Das Manifest der Vielen

Ich habe eine peinliche Entdeckung gemacht: tief drinnen bin ich ein eingefleischter Liberaler.

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

Dem Libe­ra­lis­mus liegt näm­lich nach Carl Schmitt der Glau­be dar­an zugrun­de, daß es mög­lich sei “den Geg­ner mit­tels ratio­na­ler Argu­men­ta­ti­on von der Wahr­heit eines Argu­ments zu über­zeu­gen.” (So zusam­men­ge­faßt im eben in der Edi­ti­on Antai­os erschie­nen “Hand­buch der Schlüsselwerke”.)

Wie­so sich die­se drol­li­ge, fixe Idee so hart­nä­ckig in mei­nem Inne­ren hält, ist mir sel­ber ein Rät­sel, denn gleich­zei­tig sagt mir mein Ver­stand, daß es dabei um eine höchst irra­tio­na­le Vor­stel­lung han­delt. Die­se Erkennt­nis habe ich ins­be­son­de­re im Umgang mit Libe­ra­len und libe­ra­ler Argu­men­ta­ti­on gewon­nen (eine durch­aus typi­sche Erfah­rung).  Die­ser läuft regel­mä­ßig auf ein Schlag­wor­te-Wrest­ling und ein ermü­den­des “Ich-seh-etwas-was-Du-nicht-siehst”-Spiel­chen hin­aus. Spä­tes­tens an die­sem Punkt, wo über das ver­han­delt wird, was Hei­mi­to von Dode­rer “App­er­ze­pi­ons­ver­wei­ge­rung” nann­te, erüb­rigt sich jeg­li­che Diskussion.

Das mag im Prin­zip bei jedem fun­da­men­ta­len Dis­sens der Fall sein, was die Aus­ein­an­der­set­zung mit den Libe­ra­len so beson­ders wid­rig und ärger­lich macht, ist deren ver­blüf­fen­de Fähig­keit, die eige­nen Wider­sprü­che nicht wahr­zu­neh­men und sich via selbst­re­fe­ren­ti­el­ler Rhe­to­rik her­me­tisch gegen ihre Erkennt­nis abzu­schot­ten. Die Lek­tü­re libe­ra­ler Tex­te führt oft zu einem puren “Brain­fuck”: es ist, als müß­te man den Gedan­ken­gän­gen eines Schi­zo­phre­nen nach­fol­gen. Oder in eine Welt hin­ab­tau­chen, in der oben und unten, schwarz und weiß ver­tauscht wur­den. Oder die Tira­den eines Irren über sich erge­hen, der offen­kun­dig ande­ren genau das vor­wirft, was er sel­ber tut.

Das alles ging mir erneut durch den Kopf, als ich in dem frisch im Blu­men­bar-Ver­lag erschie­nen Anti-Sar­ra­zin-Antho­lo­gie “Mani­fest der Vie­len – Deutsch­land erfin­det sich neu” , her­aus­ge­ge­ben von der Dop­pelpaß-Besit­ze­rin Hil­al Sez­gin, blät­ter­te. Das “Vie­le” im Titel ist dabei irre­füh­rend, denn nach “Viel­falt”, Abwei­chun­gen und Über­ra­schun­gen wird man dar­in ver­geb­lich suchen. Im wesent­li­chen han­delt es sich bei den drei­ßig Autoren um links­li­be­ral argu­men­tie­ren­de, die Assi­mi­la­ti­on und “deut­sche Leit­kul­tur” ableh­nen­de Deutsch­tür­ken und ‑ori­en­ta­len , die von Bei­trag zu Bei­trag diessel­be ermü­den­de Melo­die spie­len. Als sach­li­che Aus­ein­an­der­set­zung ist es fast völ­lig wert­los, eine rei­ne Pro­pa­gan­da-Num­mer; den­noch ist die Lek­tü­re äußerst aufschlußreich.

