten, weitaus wichtiger als formale, ideologische, politikwissenschaftliche Bestimmungen von “links” und “rechts”: Die Rede ist von einem massiven Vertrauensverlust in Medien und Politik, der eine Folge eines massiven Vertrauensmißbrauches ist.
Bonelli:
Der Travis von heute fühlt sich von Politikern und Medien betrogen, belogen und verarscht. Durch diese Enttäuschung (er hatte beiden vertraut!) kam es in ihm zu einem immensen Vertrauensverlust in das demokratische System als solches. Der Berg an Problemen, der sich im letzten Jahrzehnt durch politische Nachlässigkeit und Missmanagement aufgetürmt hat, ist gewaltig.
Es ist natürlich so, daß dieser Berg nicht erst seit einem Jahrzehnt, sondern seit mindestens vier oder fünf (“Taxi Driver” ist von 1976), je nachdem, welche Parameter man ansetzen möchte, am Wachsen ist, und daß er nicht bloß Nachlässigkeit oder Unfähigkeit zu verdanken ist, sondern gewollten politischen Zielsetzungen. Bonelli gehört wohl eher zu jenen Menschen, die erst um 2015 “aufgewacht” sind, während diese Problematiken eine viel ältere Genealogie haben.
Das deutet sich freilich im nächsten Unterkapitel an. “Heimatlos” wird man nach Bonelli auch durch “spirituelle Impotenz”. Das wiederum ist Thema meines Buches Kann nur ein Gott uns retten? von 2014. Das Vakuum des Niedergangs des Glaubens füllt sich mit allerlei Ideologien und säkularen Paradiesversprechen. Er zitiert Ernst Jünger: “Die verlassenen Altäre sind von Dämonen bewohnt.”
Heute steht der Mensch vor einem bunten Mix spiritueller Formen, in denen Menschen versuchen, einen Sinn zu finden. Die Bandbreite reicht von Freikirchen, Scientology, Okkultismus oder Esoterik bis zu den unterschiedlichsten politischen Ideologien. Im linken Spektrum begegnet er den “Ismen” – Anti-Rassismus, Antifaschismus, Genderismus, Ökologismus -, im rechten Lager sind es die Gemeinschaft und die Homogenität. Ihre Götzen heißen links Transformation und Diversität und rechts Identität und Revision.
Auch an dieser Stelle sieht man, daß Bonelli nicht vollständig neutral zwischen links und rechts bleiben kann, da der weitaus größere und dominantere Teil der heutigen ideologischen Last auf der Gesellschaft nun einmal von links kommt. Das zeigt sich auch in der Reihe der stigmatisierenden, jedes weitere Sachargument vernichtenden “Ad-Personam-Beschuldigungen”, die er an anderer Stelle aufzählt:
“Schwurbler”, “Antisemit”, “Nazi”, “Kriegstreiber”, “Klimaleugner”, “Gutmensch”, “Putin-Versteher” und so weiter…
Hier hat er nur zwei Begriffe genannt, die eher nach “rechts” weisen: “Kriegstreiber” und “Gutmensch”.“Corona” wurde nur deshalb eine “linke” Sache, weil sich der Großteil der Linken aus Machterhaltungsgründen heute konform zur jeweils angesagten medial-politischen Agenda verhält; jeder, der von ihr abweicht, wird vom System nach “rechts” einsortiert (und somit als Feind markiert) – und dies obwohl sich gerade unter den Coronamaßnahmenkritikern oder Gegnern von Waffenlieferungen an die Ukraine etliche genuin Linke befinden.
Was den anderen zitierten Absatz angeht, so kann Bonelli auch hier nur wenig in die rechte Seite der Waagschale werfen. Er ist zu klug, als daß er analog zu den linken ideologischen Ideen “Rassismus” oder “Faschismus” als rechte Äquivalente nennt, denn er hat diese Begriffe offenbar richtig als “toxische Framings” der Linken erkannt, die inzwischen auf eine generalisierende Weise verwendet werden, die ihnen jeglichen klar definierbaren Sinn nimmt.
Er ist viel subtiler, indem er stattdessen Begriffe wie “Gemeinschaft”, “Homogenität”, “Identität” und “Revision” nennt. Was er mit letzterem meint, verstehe ich nicht. Es ist kein in unserem Spektrum gebräuchlicher Begriff. Der Rest ist eher lahm und lädt nicht gerade, wie bei linken Ideologien, zur spontanen Abweisung ein, weil er so abstrus wäre. “Gemeinschaft” und “Identität” sind Begriffe, die auf Gegenbewegungen zu genau den Dingen zielen, die Bonelli an unserer Gesellschaft beklagt: Sozialer Zerfall, innere und äußere Heimatlosigkeit, innere und äußere Entfremdung.
