„Katechon“ – so heißt auch der Think Tank des berühmt-berüchtigten russischen Professors und Philosophen Alexander Dugin. Seit Carl Schmitt den Begriff aus dem zweiten Thessalonicherbrief des Apostels Paulus in sein politisches Denken einfügte und popularisierte, spukt er als Schlagwort und Konzept immer wieder durch das rechte Denken.
Berühmt ist Schmitts Aussage, wonach für einen ursprünglich christlichen Glauben ein anderes Geschichtsbild als das des “Katechons“ kaum möglich sei. Der Begriff ist relativ leicht zu erklären, wird aber in seiner Anwendung auf die Wirklichkeit geheimnisvoll und faszinierend.
Paulus spricht in seinem Brief von einer nicht näher benannten Kraft, welche die gleichermaßen ersehnte und befürchtete Apokalypse und den großen Widersacher „aufhalten“ würde. Über Irenäus, Hippolyt, Melito und Tertullian erlebte der Begriff einen wechselnden Bedeutungswandel. In der Interpretation des Katechons als “Aufhalter”spiegelt sich das spannungsreiche Verhältnis der Christen zum römischen Kaisertum wider.
Wenn die Apokalypse des Johannes einen Extrempol darstellt, in welchem der Staat und Rom als „Hure Babylon“ aufscheinen, so erleben wir bei Tertullian und Augustinus eine andere Sicht Roms. Das Reich wird zum positiv verstandenen Katechon, das – durch das christliche Gebet am Leben erhalten – selbst den Sieg des Bösen aufhält.
Dies kann aber nur eine Stundung sein, da nach christlichem Zeitverständnis dieser temporäre Sieg notwendig für die Wiederkunft Christi und das Reich Gottes ist. Dennoch ergibt sich daraus ein positives christliches, irdisches Staatsverständnis. Möglicherweise können erst mit dem Katechon römisches Kaisertum, germanisches Königtum und christliche Religion verschmelzen.
Im Mittelalter wird über die „translatio imperii“ auch die Rolle des “Aufhalters” vom römischen Kaisertum auf das Heilige Römische Reich übertragen. Wie man schon am Titel erkennt, ist der eigentliche Katechon hier jedoch die römisch-katholische Kirche, deren Bewahrung Aufgabe des Kaisers und des Reiches ist.
Carl Schmitt schreibt dazu:
Der Glaube, daß ein Aufhalter das Ende der Welt zurückhält, schlägt die einzige Brücke, die von der eschatologischen Lähmung alles menschlichen Geschehens zu einer so großartigen Geschichtsmächtigkeit wie der des christlichen Kaisertums der germanischen Könige führt.
Auch in heidnischen Religionen gab es vergleichbare Vorstellungen. Die Azteken glaubten, daß sie mit ihren Opfern die Sonne am Leben hielten. Die Römer achteten peinlich genau auf den „pax deorum“, und auch das Chinesische Reich sah seine Aufgabe in der Wahrung einer kosmischen Harmonie.
Doch Schmitt erkennt klar die Einzigartigkeit, die der Katechon-Begriff in der konkret historischen Religion erfährt.
Ebenso wie das Böse ein konkreter geschichtlicher Akteur wird, kann der Katechon eine benennbare historische Gestalt sein, die „den Bestand des Äons erklären und ihn gegen die überwältigende Macht des Bösen erhalten“ kann. Schmitt war als gläubiger Katholik davon überzeugt, daß es einen Katechon gab und geben mußte, da sonst schon längst die Apokalypse und das (temporäre) Reich des Bösen hätten hereingebrochen sein müssen. Er selbst nannte exemplarisch auch einige Namen – Rudolf II., die Jesuiten, Savigny, Hegel und das Byzantinische Reich, die als personale und politische, lokale und Katechonten gewirkt hätten.
Während des Zweiten Weltkriegs sieht Schmitt in einer multipolaren Großraumordnung das Katechontische Projekt, das dem liberalen Universalismus einer „nihilistischen Zentralisierung“ widersteht. Wie verhält sich das zum religiösen Universalismus der Kirche, die per definitionem „katholos“, also weltumspannend ist? In seinem Tagebuch notiert Schmitt:
Der Katechon ist daran zu erkennen, daß er diese Welteinheit nicht erstrebt, sondern die Kaiserkrone niederlegt.
