Lockdown in Permanenz. Alternativlos. Am besten unbefristet, wie der Bundes-Medizinmann Karl Lauterbach es fordert. Neuerdings wird die Einschränkung des 15-Kilometer-Bewegungsradius’ erwogen, was als bisher radikalste Maßnahme gelten kann. So, als begännen nach fünfzehn Kilometern die Minenfelder. Kriegsrecht.
Innerhalb des engen Raumes, den die Corona-Leine läßt, darf man sich nur mit einer Person außerhalb des eigenen Hausstandes treffen, also etwa nur mit der Mutter, nicht mit dem Vater, wenn man nicht mehr bei den Eltern lebt. Recht so?
Zur Logik und Rechtfertigung des zweifehlhaften Vorgehens ist seit dem letzten Jahr ebenso alles gesagt worden wie zur Kritik der gesellschaftlichen Abschaltungen. Klar zudem, daß Mediziner und deren Verbände die Maßregelungspolitik begrüßen; sie sehen von Berufs wegen nur Kranke. Sie allein erfüllen die Konstruktion ihres Wahrnehmungssystems.
Der einzige Trost liegt für Bekenner wie Gegner der Corona-Politik darin, daß die ganze Welt offenbar das Jo-Jo-Verfahren von Lockdown und neuerlichem Hochfahren praktiziert. Ganz abgesehen davon, daß die Blockaden ihr Gutes haben, indem manche Hybris – etwa die des Reisens und touristischen Weltverbrauchens – zeitweise unterbrochen wurde.
Dennoch bedrückend, wie eine Systemabschaltung von einer verzagten Mehrheit mittlerweile als normal empfunden wird. Das beginnt mit dem akzeptierten politischen Verfahren: Da gibt es immer mal eine „Schalte“ zwischen der Kanzlerin und den Ministerpräsidenten, deren Ergebnisse dann im nachhinein von den Landesparlamenten „durchgeschaltet“ werden. Zur Corona-Fraktion gehören alle, von der Linken, die, so sozialistisch wie ideenlos, noch mehr Mittel fordern kann als vor der Krise, bis zur CSU, die sich in Person Markus Söders mit immer neuen Maßnahmen profiliert.
Den Lockdown immerfort zu verlängern, sediert die Gesellschaft. Die Schüler verlottern, weil Online-Unterricht, selbst wenn er technisch umsetzbar wäre, keinen normalen Unterricht mit dem Lehrer als Gestaltendem ersetzte. Insbesondere die Schulen müßten alsbald öffnen, einerlei in welcher Form, sonst erleben wir ein zweites Schuljahr ohne Qualifikationserfolge – bedenklich, da die insuffiziente Schule schon ohne Einschränkungen aus Gründen ihrer systemischen Schwächen erzieherisch wie inhaltlich weniger als früher erreicht.
Klar sein sollte wenigstens, ab welchem Inzidenzwert der Unterricht wieder aufgenommen wird. Ferner müßte verbindlich gefaßt werden, was denn nun genau die Alternative zum Präsenzunterricht sein soll. An den Schulen geschieht gegenwärtig nur irgendwas, das sich eben nicht dem Werte nach wägen läßt. „Corona“ gilt zunehmend als Freibrief, unverbindlich zu handeln. Irgendwas ist beinahe nichts, deklariert als Notprogramm. Keine neuen ungenauen Stufenpläne, kein neuer Homeschooling-Alptraum! Die Schulen sind schon jetzt die Verlierer der sogenannten Pandemie. Allerdings: Lernen kann man immer, konnte man jedenfalls früher, allerdings eigeninitiativ.
Klaus Stöhr, Epidemiologe und als solcher bis 2007 Leiter des Influenza-Programms der WHO, findet es “unvernünftig, Schulen und Kindergärten zu schließen, wenn man weiß, daß die Hauptauswirkungen bei den Alten liegen.” Er geht mit seiner höchst interessanten und der Position von Christian Drosten entgegenstehenden Argumentation davon aus, daß die 7‑Tage-Inzidenz zunächst überhaupt nicht unter den willkürlich festgelegten Wert von 50 auf 100.000 Einwohner zu drücken wäre. Dies sei in unserer Klimazone selbst bei drastischen Einschränkungen nicht machbar. Vergleichbare Erkältungserreger, die die Atemwege infizierten, zirkulierten auf einem ähnlichen Niveau im Winter. “Und das, obwohl dagegen viel mehr Menschen immun sind als gegen Corona.”
Der Epidemiologe stellt die von der Politik herangezogenen Modelle in Frage. Sie offenbarten zu wenig Verständnis für derlei virale Erkrankungen. Man dürfe sie nicht auf die gemäßigte Klimazone beschränken, sondern müßte tropische und subtropische Zonen berücksichtigen. Sonst würde man nicht Taiwan und Südkorea als Beispiele aufrufen, denn dort sei immer Sommer. Und “dann würde man auch nicht glauben, daß man mit 50 Fällen pro 100.000 im Winter auskommt.”
