Den Statistiken des allwissenden Internets zufolge hat Ferguson zehntausend Einwohner weniger als meine Heimatstadt, und die ist schon mehr als beschaulich. Kein menschenverschlingender Moloch also, der die Menschen vertiert und auf ihre niedersten Instinkte zurückwirft. Eher schon eine der ruhigen, leicht schnarchigen suburbs (obwohl ja gerade die für antibürgerliche Protagonisten die Hölle auf Erden zu sein scheinen), in denen man sich beim gelegentlichen Plausch über den Gartenzaun nicht über die weltpolitische Lage, sondern lieber über die neueren Beziehungskisten und Todesfälle austauscht.
Nun hat allerdings ein solcher Todesfall in den letzten knapp zwei Wochen überaus hohe Wellen geschlagen. Michael Brown ist tot; der derzeitigen Informationslage zufolge erschossen nach mutmaßlichem Verüben eines strong-arm robbery, also Raubes (in diesem Fall einiger Schachteln Zigaretten – der offizielle Polizeibericht findet sich hier). Seither ist das Städtchen nicht zur Ruhe gekommen: Randale und Krawall haben zwischenzeitlich derartige Ausmaße angenommen, daß man selbst bei Spiegel Online die Schere im Kopf vergessen und das böse R‑Unwort aus dem Giftschrank geholt hat, und spätestens nach der vorübergehenden Inhaftierung deutscher Journalisten hätte man eigentlich etwas kantigere Berichterstattung erwartet als ein pikiertes Nachtarocken gegenüber der verantwortlichen Polizei, weil mal wieder am Unantastbarkeitsgefühl der journalistischen Selbstapotheose gekratzt wurde.
Auffällig ist insbesondere der enorm hohe Virtualisierungsgrad der “Unruhe”. Nachdem es schon binnen Tagesfrist nach Bekanntwerden des Todesfalls zu ersten Plünderungen und Ausschreitungen gekommen war, tauchte blitzartig die – unter PR-Gesichtspunkten geniale – »Don’t Shoot!«-Geste auf und verbreitete sich viral über sämtliche sozialen Netzwerke: Die entsprechenden Multiplikationskanäle wurden ja bereits mit dem übrigens letztlich vollkommen folgenlosen und beinahe schon wieder vergessenen, polit-narzisstischen »Bring Back Our Girls«-Testballon der First Lady et al. ausgetestet; natürlich ist man im hiesigen Land der folgsamen Schüler auch sofort darauf angesprungen. Die etablierten Medien, wie immer frustriert darüber, der sich in Echtzeit entwickelnden Berichterstattung via Facebook, Twitter und Co. nur hinterherlaufen zu können, ergehen sich seitdem darin, jedes noch so kleine Informationskörnchen umfassend auszuwalzen. Hinzu kommt noch die eine Befähigung, in der der einfache Bürger mit Smartphone ihnen nicht den Schneid abkaufen kann, nämlich mithilfe des Presseausweises an exklusive Fotos heranzukommen. Solch eine mediale Goldgräbertour dürfte auch die Festnahme des Kollegen Ansgar Graw herbeigeführt haben, denke ich persönlich. Es entbehrt auch nicht einer gewissen dialektischen Komik, daß die quasi-Gegenseite der allfälligen Entrüstung – die Unterstützer des inkriminierten Polizisten – ihre eigene Kampagne ebenfalls online durchdrückt und dabei signifikanten Erfolg hat. So kann man der Spendensammlung für Anwaltskosten realiter beim Anwachsen zusehen, und medial ist man hierüber wiederum vollkommen aus dem Häuschen, sollte die erfolgreiche Instrumentalisierung des Internets doch eigentlich dem underground und jenen vorbehalten sein, die freedom und diversity zum Patent angemeldet haben…
Nun beinhaltet der Fall Ferguson aber insbesondere ein Schlüsselelement der weiteren Verwertbarkeit, und das ist die Geschlossenheit des betroffenen gesellschaftlichen Systems. Wie oben angemerkt, ist die Stadt klein und tendentiell sehr ruhig. Das macht sie zum idealen Ausgangspunkt für ein mediales Induktionsverfahren zum Abheben auf die “wirklichen”, scheinbar zugrundeliegenden Probleme – und das soll in diesem Fall selbstverständlich die rassistische Grundtönung der US-amerikanischen Gesellschaft, präziser noch: der vielgerühmte “strukturelle Rassismus”, sein. In Los Angeles etwa, wo derartige Tote Gewohnheitssache sind, würde eine ebensolche Skandalifizierung ganz schnell versanden und vom alltäglichen Gang der Dinge überspült. Und hier, wo wir wiederum ein anderes gesellschaftliches System haben