“Homogenität” ist lediglich die Gegenposition zum linken oder auch “globalistischen” Ansinnen, die Bevölkerungen der westlichen Nationen so gründlich wie möglich ethnokulturell zu diversifizieren, bis hin zu ihrer “Abschaffung” – und hier gibt es etliche sehr rationale Gründe, warum eine ethnokulturell relativ homogene Gesellschaft einer multikulturalisierten vorzuziehen ist, ganz besonders im Hinblick auf die von Bonelli beklagte “Spaltung”. Über diese Dinge hat er offenbar noch nicht ausreichend nachgedacht.
Gewiß können diese Begriffe auch zu “Götzen” werden, insofern sie zur einzigen Quelle des Lebenssinnes werden, allzu engmaschig gefaßt oder allzu verbissen verfolgt oder extrem übersteigert werden oder den Blick auf die Realität verstellen. Dieser Blick ist jedoch zweifellos am schärfsten von “rechts”, weil das ideologische Spinnengewebe, das die Realität verdeckt und erstickt, heute vorrangig mit linken ideologischen Vorstellungen gewebt ist. Das zeigt nicht zuletzt Bonellis Argumentation selbst, die klar im konservativen, also “rechten” Spektrum wurzelt.
Vor ein paar Wochen traf ich zufällig einen alten Freund aus einem vergangenen Abschnitt meines Lebens, den ich zuletzt vor dreizehn Jahren gesehen hatte. Ich freute mich sehr, ihn zu sehen, er zögerte allerdings zunächst ein wenig, mich allzu freundlich zu begrüßen, da er inzwischen herausgefunden hatte, daß ich zu “Lichtmesz” geworden war. “Wie konnte das passieren? Ich mochte den Typen!” seien seine ersten Gedanken gewesen.
Ich fragte ihn, was ihn denn an den Ansichten störe, die ich vertrete. Seine Antwort war interessant, weil nicht der übliche Standard: “Du bist eine Leitfigur in einem Milieu, das nicht differenziert und polarisiert!” Ich widersprach, und meinte, in meinem “Milieu”, das von den Medien verzerrt dargestellt wird, gäbe es ein Spektrum an durchaus differenzierten Meinungen; wie diese “Polarisierung” zustande kommt, dazu habe ich wohl eine etwas andere Meinung als er.
Wir beschlossen, daß Ort und Zeit ungünstig seien, dies alles Länge mal Breite auszudiskutieren, und wechselten zu unverfänglichen Themen. Am Ende war seine Herzlichkeit wieder zurückgekehrt, und er meinte: “Auf eine Sache können wir uns wohl einigen, daß wir beide gegen die Polarisierung sind.” Dies war auf seiner Seite wohl nicht mehr als eine Intutition, denn wir hatten das Thema nicht mehr beackert. Ebenso intuitiv sagte ich Ja.
Wir hatten kein Wort über “Corona” verloren, oder die “FPÖ-Wähler”. Ich weiß nicht, was er darüber denkt. Aber jemand, der sich überhaupt bewußt ist, daß es eine Polarisierung gibt, und der sie als negativ empfindet, ist vermutlich schon aus dem bösen Spiel ausgestiegen; jemand, der vermutet, daß ich als Rechter auch kein Freund dieser Entwicklungen bin, hat verstanden, daß die Dinge nicht so schwarz-weiß liegen, wie es öffentlich dargestellt wird.
Zumindest auf einer Ebene kann ich ihm zustimmen: Daß es schlecht ist, Menschen, die man schätzt, allein aufgrund abweichender Meinungen zu verwerfen und zu “canceln”. Ich glaube auch nicht, daß alle, die bei “Corona” mitgemacht haben, pauschal schlecht oder dumm seien. Auch das ist ein Thema, zu dem Bonelli viel zu sagen hat, und zu dem ich mich nach den Weihnachtsferien äußern werde.
Ich empfehle, Die Kunst des Ankommens zu lesen, und wünsche allen Lesern ein gutes Jahr 2025!
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Raphael Bonelli: Die Kunst des Ankommens. Wie wir unseren Platz im Leben finden, edition a, Wien 2024, 330 Seiten, 26 Euro – hier bestellen.
Franz Bettinger
Ein Guru, abgehoben, exzentrische Aussetzer? - Warum solch ein Hieb? Ich habe ihn immer als humorvollen, und brillanten Kämpfer empfunden. Selbst wenn Jordan Peterson diese Allüren hätte, sollte unsereiner lieber darüber schweigen. Denn allzu viele Helden haben wir nicht.
ML: Mein "Held" ist diese Jammergestalt sicher nicht.