Die Teil­neh­mer die­ser in Wirk­lich­keit rela­tiv homo­gen zusam­men­ge­setz­ten Ein­heits­front wer­den im Geleit­wort von Chris­toph Peters lus­ti­ger­wei­se “mus­li­mi­sche Intel­lek­tu­el­le der unter­schied­lichs­ten eth­ni­schen Her­kunft und kon­fes­sio­nel­len Posi­tio­nie­rung” genannt. Das Mani­fest zei­ge “ein­drucks­voll”, wie “viel­ge­stal­tig, geist­reich, auf­ge­klärt, zeit­ge­nös­sisch, zukunfts­träch­tig, ana­ly­tisch, gesell­schafts­kon­form und gesell­schafts­kri­tisch mus­li­mi­sche Posi­tio­nen in Deutsch­land heu­te sind”, wovon allen­falls “zukunfts­träch­tig”, “zeit­ge­nös­sisch” und “gesell­schafts­kon­form” zutrifft.

Für den Ver­fas­ser des “Geleitwortes“soll das Buch “all die kennt­nis­rei­chen, dif­fe­ren­zier­ten und reflek­tier­ten Mus­li­me, die es in die­sem Land in gro­ßer Zahl gibt” zu Wort kom­men las­sen, um einen “wirk­li­chen Dia­log zwi­schen den ver­schie­de­nen Auf­fas­sun­gen dar­über zu begin­nen, was die Stel­lung des Men­schen in der Welt ist und wel­che Schlüs­se für die Gesell­schaft und das indi­vi­du­el­le ethi­sche Ver­hal­ten dar­aus zu zie­hen sind (…).” Und das, “statt” Leu­te wie eine unge­nann­te, “von der isla­mi­schen Geis­tes­ge­schich­te unbe­leck­te tür­kisch­stäm­mi­ge Sozio­lo­gin” durch “die deut­schen Talk­shows” zu jagen.

Peters selbst gehört jenem kurio­sen, immer öfter auf­tau­chen­den Patrick-Bah­ners-Typus des libe­ra­len Intel­lek­tu­el­len an, der sich auf bizar­re Wei­se in den Islam ver­schos­sen hat. Peters beklagt, daß “natio­na­le Iden­ti­tät und deut­sche Leit­kul­tur aus dem Kar­tof­fel­sack gezau­bert wer­den”, wäh­rend ver­ges­sen wer­de, daß der Islam für die geis­ti­ge Ent­wick­lung Euro­pas “wäh­rend der letz­ten zwölf­hun­dert Jah­re in nahe­zu allen Berei­chen, von den Natur­wis­sen­schaf­ten bis hin zur Bau­kunst, immense Bedeu­tung gehabt hat.” Die Rede vom “jüdisch-christ­li­chen Abend­land” hält er für heuch­le­risch, denn Tho­ra, Bibel und scho­las­ti­sche Theo­lo­gie ken­nen kei­ne “Tren­nung von Kir­che und Staat, Tole­ranz gegen­über Anders­gläu­bi­gen und Frau­en­eman­zi­pa­ti­on.” (Wie Peters die Wert­schät­zung die­ser Din­ge mit sei­ner glü­hen­den Islam-Lie­be in Ein­klang bringt, bleibt sein Geheimnis.)

Die strah­len­de Über­le­gen­heit der isla­mi­schen Kul­tur über das “christ­li­che Abend­land”, “zu des­sen Dok­trin jahr­zehn­te­lang der Anti­se­mi­tis­mus gehört hat­te”, hät­ten indes­sen schon Les­sing, Wie­land und Goe­the erkannt.  Was heu­te in Deutsch­land nach Sar­ra­zin gesche­he, sei nichts wei­ter als ein Wie­der­gän­ger der Zeit vor 1945, als Deutsch­land von “Chau­vi­nis­mus, Ras­sis­mus und stump­fer Pro­pa­gan­da­hö­rig­keit” beherrscht wur­de. Das alt­be­kann­te Sym­ptom­bild eben: deut­scher Selbst­haß, NS-Neu­ro­se, nach­ge­hol­te Wider­stands­ges­ten, und eine über­trie­be­ne Glo­ri­fi­zie­rung und Idea­li­sie­rung des Frem­den bei gleich­zei­ti­ger Abwer­tung des Eigenen.

Unter den Ver­fas­sern des “Mani­fests” fin­den sich fast sämt­li­che Unter­zeich­ner des berüch­tig­ten “Offe­nen Brie­fes deut­scher Mus­li­me und Mus­li­mi­nen an den Bun­des­prä­si­den­ten Chris­ti­an Wulff“vom letz­ten Sep­tem­ber.  Es han­delt sich bezeich­nen­der­wei­se vor allem um eher lin­ke und säku­la­ri­sier­te Vor­zei­ge­inte­grier­te aus Medi­en, Poli­tik und dem aka­de­mi­schen Bereich, die nun plötz­lich ihre “mus­li­mi­sche” Iden­ti­tät ent­deckt zu haben scheinen.

