Mein Beitrag zum Sammelband „Rechtes Christentum?“ trägt den Titel „‘Gegen allahu akbar hilft nur deus vult’ oder: Christentum und Identitäre Bewegung“. Sind wir hineingezogen worden in eine tribale Auseinandersetzung, einen religiösen Bürgerkrieg des Christentums gegen den Islam? Damals schrieb ich: “Der Dschihad gebiert äquivalente Reconquistaimpulse.”
Auf dem (lesenswerten!) neuen Blog der TUMULT stieß ich auf einen Beitrag des Philosophen Rudolf Brandner, der den Titel meines damaligen Beitrags Lügen strafen will. Brandner schreibt:
Zuerst wurde den Europäern rein migrationsbedingt eine Auseinandersetzung mit dem Islam aufgenötigt, zu der sie eigentlich keinen Grund und noch viel weniger Lust verspürten; dann wurde ihnen zur Abgrenzung verkündet, ihre Identität sei eine «christliche». Eine falsche Identität aus einer falschen Gegensatzbildung – als stünde ein christliches Europa gegen eine islamische Welt.
Brandner argumentiert, daß uns Europäern die christliche Identität doch längst schon abhanden gekommen sei. Säkularisierung ist das Stichwort:
Eben darin besteht das «Neue» der «Neuzeit», daß die Grundlage menschlichen Weltverhältnisses von der religiösen Offenbarungswahrheit an die Selbstgewißheit des Erkennens in Philosophie und Wissenschaften übergeht. Das Christentum ist nun eine Sache der Vergangenheit, die christliche Welt die des Mittelalters (…).
Der Islam stelle die „Einwanderung just jener Vergangenheit in ihre Gegenwartswelt, von der sie sich befreit hat – und in die sie auch um keinen Preis zurück möchte“ dar. Brandner hält das von ihm beobachtete Sich-zurück-Wünschen für eine veritable Paradoxie. Gerade weil sich Europa selbst überwunden hat, verleugne es offensichtlich neuerdings diese Überwindung. Liegt dies womöglich an der Säkularisierung selber? An dieser Stelle wird Brandners Argumentation selber paradox. Er geht nämlich davon aus, die moderne Erkenntniskultur sei eben
keine «Religion», auch keine «Weltanschauung» oder «Ideologie», die man annehmen könnte oder nicht. Sie ist die Verwirklichung des Menschseins als freies Erkenntniswesen und in ihrer Entfaltung zur wissenschaftlich-technologischen Rationalität die Grundlage der weltgeschichtlich globalisierten Wirklichkeit der Moderne.
Was ist es anderes als „Weltanschauung“ oder „Ideologie“, die Verwirklichung des Menschseins mit einer seiner historisch konkreten Erscheinungsformen zu identifizieren? Ist der Mensch also von Natur ein säkulares Aufklärungswesen? Daran gemessen ist die christliche Identität freilich immer eine Lüge, die gemäß der Aufklärungslogik zu ihrer eigenen Überwindung angetreten ist, welche darüber hinaus auch noch gründlich in die Binsen gegangen ist.
Das erkennt Brandner selber, indem er die Sehnsucht nach einer europäischen christlichen Identität als einen „Ausdruck der modernen Orientierungslosigkeit entgrenzter Subjektivität“ interpretiert:
Es ist das schlechte Gewissen ihrer Maßlosigkeit und Beliebigkeit, das sich am «Christlichen» ein Maß zurechtzulügen versucht. Das soll dann einen Halt bieten, um den Gegensatz zum Islam auszutragen. Das Erkennen stuft sich selbst auf eine analoge «religiöse» Ebene herab und identifiziert sich rückwärtsgewandt mit dem, wovon es sich befreit hat.
Diese These hat es in sich. Sie ist richtig, aber im Grunde ganz falsch. Ich will ihr deshalb drei Überlegungen gegenüberstellen:
1. Wenn wir uns ein Dreieck vorstellen, an dessen Angelpunkt oben das Erkennen säße, und unten widerstritten die Religionen auf derselben Ebene, haben wir ungefähr Brandners Denkbild vor Augen. Der abendländische Philosoph ist der Beobachter zweiter Ordnung. Er kann aus der Perspektive der Vernunft den Religionen zur Reflexion raten.
