Der Autor verarbeitet darin seine Erfahrungen als Lehrer in den Pariser Problemvierteln, den banlieues, und schildert die ethnischen und sozialen Bruchlinien, die durch seine Klasse verlaufen und ein Lernen unmöglich machen.
Zugleich wird deutlich, daß der Lehrer sichtlich überfordert ist und sich immer wieder von dem bunt zusammengewürfelten Schülerhaufen provozieren läßt.
Die Lage in den „Problemvorstädten“ unter besonderer Berücksichtigung der Schule hat Anfang der 90er Jahre der 2002 verstorbene Soziologe Pierre Bourdieu in dem Sammelband Das Elend der Welt beschrieben. Er kommt zu dem Ergebnis, daß eine neoliberale Wohlfahrts- und Versprechenspolitik für die Desintegration junger Migranten verantwortlich sei.
Weil er eben links ist, mißachtet Bourdieu dabei die Kategorie „Eigenverantwortung“ und die Unhintergehbarkeit der grundsätzlichen Verschiedenheit der in den banlieues lebenden Ethnien (mehr dazu in „Das hier ist Krieg“). Dennoch kann man den mit „Die Abdankung des Staates“ überschriebenen Aufsatz mit Gewinn lesen, weil es Bourdieu gelingt, der unheilvollen Allianz aus Liberalismus und Etatismus, die er Neoliberalismus nennt, ihren Schuldanteil an der fehlgeschlagenen Integration und Bildungsmisere nachzuweisen.
Bourdieu beginnt mit seiner Analyse in den 70er Jahren. Die damalige Wohnungsbaupolitik habe die soziale Teilung in den banlieues materialisiert, indem der „hohe Staatsadel“ anfing, wie ein Privatunternehmer zu handeln und die Sozialleistungen auf „personenbezogene Miethilfen“ beschränkte. Damit habe man den „niederen Staatsadel“, also z.B. Polizei und Lehrer vor Ort, im Stich gelassen und die Idee des öffentlichen Dienstes zerstört. Bourdieu deckt damit die perfide Strategie auf, Menschen allein mit Geld in eine vollkommen neue Gesellschaft integrieren zu wollen, und bündelt diesen Gedanken in einer treffenden Verbildlichung: Die rechte Hand des Staates (Politik) wisse nicht mehr, was die linke (die „kleinen“ Beamten) macht.
Dieser Wesenszug durchzieht auch die neoliberale Versprechenspolitik, die insbesondere im Bildungswesen verheerende Folgen hinterlassen hat. Denn mit dem Motto „Jeder kann durch Bildung alles schaffen“ veralbert der Staat die Unterschicht und das Kleinbürgertum, indem er Hoffnungen schürt, die im Regelfall nicht einzulösen sind. Letztendlich sorge dies dafür, daß die jungen Leute aus sozial schwächeren Schichten länger in den staatlichen Bildungseinrichtungen verweilen und am Ende trotzdem keine gehobene Dienststelle bekommen, weil die Oberschicht im Berufsleben für die bewährte Erbfolge sorgt. Der negative Nebeneffekt:
Die Schule durchbricht, indem sie sie (die Heranwachsenden aus einkommensschwachen Familien, Anmerk. FM) provisorisch von den produktiven Tätigkeiten fernhält und der Arbeitswelt entzieht, den auf der vorweggenommenen Anpassung an die beherrschten Positionen beruhenden „natürlichen“ Zyklus der Reproduktion der Arbeiter und drängt sie zur Ablehnung manueller Arbeit (und vor allem Fabrikarbeit) sowie der Lage der Arbeiter; die Schule drängt sie zur Ablehnung der ihnen einzig zugänglichen Zukunft, ohne ihnen jedoch in irgendeiner Weise eine Garantie auf die Zukunft zu geben, welche sie doch zu versprechen scheint, auf die definitiv zu verzichten sie ihnen allerdings über die schicksalhafte Wirkung ihrer Verdikte beibringt.
Ich möchte in diesem Zusammenhang noch einmal auf meine provokante Forderung nach einer Stärkung der MINT-Fächer zu sprechen kommen: Diese resultiert eben gerade nicht aus einem neoliberalen Bedarfsdenken (Was kann der Staat der Wirtschaft Gutes tun?), sondern orientiert sich an den Lebenschancen und fragt danach, wo realistischerweise der rechte Platz für die Masse der Menschen ist. Das bedeutet im übrigen aber nicht, daß Techniker, Handwerker oder Naturwissenschaftler kein historisches und literarisches Allgemeinwissen vermittelt bekommen sollten.
Bourdieus Kritik an der neoliberalen Wohlfahrts- und Versprechenspolitik läßt sich wie folgt zusammenfassen: Die Abdankung des Staates wird offensichtlich, wenn eine Inflation der Versprechen des hohen Staatsadels mit einem Verfall des niederen Staatsadels einhergeht.
Was muß man nun daraus schlußfolgern? Ernstzunehmende Politik (im engeren Sinn) muß an der Korrektur dieses mißlichen Verhältnisses ansetzen. Sie kann darüber hinaus nach der Demontage des niederen Staatsadels nur wenig tun und muß sich zwangsläufig an den Bedürfnissen der Masse orientieren. (Erik Lehnert und Götz Kubitschek haben dieses Problem im Zusammenhang mit der „Wahrnehmungselite“ ausführlich diskutiert.)
Wir müssen uns klar darüber sein, daß in Zeiten nach der Abdankung des Staates mit politischen Mitteln nur noch Reformen möglich sind, aber keine komplette Kursänderung. Für diese ist mehr nötig. Die Aufgabe von Sezessionisten der Tat muß es deshalb sein, vom Staat unabhängige, neue Institutionen zu schaffen.