Es dau­er­te bekannt­lich nicht lan­ge, bis Wulff auf die­se Schmei­che­lei reagier­te und in sei­ner Rede zum Tag der deut­schen Ein­heit den Islam als “Teil Deutsch­lands” begrüß­te.  Ich habe die­sen auf­schluß­rei­chen Brief hier ana­ly­siert. Der Geist ist der­sel­be, der aus dem “Mani­fest der Vie­len” spricht. Dar­in wird Wulff auch von einer Feresh­ta Ludin mit den Wor­ten “Thank you, Mr. Pre­si­dent!” gedankt, als wäre er ein deut­scher Oba­ma. “Zwan­zig Jah­re habe ich auf die­sen Satz gewar­tet… Sie haben mit Ihrer Rede ein neu­es Kapi­tel des Zusam­men­le­bens in Deutsch­land aufgeschlagen.”

Der Ver­lag stellt sein Buch so vor:

Um sich nicht abzu­schaf­fen, muss Deutsch­land sich neu erfin­den. Drei­ßig pro­fi­lier­te Autorin­nen und Autoren schrei­ben über ihr Leben in Deutsch­land, über Hei­mat und Iden­ti­tät, über ihr Mus­lim- oder Nicht Mus­lim-Sein anläss­lich der Sar­ra­zin-Debat­te. Begrif­fe wie Migrant, Mos­lem, Deut­scher, Frem­der lösen sich dabei immer mehr auf, in den Vor­der­grund tre­ten kri­ti­sche Ana­ly­sen und per­sön­li­che Geschich­ten. Ergeb­nis ist eine Viel­falt der Stim­men für »das Eigen­recht geleb­ten Lebens« (Hil­al Sezgin).

Die Argu­men­ta­ti­on ist libe­ral, denn sie besteht dar­in, zu behaup­ten, daß es nur Indi­vi­du­en, nur “Men­schen” in einer “Gesell­schaft” gäbe und alle Pau­scha­li­sie­run­gen und Iden­ti­fi­ka­tio­nen belie­big mach­bar und daher auch dekon­stru­ier­bar sei­en. “Deut­sche”, “Tür­ken”, “Mus­li­me”, “Frem­de”… das gibt es doch eigent­lich nicht, das wird nur “gemacht”.

Die­se Stra­te­gie der Brau­se­ta­blet­te funk­tio­niert frei­lich nur auf dem Papier; sie ist letzt­lich nichts ande­res als Bestand­teil eines mit “Dou­ble-binds” gespick­ten Psy­cho­kriegs, mit dem dem Gegen­über der Boden unter den Füßen weg­ge­zo­gen wer­den soll, wäh­rend er durch die Hin­ter­tür unter den eige­nen Füßen zemen­tiert wird.

Durch die­se kom­men dann auch die Grup­pen­in­ter­es­sen plötz­lich wie­der ins Spiel. Das muß nicht ein­mal eine bewuß­te Stra­te­gie, eine Form von Taq­qi­ya sein, um zu funk­tio­nie­ren.  Es ist “poli­ti­sche Mimi­kry”, nicht, weil sie ihre poli­ti­schen Zie­le ver­heh­le, son­dern, weil sie sie in eine den Umstän­den ange­paß­te Spra­che zu ver­pa­cken versteht.

Nicht alle sind so offen und so aggres­siv wie Fer­idun Zai­mo­g­lu, der den Rei­gen mit einem Bei­trag eröff­net, der den Titel “Es tobt in Deutsch­land ein Kul­tur­kampf” trägt. (Wie er sich selbst die­sen vor­stellt, kann man sich auf der Netz­sei­te der von ihm mit­be­grün­de­ten Initia­ti­ve “Kanak Attak” anse­hen.) Wo er recht hat, hat er recht. In die­sem “Kampf” ist aus sei­ner Sicht aber selbst­ver­ständ­lich nur eine Sei­te gerecht­fer­tigt und legi­ti­miert durch den “Huma­nis­mus”. Der Feind, das sind hier die “Kon­ser­va­ti­ven”, die “Schwar­zen”, die “rechts­kon­ser­va­ti­ven Kra­kee­ler”, das “rech­te Volk”,  die “Volks­na­hen”, über­haupt alle, die viel vom “Volk” reden.

