Wie es der Zufall will, zeigte das Filmmuseum Wien diesen März eine komplette Werkschau der Filme des schwierigen Meisters.
“Schwierig” ist Bresson gleich in mehrfacher Hinsicht: zum einen hat er im Alleingang, nahezu gänzlich ohne äußere Einflüsse, eine eigene und bisweilen sonderbare Filmästhetik entworfen, die dem Zuschauer viel Konzentration und Offenheit abverlangt. Er war überzeugt, daß der Film, in dem er die (erst zu schaffende!) Zukunft der Kunst schlechthin erblickte, sich restlos vom Theater emanzipieren und eine eigenständige Sprache und Ausdrucksform erschaffen müsse. Der Weg dorthin führte für ihn über konsequente Reduktion der üblichen filmischen Ausdrucksmittel: der “schönen Bilder”, der expressiven Lichtsetzung und Kamerabewegung, der Musikuntermalung, vor allem aber des Schauspiels, das Bresson von aller Theatralik und Dramatik zu reinigen suchte.
Letzteres ist für jemanden, der zum ersten Mal einen Film von Bresson sieht, vielleicht die größte Hürde: seine Laiendarsteller, von ihm bezeichnenderweise “Modelle” genannt, “sagen” ihre Sätze eher, als sie zu “spielen”; ihre Gesten und Körperhaltungen wirken bewußt abgezirkelt, einstudiert, steif, manchmal geradezu mechanisch. Dominik Graf schrieb einmal, sie “gehen wie an einer Schnur gezogen aus dem Bild” und betreten ebenso das nächste. Ihre Mienen sind meistens “neutral” und emotionslos. Dieser (wenn man so will) inszenatorische “Tick”, verstärkte sich im Laufe der Jahre, von Film zu Film, bis zu einem Grad äußerster Abstraktion.
Der Grund für diese “idiosynkratische” Vorgehensweise ist dunkel und im Ergebnis zuweilen zwiespältig: zum einen lehnte Bresson jegliche Form der Psychologisierung ab, zum anderen wollte er, daß die Menschen, die er als “Modelle” wählte (darunter unvergeßliche Gesichter und vor allem elfenhafte junge Frauen von einer eigentümlich “vergeistigten” Anmut), nicht als sich verstellende “Schauspieler”, sondern durch das strenge Korsett der Schauspielführung als sie selbst wahrgenommen werden, ebenso wie Tiere, Gegenstände, und Geräusche, auf deren Präsenz und Authentizität der Regisseur besonderen Wert legte. Bresson wollte die Seele der Dinge der Welt, “an ihrem Ort”, sinnlich (oder auch über-sinnlich) spürbar machen. Gerade deshalb sind seine Filme paradoxerweise weit entfernt von dem, was man gemeinhin unter filmischem “Realismus” oder “Naturalismus” versteht.
Sie zielen darauf ab, unseren eingerosteten und klischierten Blick auf die Dinge aufzubrechen und zu erneuern, sie wieder geheimnisvoll und fremdartig erscheinen zu lassen, und dies mit überraschend (und trügerisch) einfachen Mitteln. Dabei gelangen ihm sublime, oft erschütternd schöne Szenen, deren Wirkung tatsächlich “genuin” filmisch ist und kaum in Worte gefaßt werden kann. Es ist ein bißchen wie mit dem alten Witz: “Writing about music is like dancing about poetry.”
Dabei kann man kaum sagen, daß die Abstraktion und die lakonisch-verkürzte Erzählweise seine Filme “klarer” und “einfacher” gemacht hätte, wie etwa bei seinem Quasi-Schüler Aki Kaurismäki. Im Gegenteil: besonders in seinen späten Filmen wirkt so manches mysteriös und kryptisch, und erschließt sich – wenn überhaupt! – erst bei wiederholtem Ansehen, und auch dann eher über das Gefühl als den Intellekt.
Bresson selbst war ein überaus rätselhafter und einzelgängerischer Mensch. Über sein Leben abseits seiner vergleichsweise wenigen Filme (13 Spielfilme in 40 Jahren) gibt es nur spärliche Informationen. Lange Zeit war nicht einmal sein genaues Geburtsdatum bekannt. Man weiß, daß er zunächst Malerei studierte und sich dieser Kunst zeitlebens verbunden fühlte. Zum Kino kam er relativ spät. Seinen letzten Film drehte er 1983, danach zog er sich aus der Öffentlichkeit zurück und starb 1999 im Alter von 98 Jahren.