und schon bei dem Verdacht auf herkunftsabhängige Verkehrskontrollen die Rächer der Diskriminierten auf ihren Zehenspitzen stehen, versuchen die bundesrepublikanischen Meinungspromotoren ihre transatlantischen Kollegen in Sachen Wellenschlag regelrecht zu übertrumpfen; verräterisch ist dabei insbesondere SpOns hochemotionale Reportage über die situativen Gefühle der Schwarzen in Washington, also ganz weitab vom Schuß (no pun intended) – nur, um alsbald auf den Fall Trayvon Martin abzuheben, den Martin Lichtmesz seinerzeit hier bereits formschön erledigt hatte. Und verblüffenderweise ähneln sich die beiden voneinander völlig unabhängigen Vorfälle ganz markant – allerdings nicht im jeweiligen Sachverhalt, sondern im systematischen Getrommel der Berufsbesorgten. Ich zitiere Lichtmesz’ zugespitzte Zusammenfassung; diese bedarf tatsächlich nur zweier winziger Korrekturen, um topaktuell zu sein:
Diese tragische, aber keineswegs außergewöhnliche Geschichte wurde zur Staatsaffäre hochgespielt, und zwar durch die sich flächendeckend verbreitende Ente, es habe sich hier um einen dramatischen Fall von „Rassismus“ gehandelt, nach dem Strickmuster: waffennärrischer weißer Bürgerwehrler [streiche “Bürgerwehrler”, setze “Polizist”; N.W.] erschießt grundlos, aus purem Rassenhaß, einen harmlosen kleinen schwarzen Jungen [setze “auf dem Weg zu seiner Großmutter”; N.W.]. Im ganzen Land schrillten die Alarmsirenen, bis hinauf zu Präsident Obama, […]
Der hat sich im Hinblick auf Ferguson nun bislang sehr zurückgehalten und zaudert offenbar, in das multimediale Wolfsgeheul einzustimmen. Warum? Weil der Ursprung seiner Präsidentschaft im »Yes We Can« liegt, und dieses “Können” hat sich bislang eher im Zugrunderichten des US-Gesundheitssystems niedergeschlagen als im Zurückdrängen des überall ge(t)witterten Rassismus. Grund genug, sich nicht vorschnell in eine Angelegenheit einzumischen, die ohne mediales Hochpeitschen und die konzertierten Web 2.0‑Aktionen wohl ein kommunaler Skandal geblieben wäre – wenn überhaupt. Da die Beglaubigung von ganz oben ausbleibt, müssen die Meinungsmacher ihre Insinuationen also selbst ausformulieren. Das kann mit dem Holzhammer geschehen, wie die stumpfsinnige Weiterleitung zu »White Supremacy« im entsprechenden wikipedia-Artikel nach dem Motto “Nur, damit Ihr wißt, was Euch eigentlich beschäftigen sollte…”, oder aber Stück für Stück, wie insbesondere – oh Wunder! – bei Spiegel und Zeit.
Um den idealen Leser in seiner latenten Besorgtheit in gewünschter Weise zu triggern, bedarf es aber auch noch eines weiteren Elements, das die case-study Ferguson geradezu beispielhaft vorexerziert und welches ich hier als “Gewaltgefälle” bezeichnen möchte. Ein wie auch immer interessierter Agitator lockt die “Menschen da draußen” immer noch am ehesten hinter dem Ofen hervor, wenn er ihnen ein 1) möglichst diffuses und 2) möglichst übermächtiges Feindbild vor die Füße wirft. Was Verschwörungstheorien konstituiert, ist im kleinen auch das Grundgerüst jedweder “investigativen Berichterstattung”, im konkreten Fall bezogen auf “die (weiße) Polizei” und/oder “den (weißen) Staat”. Nicht umsonst springen dem Passanten aus jedem Zeitungskiosk seit Beginn der Fergusoniade Bilder von schwerbewaffneten Polizisten in Kampfanzügen entgegen, denen Kollegen von gepanzerten Fahrzeugen aus Deckung geben; spätestens seit Verhängung des Ausnahmezustands und Entsendung der Nationalgarde durch den Gouverneur Missouris (der übrigens der Democratic Party angehört, nur damit hier keine Unklarheiten aufkommen) ergänzt um tatsächliche Soldaten in den charakteristischen Pixeltarnuniformen. Durch ihr martialisches Auftreten sollen die Ordnungskräfte von Anfang an die Lage eskaliert haben; das wird erwartungsgemäß insbesondere hierzulande gebetsmühlenartig wiederholt, wo man Polizisten als ungeliebten Kindern der Innenministerien Namensschilder anpappt und sie bei jeder drittklassigen “Demonstration” aus Gründen der “Deeskalation” per Ukas oder “zivilen Widerstand” daran hindert, ihren konstitutiven Auftrag – nämlich die Verhinderung, Unterbindung und Verfolgung von Straftaten – zu erledigen.