Was sie vor­brin­gen, wird dadurch erle­digt, daß es gleich­sam in Anfüh­rungs­stri­che gesetzt und für irre­al erklärt wird. Die Kon­ser­va­ti­ven hät­ten “die Lüge vom Rück­zug der Tür­ken aus der deut­schen Gesell­schaft” ver­brei­tet und “mach­ten Stim­mung gegen Par­al­lell­wel­ten, die es nicht gibt”. Dank ihrer Pro­pa­gan­da glau­ben die Deut­schen all­mäh­lich die “Mär­chen” von der “schlei­chen­den Land­nah­me”, daß “das Boot voll sei”, daß “der Aus­län­der gefähr­lich fremd sei”, und so weiter.

Die Tira­de gip­felt in der Anklage:

Unan­stän­dig ist es, die alten Ein­wan­de­rer in den Hin­ter­hof­ge­bets­räu­men als Anhän­ger eines frem­den Glau­bens zu belei­di­gen, ohne je einen Moschee­raum von innen gese­hen zu haben. Unan­stän­dig ist es, nur Hau­fen und Hor­den zu sehen, wo es doch Men­schen sind, die die­ses Land als ihr eige­nes Land betrachten.

Dem ent­ge­gen­zu­tre­ten, nennt Zai­mo­g­lu “Huma­nis­mus” und “Links­sein”. Das ist wohl­ge­merkt der Appell an das “Links­sein” von einem, der sich selbst als Anhän­ger der “Gegen­auf­klä­rung” sieht, und Bekennt­nis­se von sich gibt wie:

Eren Güver­cin: Herr Zai­mo­g­lu, noch eine per­sön­li­che Fra­ge zum Schluss: Woher neh­men Sie eigent­lich die Kraft für solch eine gro­ße Lese­tour, wo Sie fast jeden Tag in einer ande­ren Stadt auf­tre­ten, und neben­bei noch zahl­rei­che Ter­mi­ne mit Ver­lag und Pres­se haben?

Fer­idun Zai­mo­g­lu: Die ein­zi­ge All­macht, die Kraft spen­det und ent­zieht, ist Allah, der Erha­be­ne. Wenn Er will, wer­de ich wei­ter­ma­chen. Gelobt sei sei­ne Einheit.

Die gan­ze Rede ist ein Mus­ter­bei­spiel dafür, wie einer gleich­zei­tig behaup­ten kann, daß es einen Kul­tur­kampf gibt und daß es ihn nicht gibt.  Und  dafür, wie der Begriff des “Huma­nis­mus” als Gleit­mit­tel benutzt wird, um ein sehr par­ti­ku­lä­res Inter­es­se durch­flut­schen zu lassen.

Im Kern diessel­be Num­mer, nur in aka­de­mi­scher klin­gen­dem Lila, bringt die als Sar­ra­zin-Kri­ti­ke­rin berüch­tigt gewor­de­ne (und bla­mier­te) Nai­ka Forou­tan, die an der Hum­boldt-Uni­ver­si­tät Ber­lin ein Kul­tur­kampf­pro­jekt mit dem pro­gram­ma­ti­schen Titel „Hybri­de euro­pä­isch-mus­li­mi­sche Iden­ti­täts­mo­del­le (HEYMAT)“ lei­tet. Ihr Bei­trag “Gemein­sa­me Iden­ti­tät im plu­ra­len Deutsch­land” ist ein unfaß­ba­rer Begriffs­kud­del­mud­del, den voll­zu­stän­dig auf­zu­lö­sen mir an die­ser Stel­le die Geduld und der Platz fehlt.

