Glaubt man wirklich, ein echter Wandel, der dringlich notwendig wäre, ließe sich über demokratische Verfahren vollziehen, über ein – wie Götz Kubitschek es nennt – „Proporzsystem“ mit seinen „Bestätigungszirkeln und Absicherungskreisläufen“, seinen „Simulationen und Auffächerungstricks“?
Manche AfD-Aufstreber erträumten sich im Umfragehoch bereits Minister- und Präsidialposten und sannen darüber nach, welchen treuen Adlatus sie demnächst als Staatssekretär in ihr Vorzimmer setzen würden. Sind sie wirklich der Auffassung, sie könnten ein eingefahrenes und zugunsten der Altparteien florierendes System mal eben so in eine andere Richtung laufen lassen als in die politiktechnisch bisher so eingerichtete?
In der weiträumigeren Nähe gibt es allein ein Erfolgsmodell des Umwertens demokratischer Werte, aber dieses Modell brauchte Charisma – die Erdogan-Türkei. Man mag vom türkischen Präsidenten halten, was man will, aber er verkörpert einen Machtpolitiker schmittianischen Zuschnitts. Viktor Orbán hält die Regeln ja ein, er nutzt nur konsequent deren Spielräume, und er hat, im Gegensatz zur AfD, eine echte Mehrheit hinter sich.
Gibt es dergleichen hier? Umkehrrichtung über einen rechten Marsch durch die Institutionen? Mit welchen Kräften überhaupt? Die Achtundsechziger hatten immerhin die Jugend an ihrer Seite. Es war ihnen gelungen, ein kulturelles, sogar alltagskulturell zugkräftiges Gegenangebot zu etablieren, das – wohl oder übel – auf Akzeptanz und Begeisterung stieß. In den Siebzigern wurde das alte Westdeutschland völlig umgewälzt.
Letztlich mit dem Ergebnis, daß vor Deutschland heute – anders als selbst in schlechteren Zeiten – keine sich öffnende Zukunft mehr liegt, sondern eine sich schließende. Erstmalig seit den Nachkriegsjahren liegt das Schlimme und Schlimmste, ahnen wir, nicht mehr hinter, sondern erst vor uns.
Keine Frage, es läuft hierzulande falsch, es läuft gegen das Deutschland, das wir bewahren wollen. Der gesellschaftliche Zusammenhalt ist zwar auseinandergebrochen, aber selbst das Desaster vollzieht sich, zieht man die AfD-Anhängerschaft ab, in einem Mehrheitskonsens. Letztlich eine ideologisch angetriebene demokratische Verranntheit.
Die Rechte, nach wie vor nicht zahlreich und überdies fragmentiert, ist so verfemt wie interessant, sie stellt das einzige oppositionelle Korrektiv dar – aber gleichzeitig auch ein Gegengewicht, über das eine politische und kulturelle Emanzipation vorstellbar wäre, wie sie vor fünfzig Jahren der Linken gelang?
Würde die AfD, die sich auf penetrante Weise zur Demokratie meint bekennen zu müssen und die sich darüber hinaus als basisdemokratische Partei versteht, würde diese AfD vom System nicht eher einverdaut und eingeschlossen, wenn sie hier und da an dessen Machthebel träte. Verschlisse sie sich dort nicht eher, als zum Hegemon zu avancieren?
Es ist illusionär bis romantisch zu meinen, als demokratisch legitimierter Machthaber die Probleme konsequent und schnell so regeln zu können, wie es – Höchste Zeit! – notwendig wäre.
Was genau hat etwa die in Österreich weitgehend akzeptierte und bereits erprobte FPÖ substantiell verändern können? Sieht’s wieder österreichischer aus in Wien? Was hat Ministerpräsidentin Meloni in Italien tatsächlich tiefenbewegt?
Jede markante und charismatische Kraft wird in der Demokratie abgeschliffen und neutralisiert, mal dahingestellt, ob die AfD in ihrer Breite überhaupt als erfrischende Kraft gelten kann. Solange nach demokratischen Regeln gespielt wird, sind diese Regeln wichtiger als jene, die sie befolgen und sie – wie die AfD beständig betont – ausdrücklich befolgen wollen.
