Sowohl im Ersten wie im Zweiten Weltkrieg gab es eine ukrainische Frage, die aus den nicht zu leugnenden Sonderbestrebungen der kleinrussischen Bevölkerung, der Menschen des erst spät russifizierten und eine Zeitlang unter der polnischen Herrschaft stehenden Landes, entstanden ist.« (Maull: Politische Geographie, S. 411 f)
Dieses Nationalbewußtsein wurde von einem Historiker geschaffen. Nicht von ihm allein, sondern in Zusammenarbeit mit einer Vielzahl von Gleichgesinnten, in einer Zeit, in der die Ukraine nicht mehr als eine Möglichkeit war, die von einigen Leuten stark gewollt wurde. Das negative Pendant zur geschichtspolitischen Begründung der Ukraine finden wir heute in der ebenso geschichtspolitisch begründeten Infragestellung ihrer Existenz durch Putin, der nicht müde wird, die Künstlichkeit dieses Gebildes zu betonen.
Zentral für die Wiederentdeckung der ukrainischen Nation war der Historiker Mychajlo Hruschewskyj (1866 – 1934), der in einer umfangreichen Geschichte des ukrainischen Volkes, entgegen der üblichen Auffassung von der Einheit der Ostslawen, die unterschiedliche Entwicklung von Ukrainern (damals Kleinrussen genannt) und Russen betonte.
Befördert wurde seine Auffassung vor allem durch den Ersten Weltkrieg, in dem Ukrainer auf beiden Seiten kämpfen mußten. Die Österreicher sahen recht früh die Möglichkeit, durch die Propaganda einer ukrainischen Nation das Zarenreich zu destabilisieren, zumal sich die Ukrainer unter der habsburgischen Krone kulturell wesentlich besser entfalten konnten als in Rußland.
Schon zu Beginn des Ersten Weltkrieges wurden einzelne Schriften von Mychajlo Hruschewskyj daher auf deutsch publiziert. Eine Zusammenfassung seiner These erschien 1915 in Wien unter dem Signet einer Vereinigung, die sich »Bund zur Befreiung der Ukraine« nannte. (Vgl. Mychajlo Hruschewskyj: Die ukrainische Frage in historischer Entwicklung, Wien 1915)
Der kurze geschichtliche Abriß, den Hruschewskyj darin bietet, geht von den bekannten gemeinsamen Ursprüngen der Russen und der Ukrainer in der Kiewer Rus aus und sieht den Niedergang des ukrainischen Selbstbewußtseins durch die Angliederung der Gebiete erst nach Litauen, dann nach Polen bedingt.
Die höheren Schichten des ukrainischen Volkes unterliegen der Polonisierung, und das ukrainische Nationalleben löst sich langsam auf. (Hruschewskyj: Die ukrainische Frage, S. 17 f)
Die Wiedergeburt erfolgte über das Kosakentum, das sich eine unabhängige Position erarbeiten konnte und als Vertreter ukrainischer Interessen interpretiert wird. Im Aufstand der Kosaken unter Bohdan Chmelnyzkyj im Jahre 1648 gegen die Polen sieht Hruschewskyj die Idee eines ukrainischen Staates in seinen ethnographischen Grenzen auftauchen. Allerdings leisteten die Kosaken 1654 mit dem Vertrag von Perejaslaw den Treueid gegenüber dem Zaren (was 300 Jahre später, anläßlich der Jubelfeier, zur Schenkung der Krim an die Ukraine führen sollte).
Schließlich einigten sich die Polen und die Russen über die Aufteilung der Ukraine 1667 in einem Vertrag, der die ukrainischen Gebiete westlich des Dnjepr, bis auf Kiew und Umgebung, dem polnischen Staat zubilligte, während der Rest bei Rußland blieb. Die Ukrainer unter Hetman Doroschenko verbündeten sich daraufhin mit den Türken, die ihnen versprachen, die ukrainischen ethnographischen Gebiete »bis Przemysl und Sambor, bis an die Ufer der Weichsel und des Niemen, bis Siewsk und Putiwl« zu befreien. (Ebd., 25 f.)