Nur soviel: Das “eigent­li­che Tabu” des Lan­des sei “ein tief sit­zen­der Ras­sis­mus, der sich schlei­chend und ste­tig vom Rand der Gesell­schaft in die Mit­te hin­be­wegt, um dort für eine veri­ta­ble Kri­se zu sor­gen.” Die­ser äuße­re sich etwa dar­in, daß “das Frem­de” (Sper­rung von Forou­tan) als “Bedro­hung” wahr­ge­nom­men wäre, daß man vom “Frem­den” eine kul­tu­rel­le Anpas­sungs­leis­tung erwar­te (!), ja daß über­haupt die Rede von “den Mus­li­men” als kol­lek­ti­ve Men­schen­grup­pe auf­kom­me.  “Auf der emo­tio­na­len Ebe­ne wer­den sie als Inte­gra­ti­ons­ver­wei­ge­rer und Abweich­ler von der Volks­norm insze­niert” (Sper­rung von mir).

Es wären die “Res­sen­ti­ments” in der “Bevöl­ke­rung”, die “aus Men­schen Mus­li­me machen, aus Nach­barn Ver­däch­ti­ge. Aus einer plu­ra­len deut­schen Gesell­schaft eine ent­frem­de­te Nati­on aus ech­ten Deut­schen und Aus­län­dern.” Woher kom­men nun aber die­se omi­nö­sen “Res­sen­ti­ments” (von “Ängs­ten” zu spre­chen, hält sie für eine Flucht vor “dem wah­ren Kern der Debat­te”), die man indes­sen “ernst neh­men müs­se”? Forou­tan ist wenigs­tens nicht so dumm, die Ursa­che allein bei einer see­lisch anrü­chi­gen Ver­fas­sung der deut­schen “Ras­sis­ten” zu suchen.

Das klingt dann so:

Es sind Res­sen­ti­ments, Vor­ur­tei­le, Unbe­ha­gen gegen­über Män­nern und Frau­en, die zum Groß­teil jün­ger sind, manch­mal lau­ter, anders aus­se­hen, manch­mal anders spre­chen, ihre Rech­te ken­nen, sie ein­for­dern, ihr Recht auf Anders­sein offen leben, statt sich assi­mi­liert zu las­sen (sic), nicht mehr unauf­fäl­lig über­se­hen wer­den wol­len, nicht am Ran­de agie­ren, in die Mit­te der Gesell­schaft drän­gen und die Mit­te dadurch umformen.

Selbst­be­wußt und sub­ver­siv agie­rend, mit Text­zei­len wie “Denn dies ist unser Deutsch­land/ euer Deutsch­land fuck it/dies hier ist das neue Deutsch­land” dem Land den Spie­gel vor­hal­tend, ihm tag­täg­lich bewußt machend, daß es sich wandelt…

Das ist nun inhalt­lich nichts wei­ter, als das, was Zai­mo­g­lu als per­fi­de und unhu­ma­nis­ti­sche Rede der “Kon­ser­va­ti­ven” dif­fa­miert hat, ledig­lich in eine wat­ti­ge­re, ent­schär­fen­de und ins Posi­ti­ve gewen­de­te Spra­che ver­packt (im NLP nennt man soet­was “Re-Framing”).

Die “Män­ner und Frau­en”, um die es hier geht, sind demo­gra­phisch im Vor­teil (“zum Groß­teil jün­ger”), haben ein aggres­si­ve­res Sozi­al­ver­hal­ten (“manch­mal lau­ter”), enstam­men einem ande­ren eth­ni­schen Gen­pool (“anders aus­se­hen”), spre­chen eine frem­de Spra­che (“manch­mal anders spre­chen”), ver­wei­gern sich der Assi­mi­lia­ti­on und kul­tu­rel­len Anpas­sung und for­dern das Recht auf die­se Ver­wei­ge­rung offen­siv ein, indem sie die libe­ra­len Spiel­re­geln gegen die Gesell­schaft sel­ber wen­den (“ihre Rech­te ken­nen, sie ein­for­dern, ihr Recht auf Anders­sein offen leben”),  und set­zen aktiv raum­er­grei­fend ihre eige­nen Inter­es­sen durch (“in die Mit­te der Gesell­schaft drän­gen und die Mit­te dadurch umformen.”)