Als konsequent demokratische Partei wird die AfD Deutschland kaum verändern können, als Partei anderer Art würde sie verboten und könnte nur außerparlamentarisch wirken. Dennoch: Gute Demokraten gibt es schon genug; vermutlich bräuchte es mehr böse, die bereit wären, nun ja, wenigstens antizyklisch zu handeln.
Wer prinzipiellere Veränderungen wollte, der bräuchte dafür eine prinzipiell andere Kraft, dem Wortsinne nach eine „Partei neuen Typs“, wie Lenin das formulierte. Nicht mal das Parteiengesetz ließe dies zu. Und würde sich eine solche Partei bilden, fehlte ihr zum einen die Basis, zum anderen stürzten sich die gesamten Abwehrkräfte des Staatswesens auf sie. Die irren Allergieschübe des Systems sind ja bereits gegenüber der völlig regelkonformen AfD enorm.
Das derzeitige System Bundesrepublik ist zwar pro forma grundsätzlich noch jenes der Nachkriegszeit, aber eben nur pro forma. Was einst grundvereinbart war, ist inhaltlich längst mit ganz anderen Vorzeichen versehen.
Die alten Granden der Nachkriegsrepublik würden ihren Staat nicht wiedererkennen, weil längst ganz anderen Kräften die Herrschaft über die Begriffe und deren Interpretation zufiel. Man prüfe das einfach am Wandel des Volksbegriffs und seinem Zusammenhang mit dem Staatsbürgerschaftsrecht. Man könnte die Umwertungen einstiger Werte ebenso schulgeschichtlich nachvollziehen.
Was nicht links oder woke erscheint, gilt gegenwärtig politneurotisch sogleich als nationalistisch, völkisch, rassistisch, faschistisch; und was moderat rechts ist, wird durchweg als rechtsextrem diffamiert.
Außerdem muß, anders als früher, von einem extremen „deep state“ in dem Sinne die Rede sein, als es den linksdrehenden Hegemonialkräften auf beeindruckende Weise gelang, ihren Staat mit einem dichten Netz sogenannter „zivilgesellschaftlicher“ Organisationen und Vereine zu durchwirken, die sich linken und woken Zielstellungen verpflichtet sehen und die dafür vom Staat alimentiert werden.
Das „Demokratiefördergesetz“ will genau das perpetuieren, und vor dem Hintergrund der staatsgetragenen Anti-Rechts-Hysterie wird das so geschehen, weil CDU und FDP selbst in ihren bürgerlichen Restbeständen ideologisch in die „demokratische“ Pflicht gezwungen werden. Gleichfalls sind die meisten Medien den politischen Staatszielen gleichgeschaltet.
Überhaupt kann der aufgeblähte Apparat all der föderalen Exekutiven und Legislativen, ja insgesamt der ausufernde öffentliche Dienst mit seinen komfortablen Einkünften und zahllosen Boni als systemkonform gelten. All die behäbigen Nutznießer und Anpasser verstehen sich als „eher links“ und drehen sich schon deswegen politisch nicht einfach um, weil sie die Kredite für ihren Hedonismus weiter stabil bedienen wollen. Zum Kern dieser so servilen wie solventen Systemträger gehört übrigens die gesamte Lehrerschaft. Sie hat bereits drei Generationen verbildet.
Und das alles soll über einen moderaten Wandel, über Abstimmungen und Majoritätsbeschlüsse, über Parlaments- und Ausschussarbeit und über ruhige juristische Verfahren urfriedlich-bürokratisch verändert werden können, wenn hier und da die AfD zu ein paar Wahlerfolgen kommen mag oder gar – „Skandal!“ – in irgendeine der Provinzregierungen einträte?
Ist Sonneberg schon eine andere Stadt? Läufts in Raguhn-Jeßnitz rechts herum? Trauert Nordhausen spürbar um vergebene Chancen?
