zur Fixierung auf Körperlichkeiten und darauf aufbauende Stegreif-Psychoanalyse. Ein frühes Beispiel ist Hermann Kurzkes rezensionistische Aufgeregtheit (FAZ vom 11. April 1992) darüber, daß Hans-Dietrich Sander in einer Ausgabe der Staatsbriefe das George-Zitat (!) brachte, dem russischen Menschen fehle das “Phallische”; selbstverständlich eine besonders bemerkenswerte Stelle in einer Zeitschrift von erheblichem Umfang. Derlei zieht sich bis zum heutigen Tage durch, zuletzt in Antonia Baums frivoler Narbenschau.
Am vergangenen Sonntag hatte sich bereits Jürg Altwegg, dessen Kernkompetenz mir seit jeher schleierhaft ist, im Zuge seiner steten Artikelflut für den Plauderteil der alten Tante aus Frankfurt bereits menschlicher Flatulenzen angenommen. Konkret derer, die Westeuropas prominentestem Steuerflüchtling Gérard Depardieu entfleuchen sollen. Altwegg will so aus seinem Schweizer Wohlfühlghetto heraus in einem Aufwasch Depardieu für dessen Renitenz gegenüber des einst geplanten großen französischen Staatsparasitismus abwatschen – und den Verfasser eines dessen Autobiographie literarisch transzendierenden Essays dafür, daß er ist, wer er ist (mit Altwegg “der Paria der französischen Intellektuellen”): Es handelt sich um Richard Millet.
In diesem Blog war Millet zuletzt vor über einem Jahr mit einem Interview zu Gast; auch die 52. Printausgabe der Sezession läßt sich zum Auffrischen des Gedächtnisses konsultieren. Jürg Altwegg indes scheint die seinerzeitigen Umstände, die zum Verlust von Millets Lektoratsposten beim Gallimard-Verlag führten, angesichts der mangelnden Detailkenntnis in seinem Artikel selbst nur vom Hörensagen zu kennen oder sehr oberflächlich im Internet nachgelesen zu haben; vielleicht erbarmt sich ja Lorenz Jäger seiner und läßt ihm zu Weihnachten die »Verlorenen Posten« Millets zukommen. Heutzutage, wo alle Verlage und Redaktionen das Lektorat wegrationalisieren, müssen sich nun einmal die Autoren wieder selbst darüber informieren (notfalls bei Alain de Benoist), wovon sie eigentlich schreiben. Zumindest wäre das bei einem Renommierblatt wie der Frankfurter Allgemeinen wünschenswert.
Man mag von der Person Depardieus, seinem tobenden Abgang nach Rußland und seinem fortschreitenden äußerlichen Verfall halten, was man will: Von einem weit entfernten Buchbesprecher aus einer Position der Wohlstandsverwahrlosung mit derartiger Herablassung übergossen zu werden, hat der Mann nicht verdient. Was er allerdings verdient hat, ist eine Menge Geld – weswegen Altweggs Pöbelei den massiven Altschauspieler wohl kaum anfechten dürfte, sollte dieser unwahrscheinlicherweise darauf aufmerksam werden. Gewiß erklärt sich ein guter Teil der Bissigkeit des Schweizers auch aus dem maßlosen Staunen darüber, daß einer “sowas” einfach macht und damit auch noch durchkommt. Ich möchte meinen, daß nicht wenige große Verrisse aus den Federn irgendwelcher zeitweiliger high-brows eine erhebliche Neidkomponente enthalten. Selbst wenn er sich seine gemietete Meinung noch soviel Geld kosten läßt, so kann sich ein halbwegs anständiger Autor zwischen all dem rotweinsüffelnden, iPad-tippenden und wichtig dreinschauendem Großkopfgelichter etwa auf der Frankfurter Buchmesse einfach nicht wohlfühlen: dann doch lieber “intellektueller Paria” sein.
Womit wir zurück bei Millet wären. Die aus seinen Essays sprechende Desinvolture und die völlige Erwartungslosigkeit, mit der er seit seiner Stigmatisierung durch die Tugendwächter des französischen Literaturbetriebs auf das intellektuelle Kasperletheater in seinem Heimatland blickt, dürften auch ihn vor seelischen Schäden durch Altweggs Mißfallen bewahren. Ganz im Gegenteil zum Schweizer, der die Franzosen noch immer im “Taumel des historischen Erinnerns und Büßens für Vichy in eine[r] tiefe[n] Depression” sieht (und damit auf dem Stand seiner Monographie zum Thema von 1998 stagniert… oder sollte er, wackerer Trommler gegen Bevölkerungspolitik, hier etwa projiziert haben?), hat sich Richard Millet trotz aller Anfeindungen eine Schärfe in Blick und Stil bewahrt und noch weiter ausgeprägt, die dankenswerterweise den Literaten vom journalistischen Lohnschreiber scheidet.
Wen die üblichen Reizworte kaltlassen, mit denen Altwegg ziemlich routiniert um sich wirft (“unerträgliche[] Leiern über den Untergang des Abendlands” etc. ad nauseam), für den liest sich der bemühte Verriß eher wie eine Kaufempfehlung. Millets Haltung, der ein Hauch heroischer Realismus nicht abzusprechen ist, macht zumindest deutlich neugieriger als alles, was die politisch-kulturelle Essayistik hierzulande seit langer Zeit zu bieten hat – eine deutschsprachige Veröffentlichung des betreffenden Texts bleibt zu erhoffen. Daß Millets jüngstes Buch wieder bei Gallimard verlegt wird (für Altwegg geradezu empörend), bezeugt jedenfalls, daß es sich bei seinen Werken noch nicht um Samisdatliteratur handelt.
Hinsichtlich Gérard Depardieu ist zu wünschen, daß er trotz seines Lebenswandels noch recht lange ein öffentlichkeitswirksames Ärgernis für die EU-Räteherrschaft bleiben wird. Sein Ausbrechen aus der bürokratischen Voliere ist zwar lediglich aufgrund seiner Bekanntheit und seines Vermögens gelungen, doch sollte dessen Symbolkraft nicht unterschätzt werden. Und Altwegg, um den Namen endlich ein letztes Mal zu erwähnen, hat durch sein Pamphlet immerhin eine bemerkenswerte Begleitmusik zur zeitgleich veröffentlichten und unfreiwillig selbstentblößenden Warnung vor Medienkritik geliefert, zu der sich ausgerechnet BILDblog-Herausgeber Stefan Niggemeier bemüßigt sah – präzise ein Jahr zu spät, wie ein Blick ins Novemberheft 2013 der Hauszeitschrift des Deutschen Journalisten-Verbands verrät. Das Paria-Dasein ist attraktiv wie nie, darum: mehr Mangel an Versöhnung und Mut zur expressiven Loslösung.