“Euer Deutsch­land, fuck it” – “Scheiß auf euer Deutsch­land” zitiert Forou­tan den Rap­per Samy Delu­xe und fin­det das ganz schnei­dig “selbst­be­wußt” und “sub­ver­siv”, weil es einer Gesell­schaft “einen Spie­gel” vor­hal­te, die ver­bis­sen an ihrem alten Deutsch­land fest­hält, statt es den unwi­der­steh­li­chen jun­gen Migran­ten in die Hän­de zu geben. Dabei zitiert sie ihn falsch, denn er singt ein­deu­tig “Denn dies ist unser Deutsch­land, euer Deutschland/ Fuck it, dies hier ist das neue Deutsch­land”. Aber wer weiß, viel­leicht war das ja ein “Freud’scher Ver­hö­rer”, wenn es soet­was gibt. Ich könn­te es mir gut denken.

Forou­tan stellt ihrer eige­nen Argu­men­ta­ti­on ein Bein, auch wenn sie sich noch so bemüht, sprach­kos­me­tisch dar­um her­um­zu­tän­zeln. Was sie beschreibt, setzt ja zwin­gend vor­aus, daß es eine Bevöl­ke­rungs­grup­pe gibt, die ganz von selbst ein “Wir”-Gefühl und ein Fremd­heits- oder Anderss­ein­ge­fühl hat, ohne daß die Pro­jek­tio­nen irgend­wel­cher “Ras­sis­ten” dies erst erzeu­gen wür­den. Über die Tat­sa­che die­ser rea­len Spal­tung muß stän­dig hin­weg­ge­täuscht wer­den, indem je nach Bedarf ein­mal die Exis­tenz der einen, ein­mal die Exis­tenz der ande­ren rhe­to­risch von der Bild­flä­che getrickst wird. Das ist die Kunst der Sozialwissenschaftler!

Man merkt an sol­chen Tex­ten, daß es nicht sei­ne Lage­be­trach­tun­gen und Zukunfts­sze­na­ri­en sind, die Thi­lo Sar­ra­zin nicht ver­zie­hen wer­den, son­dern daß er es wagt, die­se als nega­ti­ve Ent­wick­lung zu betrach­ten, und daß er so unver­fro­ren ist, auf einem tra­di­tio­nel­len Vor­recht der Stamm­be­völ­ke­rung gegen­über den Zuge­wan­der­ten zu behar­ren. Sei­ne Geg­ner, wie sie sich in dem “Mani­fest” äußern,  wol­len Deutsch­land als Deutsch­land “abge­schafft” sehen, und sie machen kei­nen Hehl daraus.

Wenn Forou­tan nun schreibt:

Es ist die Angst vor einem sich ver­än­dern­den Deutsch­land, die wir ernst neh­men müs­sen, nicht die sug­ge­rier­te Angst vor den Mus­li­men.

- dann geht es hier in ers­ter Linie und aus­buch­sta­biert um die Fra­ge, wie man den bocki­gen rest-resis­ten­ten Deut­schen die Angst vor der Ent­eig­nung und Ent­frem­dung ihres eige­nen Lan­des neh­men, ja letz­te­re akzep­ta­bel machen kann.  Dazu gehört selbst­ver­ständ­lich auch die Dele­gi­ti­mie­rung nach hin­ten, die Ver­fäl­schung der Geschichte:

Selbst der Wunsch nach einem homo­ge­nen Deutsch­land ist nach­voll­zieh­bar, obwohl Deutsch­land nur in einem kur­zen Moment sei­ner Geschich­te homo­gen war: in der Zeit nach den Säu­be­run­gen des des Drit­ten Reichs bis zum Beginn der Ein­wan­de­rung in den Sechzigerjahren…

Was natür­lich his­to­risch ein unglaub­li­cher Quatsch ist, und ein unzu­läs­si­ges, dem­ago­gi­sches Ope­rie­ren mit dem Begriff der “Homo­ge­ni­tät”.  Aber die Stoß­rich­tung des Anrü­chig­ma­chens ist klar: es sind nicht die sich zuneh­mend der Inte­gra­ti­on ver­wei­gern­den Ein­wan­de­rer, die schuld sind, es ist nicht das lang­sa­me, aber siche­re Kip­pen des Mehr­heits­ver­hält­nis­ses, das zur Fol­ge hat, daß das (angeb­lich so) “plu­ra­le Deutsch­land aus dem Ruder” läuft, son­dern die “Fan­ta­sien von einer homo­ge­nen Gesell­schaft ohne Migran­ten”. Es gibt ein­fach immer noch zuvie­le Deut­sche, die sich ver­bre­che­ri­scher­wei­se nicht damit abfin­den wol­len, in Zukunft nur eine Min­der­heit unter vie­len (?) ande­ren zu sein.