Procès de Jeanne d’Arc (1962), Au hasard Balthazar (1966)
Es gibt eine Handvoll faszinierender Interviews mit Bresson (etwa hier, hier und hier), in denen seine hellwache Intelligenz, seine verblüffende Unbeirrbarkeit und konzentrierte Selbstsicherheit, sein provozierendes Abseits- oder gar Jenseitsstehen gegenüber jeglichem “Mainstream” gut zum Ausdruck kommen. Hier spricht ein Mann, der einerseits bewußt an Traditionslinien der europäischen Kunst und Philosophie anknüpft, sich dabei aber gleichzeitig völlig frei von jeglicher Einschränkung, Konvention und Rückwärtsgewandtheit zeigt, der genau zu wissen scheint, was er tut und warum er es tut, selbst wenn er sich darüber bewußt ist, daß er von vielen seiner Zeitgenossen nicht verstanden wird.
Seine Filme waren keine kommerziellen Erfolge, und hatten stets mit erheblichen Finanzierungsschwierigkeiten zu kämpfen. Sein großes Wunschprojekt, eine wortgetreue Verfilmung der Genesis, das er über Jahrzehnte verfolgte, konnte leider niemals verwirklicht werden. Sein Einfluß auf die Filmkunst war dennoch enorm: zu seinen Verehrern (und teilweise Epigonen) zählen so unterschiedliche Regisseure wie Paul Schrader, Andrej Tarkowskij, Michael Haneke, Abbas Kiarostami, Jim Jarmusch, Christian Petzold oder Christoph Hochhäusler.
Die zweite, und keineswegs geringere “Schwierigkeit” des Bresson’schen Werkes ist die Wahl seiner Sujets: sie wurzeln stark im Geiste der französischen renouveau catholique , der katholischen Moderne des 20.Jahrhunderts, für die Namen wie Georges Bernanos, François Mauriac, Paul Claudel, Charles Péguy oder auch Olivier Messaien stehen. Wenn man diese Schublade unbedingt aufmachen will, so ist dies vielleicht das “konservative” Element der radikalen, ja avantgardistischen Kunst Bressons. Seine Filme können auch als strenge, christlich-humanistische Exerzitien gelesen werden, in den Worten Godards “humanistische Inquisitionen”, die tief eintauchen in die Seele des Menschen, in eine Welt voller Leiden, Grausamkeit, Gier, Verlorenheit, Verzweiflung und Gottferne, aber auch der Gnade und der Nähe der Erlösung.
Julien Green sagte einmal über seine Bücher, sie seien die “eines Gefangenen, der von der Freiheit träumt“. Ähnliches gilt für Bressons Filme, die oft in einem buchstäblichen Gefängnis beginnen (“Ein zum Tode Verurteilter ist entflohen”, 1956) oder enden (“Das Geld”, 1983). Seine Helden sind fast immer im jugendlichen Alter: der junge “Landpfarrer” aus dem Roman von Bernanos (“Tagebuch eines Landpfarrers”, 1950), die heilige Närrin Jeanne d’Arc (“Der Prozeß der Jeanne d’Arc”, 1961) oder der hochmütige dostojewskische Taschendieb (“Pickpocket”, 1959). Oft sie sind auch geschundene Wesen auf der untersten Stufe der Hackordnung wie die kleine “Mouchette” (1967, ebenfalls nach einer Vorlage von Bernanos) oder der Esel Balthasar (“Zum Beispiel Balthasar”, 1966), in dessen Schicksal sich das ganze Menschenleben, ja selbst die Passion Christi spiegelt, anklingend an eine berühmte Stelle des Römerbriefes:
Denn das ängstliche Harren der Kreatur wartet auf die Offenbarung der Kinder Gottes. Sintemal die Kreatur unterworfen ist der Eitelkeit ohne ihren Willen, sondern um deswillen, der sie unterworfen hat, auf Hoffnung. Denn auch die Kreatur wird frei werden vom Dienst des vergänglichen Wesens zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. Denn wir wissen, daß alle Kreatur sehnt sich mit uns und ängstet sich noch immerdar.
Mouchette (1967), Un Condamné à mort s’est échappé (1956)
“Der Teufel, möglichweise” (Le diable, probablement) aus dem Jahr 1977 zählt zu der Handvoll Filme, die ich mir alle Jahre wieder erneut ansehe. Das hat verschiedene Gründe. Ich will versuchen, ein paar wichtige Szenen zu beschreiben, auch wenn das eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit ist. Eine zentrale Szene habe ich bereits in einem anderen Blogbeitrag kommentiert.