Im Falle des Christentums will er den freiwilligen Rückfall ins Mittelalter durch Reflexionsverlust verhindern, im Falle des Islams rät er zur Erlangung der notwendigen Selbstreflexion. Nur so könnte man auf lange Sicht Handys für alle garantieren – der Islam sei in sich so beschaffen, daß Erfindergeist in ihm nicht heimisch werden kann. Ein solch schlichtes Islambild muß ihm erstmal einer nachmachen, von Waldstein hat dazu einiges dringend Nötige gesagt.
Brandner will die aus seiner Sicht positiven Errungenschaften der Aufklärung halten – weshalb er ja auch dem Islam zu Recht die Paradoxie bescheinigt, in eine Kultur einzuwandern, die er selber dadurch zerstört, – doch sein blinder Fleck ist die eigene Gottlosigkeit: er kann dadurch die Paradoxien der Aufklärung nicht sehen, sondern nur angesichts ihres „Rückfalls“ ins Voraufklärerische resignieren. Da die moderne Erkenntniskultur nun selbst zur Partei geworden sei, ließe sich der Gegensatz nicht mehr durch die höhere Rationalität einer «Aufklärung» aufheben – recht hat er, nur hat dies Konsequenzen.
2. Genese und Geltung sind seit Habermas bekanntlich zweierlei. Eine religiöse oder eine „aufgeklärte“ Weltanschauung ist jeweils auf eine bestimmte historisch kontingente Weise zustandegekommen. Dieses Entstehungsmotiv sagt etwas über ihre Quelle und ihre Geschichte aus, aber nichts darüber, ob sie gültig ist i.S.v. vernünftig begründbar. Geltendes Recht hat in diesem Sinne etwa immer eine Entstehungsgeschichte seiner Paragraphen, wird durch seine Geschichtlichkeit aber nicht ungültig.
Wir dürfen dieses erkenntniskritische Niveau nicht unterbieten durch Habermasrelativierung auf dessen Erkenntnisinteresse, aber wir dürfen ebensowenig annehmen, daß die vernünftige Geltungsebene der Weisheit allerletzter Schluß ist und hier die reine Wahrheit anzutreffen ist. Brandners sauber angeordnete Reflexionsebenen sind nicht sauber zu trennen.
In der Aufklärungslogik der Reflexionsebenentrennung steckt nämlich ein gehöriges Quentchen Christentum: nicht nur die wohlbekannte historische Tatsache, daß die „Menschenrechte“ aus dem christlichen Naturrechtsdenken erwachsen sind (Genese), sondern daß der übergeordnete Beobachter die Welt ex causa erschafft (Geltung).
3. Nicolas Gomez Dávilas Aphorismus:„Das Scheitern des Christentums ist nicht seine Widerlegung, sondern ist selbst christliche Lehre“, führt zu der Überlegung, daß es mit dem Christentum eine absonderliche Bewandtnis hat. Es ist nicht vergleichbar mit allen anderen Religionen, die man im Sinne der „Religionsfreiheit“ nebeneinanderstellen oder im Sinne eines religiösen Bürgerkriegs (allahu akbar vs. deus vult) gegeneinanderstellen kann.
Es ist nämlich selber paradox: seine Kampfesstärke ist seine Niederlage. Insofern macht es sich Rudolf Brandner zu einfach, wenn er von Heuchelei und Lüge in Hinsicht auf das Scheitern des Christentums spricht. Und ich habe es mir zu einfach gemacht, als ich in meinem Rechtes-Christentum-Essay die Hoffnung nährte, man könnte mit existenzieller Aufladung der Individuen diese Niederlage kontern und mit einem postmodern subjektivierten Lepantogeist doch noch in den Kampf gegen den Islam einrücken. Brandner ist darin zuzustimmen, daß am Ende „Fehl und Überschuß aufgeklärter Erkenntnis in ein Verwirrungsgeschehen“ zusammenfallen.
Das Christentum ist inhärent paradox, ist selber ein Verwirrungsgeschehen. Insofern hat es keinen Sinn, es seiner Paradoxien zu zeihen, es hat nur Sinn, diese sorgfältig aufzuzeigen. Christliche Gedanken strotzen vor adversativen (manche mögen’s auch „dialektisch“ nennen) Fügungen wie „gerade weil“ oder „eben dadurch“.