Das scheiterte ebenso wie der halbherzige Versuch, im Schatten der Schweden vom Nordischen Krieg zu profitieren. Die Selbstverwaltung der Ukraine wurde von Katharina der Großen abgeschafft, den Niedergang des ukrainischen Nationalbewußtseins sieht Hruschewskyj aber in der willigen Unterwerfung der Eliten unter die Russifizierung. Die Wiedererweckung erfolgte auch hier durch die Romantik, die das Volksleben entdeckte, und den Nationalismus, der für dieses Volk nach einer politischen Form strebte.
Wie wichtig die ukrainische Propaganda war, zeigt ein Blick in das 1916 erschienene Rußland-Buch von Alfred Hettner, der damals einen Lehrstuhl für Geographie in Heidelberg innehatte. Er betont, daß die Rede von der Ukraine 1916 noch neu sei. Man verwende sie
neuerdings zur Betonung des Unterschieds von Rußland, obgleich Ukraine eigentlich nicht ganz Kleinrußland, sondern das Grenzland bedeutet. (Alfred Hettner: Rußland. Eine geographische Betrachtung von Volk, Staat und Kultur, Berlin 1916, S. 302.)
Hettner schreibt, daß weder die ethnische noch die sprachliche Verschiedenheit entscheidend für die Frage sei, ob es eine ukrainische Nation gebe. Unklar sei auch, wie stark der Freiheits- und Unabhängigkeitswillen unter den Ukrainern ausgeprägt sei, die ja gerade in diesen Bestrebungen stark durch die Russen unterdrückt worden seien. Hinzu kommt:
Die geographischen Verhältnisse sind der Trennung nicht günstig. Die Volksgrenze fällt mit keiner Naturgrenze zusammen, sondern läuft mitten durch die Ebene, und nach Osten hin sind Groß- und Klein-Russen bunt durcheinander gewürfelt, so daß sich überhaupt keine Grenzlinie ziehen läßt und jede staatliche Abgrenzung, wie man sie auch legt, die Volksgebiete zerrisse. (Hettner: Rußland, S. 304)
Wirtschaftlich sieht Hettner die Ukraine nicht auf die Unabhängigkeit vorbereitet, da es keine eigentliche Industrie gebe, sondern sich die Wirtschaft auf den Anbau von Getreide und die Förderung von Kohle und Erz beschränke. Allerdings könne die Ukraine zusammen mit Westeuropa wirtschaftlich bestehen. Skeptisch sieht er die Rolle Rußlands:
Eine gewisse Autonomie, die das ukrainische Volk in Zukunft vor Vergewaltigung schützte und die Pflege seiner Sprache verbürgte, wäre für das russische Reich erträglich; aber ihre volle Unabhängigkeit wäre ein sehr schwerer, kaum zu verwindender Schlag. (Hettner: Rußland, S. 305)
Neben wirtschaftlichen Aspekten waren es bereits damals die geopolitischen Fragen – vor allem der Zugang zum Schwarzen Meer, der mit der Ukraine stand oder fiel –, die über das Schicksal der Ukraine entschieden.
Daß diese Fragen völlig unabhängig von der gerade in Rußland vorzufindenden Herrschaftsform sind, zeigen die Reaktionen auf die Ereignisse, die sich bereits wenige Monate nach der Abdankung des Zaren in der Ukraine vollzogen. Letztendlich machten die Bolschewisten, was Hettner hier noch dem zaristischen Reich zuschreibt. Sie kämpften erbittert um die Ukraine und duldeten keinerlei Abtrünnigkeit. (Vgl. Bogdan Musial: »Die Ukrainepolitik des bolschewistischen Rußland 1917 – 1922«, in: Wolfgang Dornik u. a.: Die Ukraine zwischen Selbstbestimmung und Fremdherrschaft 1917 – 1922, Graz 2011, S. 367 – 389)
Die Staatsgründungen, die zwischen 1918 und 1922 geschaffen wurden, waren nicht lebensfähig, weil sie zusammenbrachen, sobald die jeweilige Schutzmacht, erst die Mittelmächte, dann die polnische, ihnen die Unterstützung gegen Rußland entzog. So funktionierte weder der Plan, mit der Ukraine als Faustpfand die Bolschewisten zum Frieden zu zwingen, noch der, im polnisch-russischen Krieg einen antibolschewistischen ukrainischen Staat zu errichten, den die Polen als Puffer gegen Rußland zu nutzen gedachten.