Das mittelalterliche Kaisertum war ein „anarchisches Chaos“, das nach Schmitt im Gegensatz zu den
unifizierenden und zentralisierenden Ideen, die seit der Renaissance, Reformation und Gegenreformation mit der Vorstellung einer Einheit verbunden sind
steht. Stattdessen war die
mittelalterliche, west- und mitteleuropäische Einheit von Imperium und Sacerdotium (…) niemals eine zentralisierte Machtanhäufung in der Hand eines Menschen.
Nach Schmitt gibt es demnach eine radikale, qualitative Grenze zwischen dem religiösen und dem ideologischen Universalismus, während Denker wie Alain de Benoist hier eine direkte geistige Entwicklungslinie sehen.
Der konservative Katholik Schmitt muß, anders als die moderne Amtskirche, gegen den Menschheitsfortschritt und den universal-humanistischen Weltstaat kämpfen, ja in ihm das Werk des Satans und Antichristen erkennen, weil Verkündung und Errichtung des Paradieses Gott vorbehalten ist.
Schmitts nationaler Machiavellismus, seine Verehrung für Hobbes und seine Feier des politischen Pluralismus ist insofern mit seinem Glauben an eine universale Wahrheit und Offenbarung vereinbar.
Was sein Denken von einem bloßen Ethnopluralismus paganistischer Prägung unterscheidet, ist der Glaube an ein die ganze Welt betreffendes historisches Verhängnis, in dem es eine konkrete, an Bedeutung und Rang einzigartige Rolle des „Auserwählten“ gibt. Dieser ist aber nicht das historische Subjekt einer Fortschrittsgeschichte und Aufklärung, sondern er ist als Katechon der Bewahrer von politischer Differenz, Spannung und Vielfalt.
Das, wonach sich die Romantiker sehnten – das Geheimnisvolle, das Unerforschte und Unerschlossene – sieht Schmitt letztlich nur in der Politik (und im Krieg) gewahrt, weswegen er die Auflösung aller Differenzen in einen globalen Markt scharf bekämpft.
Der Katechon ist dabei kein rein passiver Bewahrer. Die Germanen erstürmten zwar das morsche Imperium Romanum, doch nur um es mit ihrer jugendlichen Kraft zu beleben und weiterzuführen.
Hans Freyer schreibt dazu:
Gibt es einen höheren Grad von haltender Macht, als daß gerade im Zusammensturz die neue Stufe des Alten befreit wird, daß die Hand, die zerbricht, mit demselben Griff bewahrend zurückgreift und der Wille, der vorwärts drängt, wie mit tausend lebendigen Wurzeln das ganze Erbe aufsaugt?
(Hans Freyer, Weltgeschichte Europas)
Das entspricht Schmitts Verständnis vom Katechon, der – gerade in seiner konservativen Rolle – revolutionär auftreten kann (und muß).
Der Katechon ist damit eine historische Sinngebung, die universale Bedeutung entfaltet, modernistische Mobilisierung ermöglicht, aber eine konkret anti-universalistische und anti-moderne Zielsetzung hat.
Er unterscheidet sich in seiner christlich-imperialen Tradition aber eindeutig von einem bloßen ethnozentrischen Vitalismus, der als einzige historische Aufgabe das nackte Überleben und die maximale Machtsteigerung zu dessen Sicherung betrachtet.Die Spannung zwischen diesen beiden Geschichtsbildern zieht sich seit der Entstehung des „rechten Lagers“ durch dessen geistiges Gelände.
Die Einordnung der konkreten historischen Erscheinungen und Ideen in ein vitalistisch-nietzscheanisches Geschichtsverständnis einerseits und eine universal-teleologische Geschichtsauffassung andererseits, wäre eine lohnende Forschungsaufgabe. In der universal-teleologischen Interpretation hat das Volk eine große historische Aufgabe vor dem Hintergrund einer kosmischen und seinsgeschichtlichen Welterfahrung.