Zum Beispiel diese: Eben durch seine Auszehrung, den von ihm selbst hervorgebrachten Nihilismus, seinen eigenen Tod, gewinnt es Kraft. Das ist der Kern des Auferstehungsgedankens. Nach der Auferstehung ist der Leib nicht mehr derselbe. Doch soll uns dieser Gedanke etwa dazu verführen, den Tod des christlichen Abendlandes herbeizuwünschen, gar herbeizuführen? Selbstmord ist eine Sünde, der „Selbstmord Europas“ (Douglas Murray) ist daher niemals zu umarmen.
Aus dem Massaker von Christchurch (allein der Ortsname wirkte auf mich beim ersten Hören zu symbolisch, um zufällig zu sein) ist wenn überhaupt etwas, dann dies eine zu lernen: es ist kein selbstgewollter Kampf Christentum gegen Islam. Im Manifest des Täters finden wir ein perfekt angelegtes Medienspektakel in nuce. Lichtmeszens “dicht gepackter Koffer” sollte ja öffentlich ausgepackt werden.
Es ist genau so gewollt, und zwar nicht auf der Ebene der Motive des Täters, auf die hermeneutisch einzugehen oder sich von ihnen zu distanzieren genauso irrsinnig ist wie diese selbst, sondern auf der Ebene geistiger Auseinandersetzung. Keine Tat mehr ohne Bilder, kein Spektakel ohne Zweitrealität, das ist seit Baudrillard und Debord uns postmodernen Gemütern klar, es langweilt uns schon allmählich.
Daß beide Seiten im geistigen Bürgerkrieg hochrüsten, ist mit eingerechnet, ist der Sinn der Übung: die globale Linke nimmt den Islam in Schutz, der vermeintlich „rechte“ Täter rechnet ein, daß „gegen Rechts“ hochgerüstet wird und daran das linke System kollabiert, man verbietet private Waffen, Moslems schwören Rache – Akzelerationismus pur. Das Böse pur.
Um dies zu sehen, hilft uns Rudolf Brandners Vernunftebene nicht, unterhalb derer sich „die Religionen“ in ihrer üblichen Mittelalterlichkeit mal wieder gegenseitig zerfleischen. Das Ganze ist postmodern überdreht worden, mit europäischer Aufklärungsüberlegenheit ist da nichts mehr zu retten.
Die geistige Ebene liegt blank. Und wer ist Spezialist für nackt dargebotenen Geist? Nicht „die Kirche“, auch nicht all jene, die sich bloß politisch-instrumentell in die Reihen der Verteidiger Europas reihen, geschweige denn die aufklärerischen Vernunftideologen. „Demokratisch“ ist in dieser Arena überhaupt nichts zu lösen. Der Gegensatz zu „demokratisch“ ist allerdings nicht „gewalttätig“, sondern geistig, was eine Auseinandersetzung mit den perfiden Funktionsprinzipien der Demokratie und der „öffentlichen Meinung“ einbegreift.
Unter einer geistigen Auseinandersetzung verstehe ich, historische und politische Phänomene als Reiz-Reaktions-Abläufe, gewissermaßen als Symptome zu sehen. Um nach deren Ursachen zu fragen, muß in der Beobachtungständig eine höhere Ebene mitlaufen, die den Kampf des Guten und des Bösen auf die untere Ebene bezieht. Absichten und Pläne konkreter Protagonisten, selbst des deep state oder supranationaler Organisationen, siedeln dabei noch immer auf der Symptomebene.
Die geistige Ebene ist Weltbeobachtung und Selbstvervollkommnung zugleich, sie ist sowohl immer genauere Erkenntnis der Prinzipien des Weltgeschehens als auch immer klareres eigenes Wappnen gegen das Böse. In diesem Sinne verstehe ich Iljin und Jünger als geistiges Futter für Symptomatologen:
Das ist ein geistiges Gesetz: Derjenige, der dem Bösen nicht widersteht, wird von ihm absorbiert und von ihm besessen. (…) Die ganze sich widersetzende Kraft wurde zu der Kraft des sturmtragenden Bösen selbst, und der Atem des Verderbens findet Nahrung in der Verbissenheit des Verlorenen selbst. Indem er sich in den antigeistigen Leidenschaften suhlt, artikuliert er seine ‘Natur’ in einer entsprechenden antigeistigen ‘Ideologie’, in der die radikale und allumfassende Gottlosigkeit mit einer für ihn nicht qualvollen seelischen Krankheit und dem vollkommenen moralischen Idiotismus zu einer Einheit verschmilzt. (Iwan Iljin, Über den gewaltsamen Widerstand gegen das Böse, 1925).