Stöhr präferiert eine alternative Vorgehensweise:
Vermeidbare Erkrankungen und Todesfälle stark reduzieren, “bei einem geringstmöglichen Einfluß auf die Wirtschaft durch die Pandemie und die Bekämpfungsmaßnahmen – und bei einem tolerierbaren und akzeptablen Niveau der Einschränkung der Freiheit.” Mit etwa 25.000 Fällen pro Tag bzw. einer Inzidenz zwischen 100 und 120 könnte man hierzulande umgehen. Erhöhte Aufmerksamkeit müsse indessen dem Schutz der Altenheime zukommen:
“Ich habe schon immer gesagt, die 900.000 in den Pflegeheimen sind die eigentlich Betroffenen. (…) Wenn man sich auf die konzentriert, bräuchte man auch den Nebenkriegsschauplatz Schulen und Kindergärten nicht.” Der Epidemiologe weist darauf hin, daß es gar keine Ergebnisse dazu gäbe, inwieweit das Schließen von Restaurants, Bars, Museen und anderen öffentlichen Einrichtungen überhaupt eine Rolle spiele. Ja, es gäbe nicht mal eine Studie, die beweise, daß Quarantäne wirksam sei.
Nach wie vor bewegen sich die Zahlen der “Pandemie” rein quantitativ im Rahmen saisonal durchlaufender Erkältungs- bzw. Grippewellen. Nach wie vor ist auch die Übersterblichkeit nicht signifikant. Das Durchschnittsalter der „an oder mit dem Corona-Virus“ (Allein diese Formulierung!) Verstorbenen entspricht in etwa dem Alter der durchschnittlichen Lebenserwartung. Vergleiche der Mortalität von der Malaria bis zum Krankenhauskeim sind oft genug herangezogen worden, auch solche zur sogenannten Spanischen Grippe, die in wenigen Monaten zwischen 27 und 50 Millionen Menschen tötete, während die Maximalziffer der bisher an Covid-19 Verstorbenen bei 1,8 Millionen liegt.
Nein, es gibt nichts zu verharmlosen, aber es wäre endlich an der Zeit, mit dem Virus leben zu lernen, so, wie wir mit anderen Erkrankungen bzw. Infektionsgefahren leben und überhaupt mit täglich allgegenwärtigen Risiken. Wir Rechner haben täglich mit dem Unberechenbaren zu rechnen. Nicht nur philosophieren, so Montaigne, heißt sterben lernen; das Leben selbst hat den Tod im Prospekt. Alle Bemühungen um das Leben führen letztlich dorthin.
Julian Tumasewitsch Baranyan erhebt in einer polemischen Darstellung sechs substantielle Einwände gegen die Lockdown-Politik und leitet mit dem treffenden Vergleich Peter Hitchens ein, die Regierung handele wie jemand, der sein Haus zweimal niederbrennt, um so ein Wespennest zu vernichten.
Unser Leben ist kontingent und dabei nicht rückversichert. Wir erkranken, wir leiden, wir sterben; insbesondere die Psychiatrien sind voll belegt. Vollständige Gesundheit erlangen zu wollen, im Sinne einer Garantie für ein langes und glückliches Leben, ist eine Illusion, die nicht nur vom „neuartigen Corana-Virus“ immer wieder eines Besseren belehrt wird. Eine Politik, die umfassenden Schutz verspricht und dafür Grundrechte einschränkt, ist gefährlich, gerade weil sie den Beifall der Ängstlichen erhält, die von ihr selbst, der Politik, verunsichert sind. Nietzsche hatte recht, als er meinte, nach dem Tod Gottes hätte sich die Gesundheit zu einer Göttin erhoben.
Es geht jetzt um kritische Ermutigung, insbesondere darum, demnächst zu verhindern, daß die gesamte Gesellschaft über Wochen und Monate ins künstliche Koma gelegt wird. Gezielte, dabei aber konsequente Maßnahmen wären angezeigt, orientiert etwa an den Argumentationen Klaus Stöhrs. Den politischen Apparat interessiert das kaum, weil er weiter Gehälter einstreicht und sich zudem das Recht nimmt, alle von den Einschränkungen Frustrierten quasisozialistisch mit immensen Mitteln zu alimentieren – ganz im Sinne eines staatlichen gewährten Schweigegeldes.
Es ist gefährlich, wenn ganze Bereiche der Gesellschaft sich mittlerweile daran gewöhnen, daß ihnen Gelder in immenser Höhe für befohlene Untätigkeit zufließen, etwa dafür, daß Unternehmen und Selbständige stillhalten und nicht einmal unter Einhaltung wirksamer Hygiene-Vorkehrungen arbeiten dürfen.