Dahinter steht, unschwer zu erkennen, das Schreckgespenst des Ernstfalls, Ausnahmezustands, der Einbruch des Unkontrollierbaren in einen Staat und eine Gesellschaft, deren Hauptaugenmerk auf der Vermeidung eben jener fundamentalen Konfrontation liegt. Einer Vermeidung um jeden Preis, sei es eine völlig utopische finanzielle und materielle Sedierung potentieller Unruhestifter oder die demonstrative Selbstaufgabe zentraler Elemente des staatlichen Machtmonopols. Es liegt tatsächlich nicht ganz fern, von hier den Bogen zur – wie prognostiziert fortgeschrittenen – Seuchenlage zu spannen, auch wenn dies natürlich nicht so bitterböse wie bei Alternative Right geschehen muß. Just hat Liberia an der geschlossenen Grenze zu Sierra Leone einen Schießbefehl ausgegeben, und auch im Inneren des Landes wird die Einhaltung von Quarantänezonen nun mit Waffengewalt durchgesetzt. Es bleibt abzuwarten, ob die getroffenen Maßnahmen zu einer Eindämmung führen; angesichts der gravierenden Auflösungserscheinungen, die eine in derzeit sichtbarer Form rasant verlaufende Pandemie mit sich bringt, ist ansonsten ein völliger Zusammenbruch der nationalen Infrastruktur (und zwar nicht nur in Liberia) nicht auszuschließen. Derartiges ist in Europa für wohl die allermeisten Zeitgenossen schlicht unvorstellbar, und so zeugen die Medienberichte denn auch von nichts weiter als Fassungslosigkeit; selbst die spitzfindigsten Kommentatoren bleiben dem Desaster gegenüber weitgehend wortlos – ein Phänomen, das sich übrigens auch in Bezug auf die Situation im Irak langsam auszubreiten beginnt.
Die hierzulande tonangebenden Journalisten sind, ebenso wie die Politiker und auch wir als Bürger, alle miteinander Nutznießer und gepamperte Kinder der kollektiven Konfliktvermeidungsstrategie. Was hierzulande geschehen würde, wenn eine großangelegte “Rassenkrise” (Zitat von Spiegel Online, nichts weiter…) oder die Ausbreitung einer hochansteckenden Krankheit dem verhältnismäßig stabilen Alltagsleben von gleich auf jetzt die Stützen wegschlüge: Wer weiß es? Wer vermag sich das vorzustellen? Medial jedenfalls wurde und wird Planspielen sowie konkreten Lageanalysen durch unzulässige, moralisierende Verallgemeinerungen systematisch und besten Gewissens die Grundlage entzogen. Welche Perversion dem letztendlich zugrundeliegt, hat Nicholas James Pell im Takimag schön ausformuliert (allein für die Wendung “The Media Empire That Shall Not Be Named” hat der Mann einen Preis verdient). Es sind junge und ältere Menschen, Männlein wie Weiblein, die in jedem größeren tragischen Ereignis auf unserem Erdenrund eine Stufe hin zur Weltverbesserung sehen – und wenn der Anlaß nicht groß genug ist, wird er eben großgemacht. Was in den von Pell betrachteten Politikwissenschaften (an deutschen Universitäten: “Demokratiewissenschaften”) völlig unverblümt social engineering heißt und absichtsvoll mit dem Bild der Funktionselite als Handwerkerinnung spielt, betreiben die Medien mal autonom, mal in Reihenschaltung mit Politik und Interessengruppen als medial engineering. Da ist die Welt schon ein Dorf, und wenn auf die Nachbarn ein Schlaglicht geworfen wird, dann hat man darin gefälligst seine eigene Schlechtigkeit zu erkennen und sich um Besserung zu bemühen – um des großen Ganzen willen.
Ein Fremder aus Elea
Was Ferguson angeht, dürfte Alex Jones Recht haben: Gewöhnung der Gesellschaft an neue Methoden, schleichender Eintritt in den Ausnahmezustand, bezahlte Provokateure für's Divide et impera.
Außerdem werden auf diese Weise andere Ereignisse, etwa im Nahen Osten und der Ukraine, ausgeblendet. Gerade die heutige Situation im Irak sollte wohl nicht allzu konzentriert reflektiert werden.
Darüber kann man in Deutschland heute noch schmunzeln, aber die Grundlagen für diese Art der Beherrschung der Öffentlichkeit zu legen, ist das kaum verhohlene Programm unserer Eliten.
Andererseits, jeder echte Dissenz, egal zwischen welchen Parteien, führt zu einer Schärfung des Bewußtseins. Wo wirklich Porzellan zerschlagen wird, entsteht Aufmerksamkeit.