Die Hauptfigur des Films, der 20jährige Student Charles, würde recht gut in die Reihe der von Götz Kubitschek in der aktuellen Druckausgabe der Sezession evozierten Abweichler und Nonkonformisten passen. Er zählt zu jenen “jungen Leuten”, die nach den berühmten Worten Ernst Jüngers “an Temperaturerhöhung leiden, weil in ihnen der grüne Eiter des Ekels frisst”, den “Seelen von Grandezza, deren Träger wir gleich Kranken zwischen der Ordnung der Futtertröge einherschleichen sehen.”
Bresson zeigt Charles im Prozeß der radikalen Abkehr ebenso von einer “Zivilisation des Todes” wie der vermeintlichen politischen Heilmittel. Zu Beginn bricht er mit einer linken Gruppe, deren Wesen Bresson in fast aberwitziger Verkürzung zeigt: “Ich verkünde die Zerstörung”, proklamiert ein Redner vor der versammelten Menge. “Jeder kann zerstören. Es ist leicht.” Charles reagiert mit Verachtung. Als er versucht, zu widersprechen, wird ihm mitten im Satz das Wort abgeschnitten. Seine einsame Stimme hat keine Chance gegen die Mehrheit.
Ähnlich angewidert reagiert er, als Anhänger der Gruppe in einem vermeintlich subversiven Akt pornographische Bilder in Gebetsbücher legen und Flugblätter mit atheistischen Slogans (“Gott ist ein Verräter” steht auf einem) in einer Kirche verteilen. Er sammelt die Bilder ein und zerknüllt die Flugblätter, wirft sie dem Kopf der Gruppe empört auf den Tisch. “Was ihr tut, ist niederträchtig.”
Die ohnehin als ohnmächtig und unglaubwürdig gezeichnete Kirche ist das falsche Ziel, die Subversion um ihrer selbst willen das falsche Mittel. Das hat Bressons Held bereits vor 35 Jahren deutlich gesehen. Er hat verstanden, was Jahrzehnte später weder das nihilistisch-zerstörungswütige “Unsichtbare Komitee” noch “Pussy Riot” und ihre diversen Epigonen mit ihren abgeschmackten Provokationen verstanden haben. Dabei zeigt der damals 70jährige Bresson durchaus Verständnis für die Motive, die die Studenten in linksradikale Kreise führen. Die Emphase liegt dabei besonders auf den Schrecken der Umweltzerstörung und der nuklearen Aufrüstung, Themen, die wenige Jahre später, mit dem Aufkommen der Grünen, ins Zentrum des öffentlichen Bewußtseins rückten.
In einer anderen Szene liest Charles seinem drogensüchtigen Freund Valentin eine Stelle von Victor Hugo über Kathedralen vor: “Solche Orte sind wirklich heilig. Aber sobald sie ein Priester betritt, ist Gott aus ihnen verschwunden. Etwas übertrieben, findest Du nicht?” Der andere zuckt die Schultern: “Ach weißt du, ich und Gott…” Charles versorgt Valentin mit Heroin, damit ihm dieser hilft, nachts in die leere Kathedrale einzubrechen. Er nimmt einen Plattenspieler und eine Aufnahme der Marienvesper von Monteverdi mit. Charles liegt im Dunkeln, in einem Schlafsack, starrt an die Decke der leeren Kirche, während die überirdische Musik des Magnificat erklingt. Ist Gott in dieser Einsamkeit, Leere und Nacht, kann man ihn erahnen, erfühlen, erhören?
Valentin schleicht sich unterdessen zu den Opferstöcken, bricht sie kurzerhand auf, stopft sich mit den glänzenden Münzen die Taschen voll. Die Polizei erscheint, findet Charles allein vor, verhaftet ihn, verhört ihn: “Warum sind sie in die Kirche eingebrochen?” – “Wenn ich es ihnen sagen würde, würden sie mir nicht glauben.” Daraufhin tritt ihm ein Polizist in die Kniekehlen.
Gegen Ende des Films wird Charles mit einem äußerst unsympathisch gezeichneten Psychoanalytiker konfrontiert. Dieser weiß bestens Bescheid über Ödipuskomplexe, die schlimmen Folgen autoritärer Erziehung und die Probleme eines “Anstiegs der Libido” in der westlichen Welt. Die Schublade seines Schreibtisches ist voll mit durcheinanderpurzelnden, offenbar gierig zusammengerafften Banknoten, den bar bezahlten Honoraren seiner Patienten. In dieser Szene wird Bressons ganze Verachtung für psychologische “Erklärungen” deutlich.