Als Heil­mit­tel gegen die “Res­sen­ti­ments” plä­diert Forou­tan dafür, “gemein­sam eine Ant­wort dar­auf zu fin­den”, “was denn eigent­lich deutsch ist”, also qua­si den Nicht-Deut­schen in die­ser Fra­ge ein demo­kra­ti­sches Mit­spra­che­recht ein­zu­räu­men. Wei­ters müs­se man das deut­sche Selbst­ver­ständ­nis nach dem US-ame­ri­ka­ni­schen Modell umge­stal­ten, aller­dings mit Anpas­sun­gen an die stär­ker kol­lek­tiv-sozi­al aus­ge­rich­te­te deut­sche Seele:

Hier könn­te der Traum eher in einem plu­ra­len, mul­ti­plen Gemein­schafts­stre­ben nach kol­lek­ti­vem Glück die Aus­for­mu­lie­rung einer neu­en deut­schen Iden­ti­tät antreiben.

Wor­un­ter sich frei­lich kein Mensch etwas Kon­kre­tes vor­stel­len kann.

Das “Mani­fest der Vie­len” demons­triert unterm Strich “beredt” (Chris­toph Peters) vor allem eines: die völ­li­ge Gleich­gül­tig­keit der Intel­lek­tu­el­len unter den Zuge­wan­der­ten gegen­über den Rech­ten, Gefüh­len, Ängs­ten und Pro­ble­men jener Auto­chtho­nen, die irgend­wie noch in der alt­mo­di­schen Idee befan­gen sind, als Volk ein Vor­recht in ihrem eige­nen Land zu haben.

Es wird wie selbst­ver­ständ­lich ange­nom­men, daß die­ses Vor­recht gar nicht exis­tiert, ja es wird sogar mit gelehr­ten Trak­ta­ten die Iden­ti­tät der Deut­schen selbst geleug­net, dekon­stru­iert und rela­ti­viert. Sie wer­den qua­si in eine vir­tu­el­le Gum­mi­zel­le gesteckt, in der ihre Wahr­neh­mun­gen zu Hirn­ge­spins­ten und ihre Regun­gen von Selbst­be­haup­tung und Iden­ti­täts­ge­fühl zu ethisch ver­werf­li­chen, patho­lo­gi­schen Impul­sen erklärt wer­den. “Gemein­sa­me Gestal­tung” bedeu­tet letzt­lich, daß die Migran­ten immer mehr Mit­spra­che- und Teil­nah­me­rech­te erhal­ten sol­len, und dafür immer weni­ger Anpas­sungs­leis­tun­gen erbrin­gen müssen.

Damit ist man nicht indi­vi­du­ell inte­griert, son­dern als Grup­pe den Ein­hei­mi­schen gleich­ge­stellt. Man wird also als Grup­pe nicht Teil einer ein­hei­mi­schen Mehr­heit, son­dern erwirbt einen ter­ri­to­ria­len Besitz­an­spruch. Geht man auf ein sol­ches Pro­jekt ein, soll­te man wis­sen, dass an sei­nem Ende die Auf­lö­sung der deut­schen Nati­on steht, der Ver­lust der Hei­mat für den Ein­zel­nen, das Auf­ge­ben unse­res Ter­ri­to­ri­ums. Wir ris­kie­ren, was den Ser­ben pas­siert ist, indem sie den Koso­vo ver­lo­ren haben.

- Richard Wag­ner apro­pos Nai­ka Foroutan)

Mit die­ser Argu­men­ta­ti­on gehen die migran­ti­schen Intel­lek­tu­el­len frei­lich kon­form mit jener Deutsch­land­ab­schaf­fungs­ideo­lo­gie, die die deut­schen intel­lek­tu­el­len und poli­ti­schen Eli­ten jahr­zehn­te­lang selbst kul­ti­viert haben. Sie sind im Grun­de von die­sen her­an­ge­züch­tet wor­den. Das ist die eigent­li­che “deut­sche Leit­kul­tur”, die sie treff­lich assi­mi­liert haben. Als deren ver­wöhn­te und ver­zo­ge­ne Kin­der bedie­nen sie sich unge­niert und unre­flek­tiert die­ses Instru­men­ta­ri­ums, um damit ihre eige­nen Inter­es­sen “in die Mit­te der Gesell­schaft zu drän­gen und die­se dadurch umzuformen”.