Überhaupt signifikant, daß „Demokratie“ – völlig sakrosankt – nicht mal ansatzweise in Frage gestellt wird bzw. werden darf. Sie gilt den meisten als eine Art friedfertiger Diskussionszirkel der „Anständigen“. Sie ist aber vor allem eines: Herrschaft.
Aber mit Blick auf eine weitere Veränderung der Wahlergebnisse zugunsten der AfD: Welche wichtige Frage der Zeit ließe sich überhaupt demokratisch lösen, insbesondere wenn diese Lösung Komfortverluste für große Gruppen nach sich zöge?
Und wer kann dabei entscheiden, was richtig oder mindestens gut ist. Der „demokratische Prozeß?“ – Die alte Grundfrage bleibt: Weshalb sollten Mehrheiten, nur weil es sich um Mehrheiten handelt, gute und richtige Entscheidungen treffen? Demokratie bleibt einfach Politik gewordener Utilitarismus.
Mit Demokratenbräsigkeit wird sich das, was dringlich zu ändern wäre, kaum ändern. Abgesehen davon, daß die Farbe der einzigen echten Oppositionspartei eher rentnerbeige als jugendblau ist. Wofür die AfD selbst nichts kann. Daß wir in einer geriatrischen Republik leben, ist von demografischen Verläufen bestimmt, die ihre Ursache in einer Vergangenheit haben, deren Fehler im Nachhinein nicht mehr zu korrigieren sind, ebensowenig wie der Quasi-Sozialismus von gegenleistungsfreier Migranten‑, Ukrainer- und Bürgergeldalimentierung.
Daß es Deutschland an einer Jugend fehlt, die selbst der Zahl, vor allem aber der Entschlußkraft nach kraftvoll ist, könnte das Hauptproblem sein. Für sich genommen hat die migrantische Jugend allerdings beides – hohe Zahlen- und vitalere Entschlußkraft. Und das sieht man ihr sogar an. Sie ist präsent, sie ist fit. Gehört ihr die Zukunft? In einem dann völlig veränderten „Deutschland“?
Mag sein. Die deutsche Jugend läuft eher bei „Fridays for Future“ und bei der „Letzten Generation“ mit oder versammelt sich unter Regenbogen-Fahnen, als sich der „Jungen Alternative“ anzuschließen.
Zu perspektivlos aufgefaßt? Nein, es gehört Mut zu kritischem Realismus. Selbst skeptische Geduld ist politisch gesünder als eine Hoffnungsbesoffenheit, die meint, man könne ein System umbauen, das sich der Zustimmung einer Hochzahl jener sicher sein kann, die davon massiv und breit profitieren – selbst zu Lasten des eigenen Landes und seiner Geschicke.
Als die Linke noch revolutionär sein mußte, hat sie jedenfalls keinen Hehl aus ihrem revolutionären Programm gemacht. Jetzt, längst an der Macht und übersatt an Staatsvermögen, beschreibt sie sich als „demokratisch“. Man ist nicht verpflichtet, es ihr darin gleichzutun.
Maiordomus
Hier ist vieles richtig gesehen und gesagt, aber kaum etwas zu praktischen Vorschlägen angedeutet. was eine Opposition, die, wenn auch mit Verleumdungen, einigermassen ernst genommen wird und nicht völlig kraftlos scheint, im Rahmen des demokratischen Systems nichtsdestotrotz vernünftig anstellen könnte. Ganz unmöglich müsste dies zum Beispiel bei der Möglichkeit eines Wahlsieges in diesem oder jenem Bundesland nicht sein. Bei Bosselmann wäre zum Beispiel schons seine Anstellung als Gymnasiallehrer, oder ähnlich Denkender, schon eine gewaltige Veränderung, oder etwa nicht? Eher schwieriger oder noch schwieriger würde es indes wohl für Herrn Wawerka, in einer öffentlichrechtlich anerkannten Kirche zum Beispiel wieder als Pfarrer oder wenigstens Hilfspfarrer angestellt zu werden. Auch müsste es ändern, wäre das nicht machbar?. dass bekennende Oppositionswähler zum Beispiel als Polizisten, sogar als lokale Polizeichefs, angestellt werden dürften, so wie Mitglieder aller anderen Parteien.