Wo es Unsterblichkeit gibt, ja, wo nur der Glaube an sie vorhanden ist, da sind auch Punkte anzunehmen, an denen der Mensch durch keine Macht und Übermacht der Erde erreicht oder beeinträchtigt, geschweige denn vernichtet werden kann. Der Wald ist Heiligtum. (Ernst Jünger, Der Waldgang, 1951).
A. Kovacs
Sehr geehrte Frau Sommerfeld, schauen wir auf die Geschichte, so fällt doch auf, dass Europa sich früher gegen den Islam (letztlich erfolgreich) gewehrt hat und ihn heute stattdessen geradezu einlädt. Was ist denn in der Zwischenzeit geistig geschehen? Genau – die sogenannte „Aufklärung“ mit all ihren in Wirklichkeit sehr unerfreulichen Begleiterscheinungen und Folgen. Die Industrialisierung jedenfalls ist die Ursache der plötzlichen Wehrlosigkeit Europas nicht. Ich kann diese (letztlich linke) säkularphilosophische Apologetik der „Aufklärung“, wie sie Herr Brandner beispielhaft demonstriert, nicht mehr hören. Freilich hat das linke, „aufgeklärte“ gewaltsame Zertrümmerungs- und Propagandawerk der letzten 200 Jahre sein Ziel fast flächendeckend in Europa erreicht – sage mir niemand, die Leute seien durch den zwanglosen Zwang des besseren Arguments überzeugt worden. Nun sprechen sie halt so nach, wie es ihnen 1000-fach vorgesprochen wurde. Dass ein Buch wie das von Rodney Stark („Bearing False Witness“ einschl. der von ihm zitierten Schar von Autoren) nicht übersetzt wird und Arnold Angenendts „Toleranz und Gewalt“ praktisch folgenlos bleibt, weil beider Inhalt nicht ins säkularphilosophische Mainstream-„Narrativ“ passt, spricht Bände. Die säkulare (korrekter: atheistische) Philosophie versagt hier, in diesem lebensentscheidenden Kampf, komplett und das ist folgerichtig; einzelne Ausnahmen wie Hartmut Krauss werden kaum rezipiert. Die geistige Crux der islamischen sogenannten „Islamkritiker“ ist trotz ihres unzweifelhaften Todesmuts die, dass sie sich als Muslime bezeichnen und auch als Muslime fühlen, aber nirgendwo sagen (können), worin sich denn ein „reformierter“ Islam GENAU vom traditionellen unterscheiden sollte. Im Grunde sind sie keine Muslime mehr (und damit vogelfrei). Eine solche selbstwidersprüchliche Argumentationssituation führt natürlich zu nichts, ebensowenig wie die der säkularen Philosophen. Wenn Sie also geistig wirksam ansetzen wollen, bleibt ihnen nichts Anderes übrig als die Ihrem Sammelbandbeitrag titelgebende Alternative. Und dabei gibt es nichts zu entschuldigen oder zu relativieren. Ich darf auf den Artikel von Lee W. Congdon im neuen „CATO“ hinweisen, der Orbáns Politik m. E. bisher auf Deutsch am besten darstellt. Dass die (West-)Europäer die „aufgeklärten“ Phrasen nachbeten, bedeutet nicht, dass das Christentum nur noch in einem „Zombie“-Zustand vorliegt, wie das ein französischer Autor bezeichnet. Es gibt natürlich immer noch „subkutan“ vitalen Glauben, der ermutigt werden muss und der offensiver werben muss. Dieses Selbstbewußtsein versuchen Politiker Mitteleuropas zu wecken. Wer will, findet auch in der Amtskirche noch aufrechte Hirten, wer will, findet auch in der verkommenen philosophischen Welt der Förderanträge und Auftragswissenschaft noch Institute wie das IAP in Liechtenstein, die dezidiert analytische Religionsphilosophie betreiben. Es ist ja erst 200 Jahre her und wahrscheinlich nur ein historisches Intermezzo, dass Christentum und Philosophie von Manchen wie Herrn Brandner getrennt gedacht werden, doch deuten Leute wie Hegel, Kierkegaard, Heidegger und Iljin darauf, dass sich dieser Irrtum wieder beheben läßt. Man muss nur unbeirrt weiter darauf beharren. Eine andere Möglichkeit sehe ich nicht.