Charles bekennt trotzig die Überlegenheit seines Intellekts und seiner Begabungen, bekundet aber zugleich seine Weigerung, diese einer als zutiefst korrupt empfundenen Welt zur Verfügung zu stellen. Als die Option des Selbstmords zur Sprache kommt, entspinnt sich folgender Dialog:
Psychoanalytiker: Glauben Sie an Gott?
Charles: Ich glaube, so fest ich kann, an das ewige Leben. Aber wenn ich mir das Leben nehme, dann glaube ich nicht, daß ich dafür verurteilt werden kann, daß ich nicht verstanden habe, was niemand verstehen kann. Wenn ich mein Leben verliere, dann verliere ich dies (er nimmt eine Zeitung, schlägt sie an einer beliebigen Stelle auf, liest): “Familienplanung, Campingferien, Kultur, alle Sportarten, Linguistik, die Bibliothek des kultivierten Mannes, wie man ein Kind adoptiert, Eltern-Lehrer-Vereinigungen, Erziehung von 0–4 Jahren, von 7 bis 14 Jahren, von 14 bis 17 Jahren, Heiratsvorbereitungen, Militärdienst, Europa, Dekorationen, Ehrenabzeichen, die alleinstehende Frau, bezahlter Krankenurlaub, unbezahlter Krankenurlaub, der erfolgreiche Mann, Steuerbegünstigungen für die Älteren, lokale Steuern, Ratenzahlungen, Radio- und Fernsehvermietung, Kreditkarten, Heimreparaturen, Inflationsindex, Umsatzsteuer und Konsumenten…”
Er bricht ab, zerknüllt das Papier, wirft es in den protzigen Marmorkamin. Die Stunde ist fast um, der Psychoanalytiker erklärt, er werde sich das nächste Mal eingehender mit Charles Wunsch, zu sterben, beschäftigen.
Charles, beinah belustigt: Aber ich will doch gar nicht sterben.
Der Psychoanalytiker, verblüfft aufblickend: Wie bitte? Aber natürlich wollen Sie das!
Charles: Sie irren sich. Ich mag zwar das Leben verabscheuen, aber mehr noch verabscheue ich den Tod. … Ich bin nicht krank. Meine Krankheit ist, daß ich die Dinge klar sehe. (Je suis pas malade. Ma maladie c’est de voir clair.)
Im letzten Abschnitt des Films verspricht Charles dem Junkie Valentin viel Geld, wenn er ihm bei einer Tat, “den antiken Römern würdig”, helfe. Diese übertrugen ihren Sklaven die Ausführung des tödlichen Schwerthiebs, wenn sie sich für den Freitod entschieden hatten. Es ist schon dunkel, als die beiden mit der U‑Bahn Richtung Friedhof Père-Lachaise fahren; sie trinken noch einen Cognac; sie passieren eine Straße, und eine weitere; sie klettern über die Mauern des Friedhofs; gehen die Reihen der Grabsteine entlang. Charles geht voran, Valentin bleibt stehen, zückt die Pistole, die Charles ihm gegeben hat, zielt.
Charles: “Ich dachte immer, daß ich in einem solchen Moment sublime Gedanken haben würde. Weißt Du, was ich gerade denke?” Der Satz ist noch nicht vollendet, als Valentin ihm in den Rücken schießt. Er drückt dem Toten die Waffe in die Hand, greift in dessen Manteltasche, packt die darin befindlichen Geldscheine, steckt sie ebenso schnell und gierig ein wie die Münzen aus dem Opferstock. Dann verschwindet er im Dunkeln. Der Film ist zu Ende.
Auch Bressons nächster und letzter Film, basierend auf einer Novelle von Tolstoj, endet düster. Er knüpft direkt an seinem Vorgänger an und trägt den lapidaren Titel “Das Geld” – der Teufel, möglicherweise. Auch Bressons Pessimismus verstand sich als Klarsicht. Das Programmheft des Filmmuseums nennt ihn treffend einen “Unbequemen”, einen “Neinsager vor dem Herrn”. Wie bei allen Neinsagern dieser Art verbirgt sich hinter dem “Nein” die Kehrseite eines großen “Ja” – und das gilt auch für viele der Seelen, die “wie Kranke zwischen der Ordnung der Futtertröge umherschleichen”, und die ihr “Ja” noch finden müssen.