Der Frieden von Riga, der 1922 zwischen der Sowjetunion und Polen geschlossen wurde, sorgte dafür, daß sich die Ukrainer dennoch in zwei Staaten wiederfanden, da das habsburgische Galizien, die heutige Westukraine, polnisch wurde. Diesen Teil der Ukraine hat Stalin dann 1939 heimgeholt.
Der Blutzoll, den die Ukrainer zahlen mußten, weil sie Ukrainer waren, ist hoch. Ob im Bürgerkrieg, im Holodomor (Vgl. Erik Lehnert: “Anne Applebaum: Roter Hunger. Stalins Krieg gegen die Ukraine” vom 1. August 2019, hier lesen) oder im Zweiten Weltkrieg (Vgl.: “Befreiung 1945? Ein Europalexikon, Eintrag Ukraine” vom 1. August 2020, hier lesen).
Die Rücksichtslosigkeit ist nicht nur mit den fanatisierenden Ideologien oder der slawischen Grausamkeit zu erklären, sondern hat immer auch etwas damit zu tun gehabt, daß die Ukraine das Schicksal hat, für eine Großmacht ein Schlüsselraum zu sein, in den man alles investiert, weil es um das eigene Überleben geht.
Insofern ist die Mißachtung der geopolitischen und historischen Konstellation in den letzten Jahrzehnten vielleicht doch fahrlässig zu nennen. Überrascht hätte jedenfalls niemand sein müssen. Um den bösen Geist des Krieges wieder in die Flasche zu bekommen, ist ein Blick auf die Voraussetzungen des Konflikts ebenso sinnvoll, wie eine daraus abzuleitende Flexibilität der Entscheidungen notwendig ist, um in einer solchen Konstellation miteinander in Frieden zu leben.
Der amerikanische Politikwissenschaftler John J. Mearsheimer drückte das Ende Januar diesen Jahres in einem Interview so aus:
Wenn du neben einer Großmacht wohnst, egal ob neben den USA, Rußland oder China, kannst du nicht einfach alles tun, was dir außenpolitisch in den Sinn kommt. Sondern du mußt berücksichtigen, welche Bedenken dein Nachbar hat – und zwar zu deiner eigenen Sicherheit. Wenn du einen Gorilla ärgerst, wird er dir schreckliche Sachen antun, so einfach ist das. Das Ergebnis der Annäherungsversuche ist, daß die Ukraine die Krim verloren hat und in einen Krieg mit Rußland verwickelt ist.
Laurenz
@EL
Genau das, was Sie schreiben, findet man so im Netz, wenn man über die Ukraine im historischen Zusammenhang nachliest, auch wenn die jeweiligen Autoren nicht so im Fokus stehen.
Wenn früher beim Lesen über den II. Weltkrieg die Frage (in einem gewissen Unverständnis) aufkam, warum denn die Deutschen nicht Mio. von Ukrainern bewaffnet hätten, um den Krieg zu ihren Gunsten zu entscheiden, wurden einerseits die Maßnahmen Erich Kochs benannt (Schließung ukrainischer Unis, schlechte Versorgung), der erst 1986 im polnischen Knast verstarb, und andererseits die geringe Verläßlichkeit ukrainischer Verhandlungspartner, die sich grundsätzlich uneins waren.
Die Ukraine hat es, das ist der Fakt, nicht geschafft, ein Staat für alle ihre Bürger zu werden. Minderheiten, ob nun russisch, tatarisch oder ungarisch, wurden nach sowjetischer Manier bis zum heutigen Tag mehr oder weniger unterdrückt.
Als ich 2003 das erste Mal auf der Krim war, lernte ich 2 Freundinnen, eine Ukrainerin & eine Russin, auf Urlaub kennen, ein Herz & eine Seele. Beide konnten beide Sprachen sprechen (wird wohl auch nicht so die Kunst sein). Für mich als Nemez gab sich das nichts.