Die Behauptung der Exekutive „Wir lassen niemanden im Stich!“ ist mit Blick auf das Pronomen verlogen. Wir? Der Staat hat an sich kein Geld; er gibt allzu großzügig und pauschal das von Leistungsträgern erwirtschaftete Steuervermögen aus. Das zeugt weder von Mut noch von Größe, zumal Nachtragshaushalte und Sondervermögen geschaffen wurden, deren Posten nicht durchweg einen Veranlassungszusammenhang mit der sogenannten Pandemie erkennen lassen, sondern Wahlgeschenke bereiten oder nachreichen, was in regulären Haushalten nicht so widerspruchslos unterzubringen war, als es noch eine lebendige Opposition gab. Wenn schwerverdienende Minister und Staatsekretäre jetzt aus ihrem behaglichen Home-Office heraus gegenüber den Geschädigten kämpferische Töne anschlagen, ist das einfach nur jämmerlich.
Man sollte sich offensiv dagegen wehren, als Zyniker bezeichnet zu werden, wenn man dazu ermutigt, mit einem viralen Infekt, der in Intensität und Dauer kompliziert und dramatisch verlaufen kann, ernsthaft, aber nicht hysterisch umzugehen. Es mag gar sein, daß wir mehr und mehr einer selbsterfüllenden Prophezeiung und Fixation folgen. Ja, durchaus weltweit. Und es sollte nicht fortlaufend als „Heldentat“ gelten, einfach nur die Lockdown-Regelungen einzuhalten, also am besten weitestgehend isoliert gar nichts zu tun – in der bloßen Hoffnung, die „Fallzahlen“, auf die sich alles rein mathematisch kapriziert, gingen in der Weise eines Erlösungsgeschehens zurück. Nein, wir werden weiter mit vielerlei Gefahren leben müssen, nicht zuletzt mit Viren, mit diesem wie mit anderen.
Wir bewahren unsere Kultur und Produktionsweise nur, indem wir endlich wieder handeln – besonnen, verantwortungsvoll, im vernünftigen Maße vorbeugend, aber doch mutig und offensiv. So und nur so überstand die Menschheit bisherige Krisen – und eben nicht mit fortlaufender Abschaltung notwendiger existentieller Tätigkeiten und Wertschöpfungen. Raus aus dem Phlegma, sich aufrichten, das Nötige in Bewegung bringen und sich eben nicht an die Permanenz der Corona-Ferien gewöhnen.
Nochmals Byung-Chul Han:
Mit dem Virus wird die „palliative Wohlfühlzone“ aufgestört und gerät in Panik. Die längst verdrängte Präsenz des Todes macht nervös. „Widerstandlos fügen wir uns dem Ausnahmezustand, der das Leben auf das nackte Leben reduziert. Unter viralem Ausnahmezustand sperren wir uns freiwillig in der Quarantäne ein. Die Quarantäne ist eine virale Variante des Lagers, in dem das nackte Leben herrscht. Das neoliberale Arbeitslager in Zeiten der Pandemie heißt ‚Homeoffice‘. (…)
Paradoxerweise äußert sich Nächstenliebe als Abstandhalten. Der Nächste ist ein potentieller Virusträger. Die Virologie entmachtet die Theologie. Alle lauschen den Virologen, die eine absolute Deutungshoheit erlangen. Das Narrativ der Wiederauferstehung weicht komplett der Ideologie der Gesundheit und des Überlebens. (…)
Die von der Hysterie des Überlebens beherrschte Gesellschaft ist eine Gesellschaft der Untoten. Wir sind zu lebendig, um zu sterben und zu tot, um zu leben. In der ausschließlichen Sorge ums Überleben gleichen wir dem Virus, diesem untoten Wesen, das sich nur vermehrt, das heißt überlebt, ohne zu leben.“
Waldgaenger aus Schwaben
Pünktlich jeden Abend kurz nach Beginn der Ausgangssperre breche ich zu meinen nächtlichen Spaziergängen auf, durch menschen- und autoleere Straßen hinaus auf die Freie Flur. Freilich stets in Begleitung meines treuen Gefährten aus der Familie der Canidae. Schon einige Male ist die Staatsgewalt langsam an mir vorbei gefahren, um dann vermutlich tief enttäuscht wieder zu beschleunigen, denn mein bester Freund ist durch und durch schwarz und aus der Ferne nicht zu sehen. Bisher konnte ich stets der Versuchung widerstehen ihnen einen verbotenen Gruß zu entbieten. Einen Gruß unter Beteiligung des Mittelfingers.
Was mich jedesmal erschüttert, ist die Menschen- und Hundeleere. Die Bürger fügen sich nicht nur willig in sinnlose Anordnungen, sie nützen nicht mal die noch verbleibenden kleinen Freiheiten. Ich fürchte, wenn das Corona-Virus mal besiegt ist, wird das Volk nach neuen Viren gieren.
Es bleibt nur die Flucht ins Innere. Bei uns schneit es schon den ganzen Tag, und es wird weiter Schnee fallen. Heute Abend, und darauf freue ich mich schon unbändig, werde ich durch verschneite, einsame Straßen hinaus auf schneebedeckte Felder wandern und dazu Schuberts Winterreise hören. Dieses einmalige Erlebnis verdanke ich nur den Freiheitsbeschränkungen, denen zu entkommen ich ein Schlupfloch habe.