Lang genug haben sich die Deut­schen vor sich selbst und der Welt zu rück­grat­lo­sen “Opfern” (ein Schimpf­wort in Neu­kölln), Selbst­ent­äu­ße­rern und Büßern gemacht, nun bekom­men sie die Quit­tung prä­sen­tiert. Was kriecht, wird auch irgend­wann getre­ten wer­den, und das zu Recht. 

Was hät­te man Sez­gin, Zai­mo­g­lu oder Forou­tan zu ant­wor­ten? Man muß ihnen den umge­kehr­ten Schuh anzie­hen, jenen “Spie­gel vor­hal­ten”, zu dem die Deut­schen so wenig Mut haben. Begreif­lich machen, daß die Deut­schen genau­so wie sie ihren Sta­tus und Besitz­stand wah­ren wol­len, der ihnen ohne Gegen­leis­tung dreist abver­langt wird. Daß sie eben­so ein “Eigen­recht geleb­ten Lebens” und ein Recht auf eine Zukunft nach ihren Vor­stel­lun­gen haben. Daß ihre Angst ernst­ge­nom­men wer­den muß, und ihre rea­len, hand­fes­ten Grün­de aner­kannt. Denn in Wirk­lich­keit sind sie es, die zu Frem­den “gemacht” wer­den. (“Fremd ist der Frem­de nur in der Frem­de”, kalau­er­te Karl Valen­tin, und tau­send lin­ke Idio­ten haben die­sen Satz miß­ver­stan­den, genau­so wie jenen, daß jeder Mensch Aus­län­der sei - “fast überall”.)

Fer­ner, daß es “unan­stän­dig ist”, die alten, dum­men, demo­kra­tie­gläu­bi­gen Deut­schen, die an ihrer gesetz­lich ver­bürg­ten Volks­sou­ve­rä­ni­tät und ihrem Vater­land hän­gen, und selbst ent­schei­den wol­len, wie es sich ver­än­dern soll, als “Ras­sis­ten” und Kryp­ton­a­zis zu belei­di­gen. Daß es “unan­stän­dig” ist, “nur Hau­fen und Hor­den zu sehen, wo es doch Men­schen sind, die die­ses Land als ihr eige­nes Land betrachten”.

Ihren Schock dar­über zu ver­ste­hen, mit einem Schlag mit­ten im “alter­na­tiv­lo­sen” Pro­zeß ihrer eige­nen Ent­eig­nung und Abschaf­fung als Volk auf­zu­wa­chen, betro­gen und hin­ter­gan­gen von ihren eige­nen Eli­ten, die ihnen seit Jahr­zehn­ten mit Ver­spre­chen von Demo­kra­tie und Wohl­stand Wäh­ler­stim­men abschmei­cheln. Nun hören sie mit ungläu­bi­gen Ohren einen Wulff im Schafs­pelz,  der lächelnd und mit einem unmiß­ver­ständ­li­chen Zun­gen­schlag erklärt, der Islam “gehö­re” zu Deutsch­land, wenn für eine “Tat­sa­chen­fest­stel­lung” (Peters) gereicht hät­te, zu kon­sta­tie­ren, daß er sich in Deutsch­land aus­ge­brei­tet hat. Und sie sind wütend, denn so haben sie nicht gewet­tet, als sie sich von ihren Eli­ten die Mas­sen­ein­wan­de­rung aus imkom­pa­ti­blen Län­dern ein­re­den haben las­sen und sie gedul­dig pas­siv hinnahmen.

Wer wagt nun à la Samy Delu­xe “selbst­be­wußt” und “sub­ver­siv” aus­zu­spre­chen: “Das ist unser Land. Scheiß auf dein Mul­ti­kul­ti-Schland und dei­nen Islam. Wir wol­len nicht, daß es sich so ‘ver­än­dert’, haha, yeah, wie ihr es wollt. Und wir haben dar­auf ein ver­brief­tes Recht, auch wenn ihr uns das strei­tig machen wollt, wir, die wir euch und eure Väter und Müt­ter mit einer bei­spiel­lo­sen Groß­zü­gig­keit auf­ge­nom­men haben und immer noch aufnehmen.”

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

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