Es lebt für seinen Glauben, seine Ideale und seinen Sinn. Im entgegengesetzten Geschichtsbild ist die einzig wahre Aufgabe des Volkes die Sicherung seines biologischen Überleben durch Wachstum und Rationalisierung. Glauben und Ideale dienen dem Sinn des nackten Überlebens. Sie sind damit „notwendige Lügen“ (Nietzsche), deren Wert sich von der Steigerung der nationalen Leistungsfähigkeit ableitet.
Paradoxerweise hatten die faschistischen Bewegungen, die im wesentlichen dem ersteren Bereich zuzuordnen sind, gerade dort den größten propagandistischen Erfolg, wo sie universal-teleologische Mythen über die „Vorsehung“, das „Reich“ und das „ewige Rom“ evozierten.
Interessanterweise bewirkte die Corona-Pandemie im rechten Lager eine Verschiebung hin zur universal-teleologischen Geschichtsauffassung.
Dies hat zwei offensichtliche Gründe. Erstens zeigt die Vision des „Great Reset“, die aufgrund moderner technologischer Möglichkeiten so real scheint wie nie zuvor, in aller Deutlichkeit den Verhängniszusammenhang zwischen Fortschritt, Technik und Kapitalismus. Viele Rechte erkannten gerade an der Coronapolitik Ungarns und Russlands sowie am Social-Credit-System Chinas, daß auch ein ethnischer Nationalismus als Triebfeder für einen „Fortschritt ins Grauen“ dienen kann.
Das Dilemma von Technologie und Wissenschaft, ihr universalistisches Wesen, das auch national kaum gebändigt werden kann, wurde am Beispiel der globalen Biopolitik vielen Rechten deutlich. Dies schuf ein Bewußtsein für eine „universale historische Bedrohung“ aller Menschen in der universalistischen Technosphäre.
Zweitens zeigt sich am Teufelskreis der Technik immer deutlicher, daß den Gegnern des Great Reset, des Weltstaats und des Gestells, politisch kaum eine andere Rolle als die des Bremsers, „Aufhalters“ und Bewahrers zukommen kann. Jede Flucht nach vorn in Ideen wie die einer “stellar-faschistischen Marskolonisierung” oder eines „rechten Transhumanismus“, der in Guillaume Fayes “Archäofuturismus” anvisiert wurden, erscheint immer absurder und widersinniger. Je weiter die Technik voranschreitet und zur manipulativen Biotechnologie wird, desto weniger ist das Bündnis zwischen Nation und Fortschritt, das meiner Ansicht nach letztlich auf Hegel zurückgeht, denkbar.
Aus diesen beiden Erkenntnisschocks gewinnt die Frage nach dem Katechon womöglich eine neue Bedeutung.
Politische Konkurrenten der USA und ihres liberal-universalistischen Exzeptionalismus arbeiten bereits eifrig an einem alternativen Nomos, vom Chinesischen TianXia-Konzept bis zu Rußland als Drittem Rom. Auch in Westeuropa müsste es, folgt man diesem Geschichtsbild, möglich sein, „katechontische Kräfte“ zu benennen, die gleichzeitig „bewahrend zurückgreifen“ und „vorwärts drängen“. Eine kritische Analyse des Rechtspopulismus und des Liberalkonservativismus in dieser Hinsicht wäre interessant. Ob das rechte Projekt, das nun den Begriff des Katechons für sich monopolisiert hat, dessen Bedeutung auch gerecht wird, mag der Leser für sich entscheiden.
Niekisch
"Ebenso wie das Böse ein konkreter geschichtlicher Akteur wird, kann der Katechon eine benennbare historische Gestalt sein, die „den Bestand des Äons erklären und ihn gegen die überwältigende Macht des Bösen erhalten“ kann."
Setzt nicht die Suche nach Katechon, Katechont oder Katechontin den Mut und die Gelegenheit voraus, den Gegenpart, das "Böse", ganz genau definiert zu benennen? Ist diese Möglichkeit nicht gerade für uns Heutige von todblitzenden Bajonetten umstellt? Und stellt sich für den Fall, dass die Suche gelingt, nicht ein weiteres Problem? Ist das "Böse" nicht vielleicht gerade in Demjenigen personifiziert, das das hiesige Lagerselber fordert: Religiosität, Ethnizität, Identität?
Haben nicht Katechonten der Vergangenheit besonders in ihrem Widerpart das hochgepriesene Eigene bekämpft und sind dadurch in den Hades gestürzt?